
Freigestrampelt
Ich liebe das Abenteuer. Das war einer der Gründe, warum ich vor zwölf Jahren in das OJC-Priorenamt einwilligte und nach drei vollendeten Amtszeiten umsattelte: auf das Fahrrad. Der Traum, mit dem Fahrrad in die Wüste zu fahren, manifestierte sich. Ich wollte von der Fülle des Prior-Daseins in die innere Leere kommen.
Von der Verantwortung für ein Werk mit seinen Menschen zu der Fürsorge nur für mich. Von vorausschauenden Jahresbudgets zur täglichen Versorgung im Hier und Jetzt. So ging es Ende September mit meinem modifizierten Mountainbike und den nötigsten Dingen in Reichelsheim los. Mein Ziel: Dakhla in der Westsahara.
Die Reise führte durch den deutschen Pfälzerwald, die französischen Weinebenen, die spanische Hochebene und mit der Fähre von Gibraltar nach Marokko. 45 Tage Zeit, um eine Strecke von 5.000 Kilometern und 29.000 Höhenmetern mit unzähligen Tagen Dauerregen und Gegenwind zu bewältigen. Durchschnittlich 130 km pro Tag, alle sieben Tage einen Ruhetag inklusive.
Grenzerfahrung
Ich erlebte zahlreiche Analogien zur Leitungszeit: Die Zeit als geistlicher Leiter und dieses Abenteuer waren meine bisher anstrengendsten und kostbarsten Zeiten zugleich. Die Abfahrt gibt es nur nach der anstrengenden Auffahrt. Den Rückenwind genießt man umso mehr, wenn einem der Gegenwind mit aller Stärke für längere Zeit entgegenwehte. Für Wärme und Trockenheit wird man dankbar, wenn man mehrere Tage mit nassen und stinkenden Klamotten unterwegs war. Die freie Sicht feiert man, wenn der peitschende Wüstensand sich endlich legt. Die ruhigen Nächte in der Wüste und die lauten an einer Bushaltestelle oder unter einer Eisenbahnbrücke gehörten alle dazu.
Mit dieser Tour verarbeitete ich körperlich und seelisch die letzten zwölf Jahre – auch die Grenzerfahrungen. Alles war dabei: die Höhen, die Tiefen, die unerwarteten Abgründe. Der innere und äußere Gegenwind. Die Anstrengungen, das berauschende Gefühl der Selbstwirksamkeit und auf der anderen Seite die Konfrontation mit Ohnmacht, Resignation und Ausgeliefertsein. Genauso sollte es sein: durch körperliche Anstrengung zu einer inneren Auseinandersetzung finden.
Die Reise anzutreten hatte ich gewählt – die Umstände oft nicht. Hätte ich mir weniger Regen, Gegenwind und herumstreunende Hunde gewünscht? Auf jeden Fall. Aber so wie es war, war es genau richtig. Im Leben bekommen wir nicht, was wir wollen, sondern was wir brauchen.
Der eigenen Grenze begegnen
Wie oft konnte ich in den zwölf Jahren meiner Leitungszeit nur beten: „Oh Herr, hilf mir jetzt. Ich weiß einfach nicht weiter.“ Wie oft musste ich auf der Fahrradtour für das Kleine beten: „Herr, lass doch bitte den Regen aufhören oder gib mir die Kraft, damit umzugehen. Bitte schenke mir einen geeigneten Schlafplatz. Lass mich diesen Berg schaffen.“ Hier erlebte ich einen Gott, der sich sorgt. So wie er sich um ein ganzes Werk kümmert, so kümmerte er sich in diesen sechs Wochen ganz persönlich um mich und mein Wohlbefinden. Das war das vermutlich größte Geschenk für mich.
Grenzen überwinden
Die Reise führte über mehrere Ländergrenzen und es galt, immer wieder mit der kulturellen Andersartigkeit umzugehen. Vor jeder Grenze schaltete ich lieber einen Gang runter: Was erwartet mich dort? Wie nehmen mich die Menschen auf? Wie soll ich mich verhalten? Drei Haltungen halfen mir, nicht nur meine inneren Grenzen zu bewältigen, sondern auch die interkulturellen Grenzen zu überbrücken: Einlassen, Vertrauen und Hilfsbedürftigkeit zeigen.
Einlassen ist meine Entscheidung
Das Fremde ist oft erstmal befremdlich – manchmal sogar bedrohlich. Ob es dabei bleibt, ist eine Sache der Entscheidung. Auf das Andere muss man sich einlassen wollen. Das Fremde bleibt lange im Weg, wenn man seine Standards in Sachen Pünktlichkeit, Hygiene und Regeln als Maßstab vor sich herträgt.
Mir hat es geholfen, auf Tuchfühlung mit den unterschiedlichen Kulturen zu gehen. In der Nacht war das einzige Tuch zwischen mir und dem Land mein Zelttuch. Oft wählte ich bewusst die kleinen abgelegenen Restaurants und Läden. Ich kaufte dort ein, wo ich am wenigsten erwartet wurde, und wurde dafür umso herzlicher empfangen und bedient. Auf Tuchfühlung gehen heißt eben auch, sich der eigenen Schutzlosigkeit bewusst zu sein.
Mir half es, in kritischen Momenten mir selbst zuzusprechen: „Das verunsichert mich jetzt. Das überfordert mich. Das macht etwas mit mir.“ Im Wahrseinlassen und Aussprechen verlor die Ohnmacht ihre Macht und ich konnte mit der Situation besser umgehen – auch wenn sich an den Umständen nichts änderte.
Vertrauen ist eine Übung
Manchmal war ich verzweifelt: Massiver Gegenwind, Zeltaufbau im strömenden Regen, streunende Hunde, kein Schlafplatz. Dann musste ich mir zusprechen: Ich vertraue jetzt. Ich vertraue meinem Gegenüber. Ich vertraue, dass Gott mir helfen wird. So war es dann auch. Oft sagten mir Menschen in Marokko auf eine Frage: In schā’a llāh (so Gott will). Mein Gegenüber meint damit Allah – ich konnte freimütig auch In schā’a llāh sagen, mit dem Gott Israels im Herzen, und dieser Satz ist mir wieder ans Herz gewachsen.
Hilfsbedürftig sein
Wesentlich war, um die Grenze zum anderen zu überwinden, dem anderen die eigene Hilfsbedürftigkeit zuzumuten. Die Menschen öffneten sich mir, wenn ich mit Unkenntnis in die Begegnung ging: „Darf ich meine Wasserflaschen bei Ihnen auffüllen?“ (Deutschland) In Frankreich war mein Standardsatz: „Désolé, je ne parle pas français“ (Verzeihung ich spreche kein Französisch) und in Spanien schmunzelte mein Gegenüber, wenn ich sagte: „Perdon, mi español es muy malo“ (Entschuldige, mein Spanisch ist sehr schlecht). In Marokko öffnete die Grußformel: „Salam Aleikum“ (Friede sei mir dir) die Herzen der Menschen. Dort, wo ich meinem Gegenüber mit offenem Visier signalisierte, dass ich ihre Hilfe brauchte, öffnete sich die Tür.
In der Fremde mir nah
Das Fremde war die Chance, dem zu begegnen, was mir eigentlich wichtig ist. In der Fremde fand ich mich und das Fremde zeigte mir erneut, was ich an meiner Umgebung hier in Deutschland zu schätzen weiß oder eben befremdlich finde. Sie zeigte mir ebenso, wo ich Gott und mir selbst in der Hektik meines Alltages fremd geworden bin.
Der Höhepunkt war schließlich die Wüste: Wo es äußerlich leer wurde, konnte auch ich innerlich leer werden. Wo nichts war, konnte ich alles sein. Diese Wüsten-Leere bedeutete für mich die eigentliche Fülle, in der die Hektik des Alltags und der vergangenen zwölf Jahre ihre Macht verloren. In der Fremde und in meinem Nichts kann Gott wieder alles sein.
Konstantin führte auf der Bikepacking-Tour ein audiovisuelles Tagebuch auf Instagram: @prior.a.d
Er ist aus seiner Auszeit zurück und mit neuem Schwung für die OJC unterwegs.