Abstand vom Rudel
Seit 1984 leben meine Frau und ich in der OJC, das ist unsere persönliche Berufung. Vom Gästehaus Tannenhof über das Schloss führte mein Weg im Jahr 2000 zur Leitung der Buchhaltung. 2004 wurde ich Geschäftsführer der OJC und trug immer mehr Verantwortung. Meine Aufgaben habe ich gerne ausgefüllt, weil ich eine Überzeugung für das habe, was uns von Gott als Auftrag für die OJC anvertraut ist. Bei allem, was zu organisieren, durchzuführen, mitzutragen war, erlebte ich mich in meinem Element und in dem, was meine Gaben sind.
Und doch hatte ich bereits während unserer Zeit auf dem Schloss oft den Eindruck, an das Limit meiner Kraft und Kompetenz zu kommen. Die Verantwortung erschien mir immer etwas größer, als ich mit meinen Gaben bewältigen konnte. Ab etwa 2015 wurde es endgültig zu viel. Meine Art, Aufgaben wahrzunehmen, und meine Begrenzung haben es mir immer weniger möglich gemacht, die Fülle der Dinge in einem erträglichen Maß zu gestalten. Mir gelang es nicht, rechtzeitig Grenzen zu ziehen und um mehr Hilfe zu bitten.
Ein Wechsel innerhalb der Mitarbeiterschaft, der Bau unseres Mehrgenerationenhauses und die schwere Krankheit und der Tod meiner Mutter führten 2017 und 2018 in eine Situation großer Überforderung. Immer mehr Aufgaben, innere Anspannung und vermehrte Konflikte haben mich zunehmend belastet und mir die Freude an der Arbeit geraubt. Wenn ich abends nach Hause kam, hatte ich kaum Kraft für irgendwas. Müdigkeit, Erschöpfung, Unlust waren die vorherrschenden Gemütszustände. Ich wollte nur noch Abstand gewinnen von dem ständigen Getriebe, von den Menschen, ihren und meinen Unzulänglichkeiten, von meiner Gereiztheit und Frustration.
Von Herzen dankbar bin ich, dass wir 2018 entschieden haben, das Amt des Geschäftsführers an einen jüngeren Mitarbeiter weiterzugeben. Mir wurde angeboten, von April bis September 2019 eine Auszeit zu nehmen. Diese Sabbatzeit hat sich wunderbar ausgewirkt. Bis heute bin ich sehr froh und freue mich an einer gelungenen Übergabe der Verantwortung!
Zunächst konnte ich mir einen Traum erfüllen und drei Monate in einer kleinen Gemeinschaft in Israel mitleben. Ich habe halbtags mitgearbeitet und hatte genug Zeit, um zu lesen, zu reflektieren, zu wandern und vor allem auch für Gebet und Stille. Tägliche lange Spaziergänge und Wanderungen haben mir sehr wohl getan. Ich habe dabei die Schönheit der Schöpfung, der Natur und der Landschaft neu entdeckt, vielleicht mehr als jemals zuvor. Das Eingebundensein in einen geregelten Tages- und Wochenrhythmus mit Tagzeitengebeten, Mahlzeiten und Feiern war sehr hilfreich. Sehr dankbar bin ich für die Menschen, die diesen Ort seit Jahren beleben und gestalten. Sie tun damit einen äußerst wichtigen Dienst, indem sie einen Raum zur Verfügung stellen, in dem andere wieder zu sich selbst finden können. Und sie tun das mit ihrer ganzen Person und aller Liebe, die sie für Menschen aufbringen können. Ich war sehr froh, dass ich einfach ohne Verantwortung mittun konnte – häufig Unkraut jäten.
Einmal wöchentlich habe ich den Dienst des Kochens übernommen, an dem Tag, an dem die Köchin einkaufen geht. Ich kann das einigermaßen, es aber für jeweils 8 bis 20 Personen zu tun, war eine kleine Herausforderung, die zu einer guten Erfahrung wurde. Vor allem, weil ich mit der erforderlichen Zeit und Ruhe z.B. Salat schnippeln konnte, ohne zu fürchten, dass Dringenderes ungetan bleibt.
Sehr schön war, dass meine Frau Monika zum letzten Drittel der Zeit ebenfalls nach Israel kommen konnte und wir einen Teil dieser Erfahrung gemeinsam hatten. Die folgenden drei Monate der Auszeit war ich mit Freunden pilgern, mit meiner Frau zu längeren Besinnungstagen in der Schweiz, in Taizé und einfach unterwegs. All das war sehr bereichernd und allmählich haben mich auch geistliche Impulse wieder stärker angesprochen.
Das wertvollste in der ganzen Zeit waren das tägliche Wandern und Zeiten regelmäßiger Stille. Ein Buch zum Älterwerden, eines zur Reflexion der eigenen Lebensgeschichte und Jean Vaniers „Gemeinschaft“ sind mir besonders kostbar geworden. Wichtig waren viele Gespräche und Austausch – auch mit meiner Frau, die mir in dieser Zeit und in den Jahren davor Halt, Widerstand und Perspektive gegeben hat.
Was ist geblieben? Vor allem ist neue Freude und Hoffnung in mein Leben gekommen. Auch was ausweglos scheint, kann wieder besser werden.
Bis heute versuche ich, täglich eine Stunde zu gehen. Das tut gut und körperlich geht es mir viel besser. Beim Wandern genieße ich den Rhythmus des Jahres und die Schönheit der Schöpfung – Herbst, Winter, Frühling, Sommer. Wie schön ist das!
Ich bin noch nicht im Ruhestand und nehme weiterhin gerne Aufgaben im Rahmen der OJC wahr. Der Kontakt zu den Spendern und die Verantwortung für die ojcos-stiftung sind meine Haupt-Arbeitsfelder. Besonders am Herzen liegt mir das Projekt im Irak – für verfolgte Christen (siehe https://www.ojcos-stiftung.de/irak/).
Die Last der Verantwortung fehlt mir nicht; auch nicht, dass ich in weniger Entscheidungsprozesse direkt eingebunden bin. Mit Staunen entdecke ich Veränderungen zum Besseren. Die Ordnung an meinem Arbeitsplatz nimmt zu, es stauen sich keine unübersehbaren Berge mehr an. Ich habe mehr Freiraum, den ich selbst einteilen kann, und bin nicht mehr so getrieben, finde Raum für Neues und Kreatives.
Eines Abends stellte ich mit leiser Verwunderung eine deutliche Zufriedenheit mit der Arbeit des Tages fest. Das war mir fast fremd. Das Erledigte war gelungen und ich ging unbeschwert nach Hause. Ich muss nicht mehr den ständigen Druck des Unerledigten mit in den Abend und den kommenden Tag nehmen.
Auch sonst sind Lebensfreude, Initiative und Lust am Tun zurückgekehrt, vor allem auch neben der eigentlichen Arbeit. Dafür bin ich dankbar. In den Monaten vor der Auszeit hatte ich den Eindruck, dass dies alles verloren ist. So sehr fehlten mir Kraft und Motivation und es war mir nicht mehr vorstellbar, wieder etwas über die unbedingte, tägliche Verpflichtung hinaus in Angriff nehmen zu können.
Die Auszeit war ein großes Geschenk. Es gibt Hoffnung auf Veränderung. Gott sei Dank! Die Schönheit der Natur, die Inspiration aus dem Geist Gottes, Bewegung und das freundliche Gegenüber von Menschen sind Heilkräfte, die wieder auf die Spur zu einem freudigen Leben zurückbringen.