Leben mit Zugvögeln
Als wir 1994 zur OJC nach Reichelsheim kamen, gab es noch die klassische Großfamilie: Im Quellhaus war eine große Jahresmannschaft und zwei Familien samt einigen jungen Mitarbeitern, die zwei oder drei Jahre blieben. Die Gründer Irmela und Horst-Klaus Hofmann lebten und wirkten noch in der Gemeinschaft, wenn auch zurückgezogen aufgrund von Alter und Gesundheit. Der jährliche Abschied und Neuanfang mit der Jahresmannschaft hatte seinen Platz. Als „offensive junge Christen“ wurden sie ausgesandt in die Welt, zum Studium, zur Ausbildung, an den Arbeitsplatz und in die Gemeinde, um dort Licht und Salz zu sein. Der Begriff Mannschaft galt damals noch umfassender: Alle in der Hausgemeinschaft zählten sich dazu, die Jahresmannschaft waren die, die nur ein Jahr blieben. Die Altersspanne umfasste 18 bis 38 Jahre und es wohnten Abiturienten mit Doktoranden und ausgebildeten Theologen in einer Mannschafts-WG. 2008 kam es zur Kommunitätsgründung: die Gemeinschaft, die seit 1968 zusammenlebte und -arbeitete (und mancher seit den ersten Jahren!) wurde „verbindliche Gemeinschaft auf Lebenszeit“. Nun rückten Verbindlichkeit und Verbundenheit in den Fokus und wir entwickelten ein Ritual, wie ein Hineinwachsen und Prüfen gestaltet werden kann: man ist „Assoziierter“ der Gemeinschaft und klärt eigene Lebensfragen, Berufung und Sendung. „In dieser Zeit bist du eingeladen, dich und deine persönlichen Fragen, aber auch die Kommunität, ihre Geschichte, ihren Auftrag, die Gefährten und ihre Spiritualität kennenzulernen …“ (Wie Gefährten leben [87]. Eine Grammatik der Gemeinschaft). Wichtig zu wissen: nicht alle, die diesen Weg gehen, landen automatisch in der OJC-Gemeinschaft! Es gab junge Ehepaare, die kamen, um zu gehen: Sie wollten 2–4 Jahre mit uns leben, um zu lernen, wie sich Gemeinschaft in Verschiedenheit leben und wie sich ein Gleichmaß von Dienst und Leben gestalten lässt. Solche Gäste auf Zeit sind ein Schatz, darin liegt für alle eine Bereicherung – und Herausforderung: Sie kommen mit ganz eigener geistlicher Prägung und Konfession, mit Berufserfahrung, einem kulturgesellschaftlichen Kontext, individuellen Vorlieben … Sie stellen ihre Fragen, bringen sich ein und bereichern damit unsere Gemeinschaft, erweitern das Spektrum. Diese ‚andere Welt‘, die zu uns nach Reichelsheim kommt und Unruhe im positiven Sinn mitbringt, gilt es immer wieder willkommen zu heißen, besuchen uns doch damit zeitgeistige Gemeinde- und Gesellschaftsthemen. Ich erlebe das als bereichernde Herausforderung. Andere kommen und hören dann einen Ruf an einen anderen Ort, wo sie ihr Leben einsetzen möchten. Da geht es nicht um besser oder schlechter. Die Kernfrage an die assoziierten Neuen ist: „Passt die Berufung meines Lebens zur Berufung der OJC?“ Das ist für uns Weggefährten nicht leicht, kommt manche Wendung im Miteinander auch überraschend: Wir freuten uns an der jungen Pfarrersfamilie, die seit drei Jahren bei uns war, an ihren offenen Fragen, ihren guten Impulsen, die sie mit in die Gemeinschaft einbrachten, als U. in einer Stillen Woche der Frage nachgehen wollte, ob er hier in dieser Gemeinschaft dauerhaft am richtigen Ort ist. Ich erinnere mich, wie gewiss ich mir war, wie diese Antwort ausfallen würde. Aber es kam anders. „Wo schlägt dein Herz? Wo entfaltet sich deine Leidenschaft?“ hatte er Gott fragen hören und geantwortet: „Auf der Kanzel. Beim Predigen, Verkündigen. Bei einer Gemeinde.“ Und so trennten sich unsere Wege. Und wir haben ihn und seine Familie mit unserem Segen ziehen lassen, wohin Gottes Sendung sie führte.
Brückengeneration
Rund um die Kommunitätsgründung, als die Gemeinschaft schon 40 Jahre alt war, leuchtete mir eine Kostbarkeit auf: In den 90er Jahren waren außer uns Dangmanns noch zahlreiche andere Mitarbeiter zur Gemeinschaft gestoßen und geblieben. Wir gehörten zwar nicht zur Anfangsgeneration in Bensheim, kannten aber alle noch das Gründerehepaar, Irmela und Horst-Klaus, hatten noch die „alte OJC-Großfamilie“ erlebt: Wie selbstverständlich Bibel-Lehre und Weltgeschichtswissen zusammenflossen, wie Herzensbildung und Umkehr mit politischer Wachheit und Engagement einhergingen, und der Glaube an Christus über Innerlichkeit und persönliche Erbauung hinauswies. Zu diesen Erlebnissen gehörte der Aufbruch nach der innerdeutschen Grenzöffnung und auch chaotische OJC-Projektplanungen mit gesegnetem Wirken. Bei der Kommunitätsgründung wurde mir das dankbar als ein Vorrecht bewusst, dass ich mit Anfang Vierzig Anteil an der alten und an der neuen OJC haben würde, sozusagen „Brückengeneration“ vom Vergangenen ins Zukünftige bin. Unsere Aufgabe als Ehepaar und Familie innerhalb der OJC bildete das über die Jahre hinweg auch ab: Zahlreiche Familien und ledige Mitarbeiter sind in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, unserer Hausgemeinschaft ‚gelandet‘. Manche sind dann in andere OJC-Häuser und Arbeitsbereiche weitergezogen und gestalten dort bis heute den OJC-Auftrag mit. Aber viele sind auch wieder gegangen, um ihre Berufung an einem anderen Ort zu leben. Besonders kostbar ist die fortbestehende Verbundenheit, die wir mittlerweile bewusst gestalten und pflegen. Dieses immer wiederkehrende Neuanfangen muss bejaht werden: mit jungen Familien, die kommen, um OJC kennenzulernen und Gemeinschaft zu erleben, aber auch um ihre Berufungsfragen zu klären. Sie zu empfangen und mich einzulassen, als blieben sie für immer. Sich vertraut machen miteinander, aber auch mit der Spiritualität und der Geschichte der OJC. Sich miteinander verbünden, um offen und durchlässig voreinander zu werden und Zusammenarbeit im besten Sinne zu gestalten. Kraft und Inspiration dafür empfange ich aus meinem Ja zu dieser uns zugedachten Berufung, in allem Wandel stabil und beweglich zugleich unseren Platz des Willkommenheißens und Segnens einzunehmen.
Das Leben teilen
Heimat finden in Christus
und Orte in Zuhause verwandeln.
Gastfrei sein und Leben teilen,
einsam und gemeinsam im Wechsel halten.
Uns nicht allzu fest einrichten,
sondern immer neu ausrichten.
Nicht müde werden,
sondern beweglich bleiben.
Wie Gefährten leben. Eine Grammatik der Gemeinschaft [84]