Eine Demonstration in einer belebten Straße

Im Zeitalter der Disruption

Ringen um ein gerechtes Miteinander

Vor nicht allzu langer Zeit haben wir 75 Jahre Grundgesetz gefeiert. Unsere Verfassung hat sich auch in Krisen bewährt. Sie bedeutet 75 Jahre freiheitliche Demokratie. Wir haben Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Wiedervereinigung erlebt. Dafür sollten wir unablässig dankbar sein.

Und doch: 75 Jahre sind noch nicht einmal ein volles Menschenalter. Wir erleben heute: Nichts ist selbstverständlich. Da formuliert der Soziologe Heinz Bude, dass wir in einer „Gesellschaft der Angst leben“. Angst vor dem Klimawandel, Angst vor dem sozialen Abstieg, vor Corona, vor Einsamkeit oder vor Krieg. So entstehen soziale wie politische Spaltungen und damit einhergehend die Flucht in Verschwörungstheorien.1 Oder der franz. Schriftsteller Michel Houellebecq: „Müsste ich den geistigen Zustand unserer Zeit in einem Wort zusammenfassen, ich würde unweigerlich dieses wählen: Verbitterung.“2 Und ein weiterer Soziologe nennt das Gefühl des Verlustes das Grundproblem der Moderne.3 Bernd Ulrich hat es kürzlich in der Wochenzeitung „Die Zeit“ auf den Punkt gebracht: Wir leben im „Zeitalter der Disruption“. Gemeint ist die Erfahrung von einschneidenden, tiefgreifenden Veränderungen. Es geht um Erschütterungen bis hin zu Zerstörungen. Solch eine Disruption ist besorgniserregend und verunsichernd. Eine disruptive Welt ist eine Welt im Umbruch.

Welt im Umbruch

Neben den vielen geläufigen Zeichen des Umbruchs – Wirtschaftskrisen, politische Umstürze, eine überhandnehmende Migration, Bürger- und Völkerkriege – will ich auf zwei besonders hinweisen. Es ist die Rede von der „Neuen Rechten“ sowie dem Erstarken einer „multipolaren Weltordnung“. Beide münden in zwei Folgen und einen gemeinsamen Nenner, auf die ich ebenfalls hinweisen möchte.

Bei Timothy Snyder las ich kürzlich: „Die Faschisten regierten ein oder zwei Jahrzehnte lang und hinterließen ein intaktes geistiges Vermächtnis, das heute mit jedem Tag Relevanz gewinnt.“4 Und tatsächlich erleben wir momentan ein weltweites Erstarken der äußersten Rechten. Die ehemalige US-Außenministerin Albright erinnert uns: „Vom italienischen Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden Primo Levi stammt der Satz, jedes Zeitalter habe seinen eigenen Faschismus.“5 So sprechen wir gegenwärtig von der „Neuen Rechten“. Dabei sind die klassischen Bezeichnungen ‚links‘ und ‚rechts‘ längst nicht mehr präzise. Diese „Neue Rechte“ zeichnet sich durch gemeinsame ideologische Elemente aus, die früher verfeindete Lager heute elegant verbindet. Da werden Individualismus und Liberalismus abgelehnt; da geht es um die Vorstellungen von einem ethnisch homogenen, hierarchischen und elitär geführten autoritären Staat; und eben nicht selten gegen das kritische Erinnern an den Nationalsozialismus.6 Bei genauerem Hinschauen sind die Unterschiede zum klassischen Rechtsextremismus verschwindend gering: Wo die einen „Ausländer raus“ grölen, raunen die anderen von der „Remigration“.7 Und wem das zu pauschal oder gewagt erscheint, der lese Martin Sellner im Original. Allein seine Wortwahl von einer „überalterten, hypermoralischen, wehleidigen Biomasse, die der Beschreibung als ‚Volk‘ beinahe spottet“, spricht für sich. Und weiter: „Der Bevölkerungsaustausch durch Ersetzungsmigration macht jahrtausendealte Völker in wenigen Jahrzehnten zu verdrängten Minderheiten im eigenen Siedlungsgebiet.“8 In Sprache und Inhalt ist man unweigerlich an Hitlers „Mein Kampf“ erinnert. So fällt mir das riesige Plakat an einer Hamburger Fabrikwand ein: „Rechtsruck: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie die Jahre 1933 bis 1945.“ Dabei werden damals wie heute Problemlagen durchaus nachvollziehbar analysiert und beschrieben. Die Lösungsansätze bewegen sich aber allesamt auf dem Gebiet der „negativen Freiheit“. Bevor ich dazu komme, erst noch einen Hinweis auf eine zweite Herausforderung: das Ringen um eine multipolare Weltordnung.

Ich bin aufgewachsen mit der Vorstellung einer Welt voller souveräner Völker und Staaten, die auch die Souveränität anderer Staaten achten und wertschätzen. Ausdrücklich auch derjenigen, die anderen politischen Systemen angehören. Diese Vorstellung wurde spätestens durch den „aggressiven Revisionismus“ Russlands9 und seinem Überfall auf die souveräne Ukraine als obsolet befunden. Wenn ich dazu das Reden und Handeln Chinas unter Xi Jinping auf der einen und das von Donald Trump auf der anderen Seite hinzuziehe, bin ich bei den großen Akteuren einer multipolaren Weltordnung. Seinen Ausgang nahm diese Idee bei Carl Schmitt, einem der wirkmächtigsten wie umstrittensten Staats- und Völkerrechtler des 20. Jh., seit 1933 in der NSDAP und erklärter Gegner der parlamentarischen Demokratie. Bis heute hat er große Wirkung – auf die Neue Rechte, aber auch auf Männer wie Steve Bannon (Trump), Alexander Dugin (Putin) und Xi Jinping, die sich dezidiert auf ihn beziehen. Er nannte seinen programmatischen Entwurf „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“. Heute nennen wir es die multipolare Weltordnung. In ihr gibt es keine gleichrangig souveränen Staaten mehr, die je in Freiheit agieren. In dieser Weltordnung gibt es Pole (z. B. China, Russland, USA) sowie von ihnen abhängige Satelliten. Die Pole bestimmen ihre je eigene Weltordnung – sie kann kapitalistisch oder kommunistisch oder was auch immer sein – und es gibt keine gegenseitige Einmischung in die Angelegenheiten der Pole und ihrer Satelliten. Auf diesem Hintergrund wird das Agieren Russlands in der Ukraine und das Chinas im Blick auf Taiwan ebenso verständlich wie die aktuellen Begehrlichkeiten Trumps hinsichtlich Grönlands und Kanadas.

Freiheit auf Kosten anderer ist negative Freiheit.

Zumindest zwei Folgen müssen dabei im Blick behalten werden. Zum einen handelt es sich um einen Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit, zum anderen auf die Menschenwürde. Stefanie Babst fragt: „Wollen wir künftig in einem Dschungel leben, in dem das Recht des Stärkeren regiert? In einem rechtsfreien Raum, in dem militärische Gewalt ein akzeptables Mittel zur Durchsetzung nationaler Interessen ist? (…) Oder wollen wir weiter in einer selbstbestimmten, freiheitlich-demokratischen Ordnung leben?“10 Wer die Souveränität eines Anderen missachtet und nur in Abhängigkeitskategorien von ihm denkt, verachtet dessen Würde und tritt sie brutal mit Füßen. Weder der einzelne souveräne Staat noch die einzelne Persönlichkeit sind somit geschützt vor den mehr oder weniger diktatorischen Übergriffen einzelner Machthaber. Die Demokratie eines verbindlichen Rechtsstaates, der Meinungsvielfalt und den Ausgleich zum Schutz der Schwächeren und Minderheiten sucht, wird hier verraten.

Welt im Umbruch – zwei Herausforderungen, die einen gemeinsamen Nenner haben. Timothy Snyder, Professor für Geschichte in Yale, nennt diesen die „negative Freiheit“11. Ich sagte schon: es fällt bei Bewegungen des Protektionismus und Nationalismus auf, dass Probleme wie bspw. Verlustängste durch Wirtschaftskrisen und bei Migrationsbewegungen häufig richtig erkannt werden. Aber sie werden dann von einem bestimmten „Framing“, einem Denk- und Deutungsrahmen aus beurteilt, dem alles unterstellt wird. Bei Hitler hieß es: die Juden – darum sind wir die Verlierer; bei Sellner: die Ausländer – darum sind wir die Verlierer; bei Wagenknecht: der Kapitalismus – darum sind wir die Verlierer. Durchgehend ist das Storytelling dadurch bestimmt, dass andere schuld sind und wir dabei die Verlierer. Also: die gegen uns! Und deshalb: die oder wir! Und es ist wie es schon zu Zeiten Weimars war: vorhandene Ressentiments werden antizipiert und nutzbar gemacht. Wenn wir also Freiheit auf Kosten anderer erlangen wollen, dann sprechen wir von einer negativen Freiheit. Diese aber geht immer einher mit Gewalt und Lebenszerstörung. Sie dient am Ende nie der Verbesserung oder Lösung eines Problems, sondern allein der Spaltung und Knechtung einer Gesellschaft, ja der Weltgemeinschaft. „Die gegen uns … die oder wir“ wirbt letztlich um ein Leben auf Kosten anderer. Vor allem auf Kosten benachteiligter und vulnerabler Minderheiten, die auf Hilfe angewiesen sind. Die eben genannte Losung ist damit zutiefst zerstörerisch. Zu einem gelingenden Leben gehört nicht nur mein (vermeintlich) eigener Vorteil, sondern auch das Wohl meiner Mitmenschen. Das geläufige Wort Wohlstand ist abgeleitet von dem alten Wort Wohlfahrt. Dies war nicht reduziert auf mein eigenes und materielles Ergehen, sondern umfassend auf das Wohlsein – biblisch Schalom, Frieden – aller Menschen. In einer freiheitlichen Demokratie wird dem durch Rechtsstaatlichkeit statt Willkür und Menschenwürde statt Ausgrenzung und Erniedrigung am besten gedient. Und nie, gar nie auf Kosten anderer.

Kampf um die Wahrheit

Die Welt im Umbruch, in Angst und Disruption wurzelt im Misstrauen. Und wie schon vor hundert Jahren, so auch heute: unsere politische Elite gibt dazu durchaus Anlass. Wenn Politik durch Politikinszenierung ersetzt wird, hat der Populismus ein leichtes Spiel und die Wirklichkeit wird leichtfertig durch Propaganda ersetzt. Dann wird die Lüge zur Wahrheit und alternative Fakten geben den Ton an. Einfache und scheinbar zufriedenstellende Antworten auf komplizierte und komplexe Fragen der Zeit betören wie einst die Sirenen, die mit ihrem Gesang die vorbeifahrenden Schiffer in den Tod lockten. So stellte ein Journalist während des vergangenen US-Präsidentschafts-Wahlkampfes fest: „Es kommt nicht so sehr darauf an, was ist, sondern was geglaubt wird.“ Und die verstorbene Madeleine Albright hält fest: „Die erste Regel der Täuschung lautet: Oft genug wiederholt, klingt fast jede Behauptung, Geschichte oder Verleumdung glaubwürdig.“12 Es ist längst ein Kampf um die Wahrheit entbrannt – in den Häusern und auf den Straßen – in den Kneipen und Parlamenten – durch Fake News gewürzt mit Angst und Sorgen sowie durch Cyberattacken aller Art. Da wird gespielt mit den Stichworten Angst, Verbitterung, Verlust. Als man Alexander Solschenizyn fragte, wie man eine Diktatur verhindern könne, antwortete er: „Vermeiden Sie jede Art von Unwahrheit.“

Demokratie stärken: Suchet der Stadt Bestes

Unser früherer Bundeskanzler Helmut Schmidt sprach von der „Erziehung zur Demokratie“. Doch wie? Vielleicht hilft der Rat von André Malraux: „Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern.“13 So blättern wir zum Schluss um gut zweieinhalbtausend Jahre zurück. Auch der Prophet Jeremia lebte in einem Zeitalter der Disruption. Er schrieb einen Brief an die ins Exil entführten Israeliten nach Babel (Jer 29) mit dem Kernsatz: Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl. Aus diesem Brief drei Anregungen:

  • In der Wirklichkeit leben. Ja, wir leben in einer komplizierten Zeit. Und wir nehmen sie und ihre Not ganz nüchtern wahr. Aber sie ist nicht nur Last, sondern auch Gabe. Wir Christen sind nicht zum Jammern geboren – wir sollten uns dazu nicht verleiten lassen. In allem ist und bleibt unser Gott das Maß aller Dinge – nicht Disruption oder Angst. Gott schreibt Geschichte. Und er bringt sie auch an sein Ziel. Er allein!
  • Als Brückenbauer leben. Wir stellen uns den Herausforderungen und geben unser Bestes. Aber nie gegen Andere – unsere Freiheit ist positiv. Wir pflegen keine Feindbilder, kein „die gegen uns“ und kein „die oder wir“. Unser Auftrag heißt Versöhnung und Hoffnung. Das wollen und sollen wir in die Welt tragen. Christen sind Hoffnungs- und Zukunftsmenschen!
  • Zuversichtlich leben. Wir jammern nicht – nicht gegen eine böse Zeit, erst recht nicht wegen anderer Menschen. Wir vertrauen Gott – und zeigen das durch unser konstruktives Leben. Das beginnt mit Vertrauen und Wahrheit. „Zuversicht ist (…) womöglich die Haltung, die wir heute am dringendsten benötigen.“14 Diese Welt braucht vor allem Hoffnungs- und Zukunftsmenschen. Tapfer der Wirklichkeit ins Auge blicken – und unerschrocken der Menschenfreundlichkeit Gottes vertrauen!

  1. Markus Vogt, Demokratie braucht aufgeklärte Religion. Sieben Thesen; in: Stimmen der Zeit 3/2024; S. 171 

  2. in: Daniel Zöllner; Mut zur Tugend, Essays zur Lebenskunst in der Gegenwart; Rückersdorf üb. Nürnberg 2024; S. 71 

  3. Andreas Reckwitz; Verlust. Ein Grundproblem der Moderne; Berlin 2024 

  4. Timothy Snyder; Über Tyrannei, Zwanzig Lektionen für den Widerstand; München 20239; S. 12 

  5. Madeleine Albright; Faschismus, Eine Warnung; Köln 20183; S. 262 

  6. https:/​/​www.bpb.de/​themen/​rechtsextremismus/​dossier- rechtsextremismus/500801/neue-rechte/; abgerufen am 13.09.2024 

  7. https:/​/​www.amadeu-antonio-stiftung.de/​rechtsextremismus- rechtspopulismus/alter-rassismus-in-neuem-gewand-die-neue- rechte/; abgerufen am 13.09.2024 

  8. Martin Sellner; Regime Chance von rechts, Eine strategische Skizze; Schnellroda, 4. überarbeitete Auflage 2024; S. 7-11 

  9. Stefanie Babst; Sehenden Auges, Mut zum strategischen Kurswechsel; München 2023; S. 177 

  10. Babst; a.a.O. 31f 

  11. Timothy Snyder; Über Freiheit; München 2024 

  12. Albright; a.a.O. 20 

  13. Malraux (1901-1976) war franz. Schriftsteller; zitiert nach Herfried Münkler; Welt in Aufruhr; Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert; Berlin 20248; S. 5 

  14. Giovanni di Lorenzo; in: Die Zeit, Leitartikel vom 24. Dez. 2024 

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