Endverbraucher der Gaben Gottes?
- Endverbraucher der Gaben Gottes?
- Motivation: Liebe für die Welt
- Kernkompetenz: Versöhnung mit Gott und Mensch
- Wirkungsfeld: die Nachbarschaft vor Ort
- Top-Team: wer immer da ist
- Kontextrelevanz: was gebraucht wird
- Operationsbasis: das persönliche Umfeld
- Ziel: dass Menschen Glauben finden
Endverbraucher der Gaben Gottes?
Wie wird Gemeinde innovativ, natürlich, missionarisch, missional, gesellschaftstransformativ, emergent, einfach und sich selbst multiplizierend? Was dient ihrem Wachstum: kreative Gästegottesdienste in öffentlichen Räumen oder schlichte Hauskreise, spirituelle Highlight-Events, anspruchsvoller Worship oder totaler Verzicht auf attraktionale Angebote? Viel grundlegender als die Frage nach dem Wie scheint aber die zu selten gestellte Frage nach dem Wozu: Was ist denn die wesensmäßige Bestimmung der Gemeinde? Im folgenden Aufsatz entfaltet Dr. Johannes Reimer einige wesentliche Aspekte.
Jesus Christus versprach seinen Jüngern, seine Gemeinde zu bauen, die die Kräfte der Hölle nicht überwältigen würden (Mt 16,18; lut). Sie wird als ekklesia, eine aus der Welt herausgerufene Gemeinschaft der Berufenen, näher bestimmt. Der griechische Begriff meint ursprünglich die Versammlung der Bürger einer Polis. In der Septuaginta, der Übersetzung des Alten Testaments in die griechische Sprache, gibt das Wort den hebräischen Ausdruck qahal Jahwe = Versammlung Gottes wider, der wiederum die politische Zusammenkunft des Volkes Gottes im Blick hatte. 1 Ekklesia steht somit für eine Versammlung von Menschen, die zur gemeinsamen Verantwortung für die Belange ihres Kontextes zusammengerufen wurde. Sie hat eine Mission. Ja noch mehr, sie ist von ihrem Wesen her missionarisch. Und ihre Mission ist es, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein(Mt 5,13-16), der Welt Versöhnung zu verkündigen und Gottes Gerechtigkeit vorzuleben (2 Kor 5,18-21). In ihr wird Gottes heilende Herrschaft sichtbar. Sie soll sich dafür einsetzen, dass alle Menschen auf dieser Erde zu Jüngern Jesu werden (Mt 28,19-20). Nur wenn die Ekklesia Gottes als missionarische Existenz in der Welt erkannt wird, hat sie das Recht, als Gemeinde Jesu bezeichnet zu werden, wenn auch in aller Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit. Doch wenn in ihr Gottes heilende Herrschaft nicht erkannt wird, ist die religiöse Gemeinschaft es nicht wirklich wert, aufgebaut zu werden. Gottes Ekklesia muss sich an ihrer missionarischen Existenz in der Welt messen lassen.
Motivation: Liebe für die Welt
Maßstab für die Mission der Gemeinde ist Jesus. Zu seinen Jüngern sagte er: Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch (Joh 20,21; lut). Paulus, der Gottes Werk im Leben von Menschen reflektiert, schreibt: Wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen (Eph 2,10; lut). Damit ist jeder Beliebigkeit der Mission der Christen Einhalt geboten. Gott bestimmt, was die Mission der Gemeinde ist und wie sie diese auszuführen hat, und Christus ist sein Modell. Was immer Gemeinde tut und redet, soll der Welt dienen! Gemeinde wird für die Welt aufgebaut. Sie soll am höchsten Platz vor Ort allen Menschen in der Stadt leuchten (Mt 5,14-15), und das unter allen Völkern der Welt (Mt 28,19-20). Deswegen verfehlt ein wie auch immer konzipierter Treff der Christen, der auf das Wohlergehen der Gläubigen allein zielt, seine biblische Bestimmung. Freilich müssen Gemeindeglieder angeleitet, gestärkt und für ihren Dienst geschult werden. Der Aufbau nach innen ist jedoch immer missionarisch ausgerichtet, nicht wie das bekannte Kindergebet: „Lieber Heiland mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm.“ Fromm werden wir gemacht, damit die Welt erkennt, wer Gott ist und was er der Welt an Versöhnung anbietet.
Kernkompetenz: Versöhnung mit Gott und Mensch
Gott hat sich mit der Welt in Christus versöhnt. Niemand muss mehr unversöhnt mit Gott, sich selbst oder auch seinen Mitmenschen leben. Und jeder verdient es, davon zu erfahren. Dieses Evangelium den Menschen zu zeigen und zu sagen – darauf kommt es der Gemeinde, wie Jesus sie will, vor allem an. Sie steht im Dienst der Versöhnung Gottes mit seiner Schöpfung. Wo Christen Gottes Werke in der Welt tun, da erfahren Menschen das Evangelium und preisen Gott den Herrn (Mt 5,16). Echter Gemeindeaufbau zielt also auf Evangelisation und nicht auf Strukturen zur Befriedigung spiritueller Bedürfnisse ihrer Mitglieder. Der evangelistische Einsatz der Gemeinde ist ein wichtiger Gradmesser ihrer Echtheit. Ihr Wachstum misst sich nicht an der Zahl derer, die spirituelle Events genießen, sondern an den Menschen, die aus der Finsternis zum Licht finden, aus Unversöhnlichkeit zum Frieden, aus Verzweiflung zum Leben. In der Urgemeinde gab es dazu ein deutliches Prädikat: Der Herr aber fügte täglich zu der Gemeinde hinzu (Apg 2,47; lut). In einer evangelistischen Gemeinde dient alles Gemeindeleben diesem Ziel und ihr geistliches Wachstum wird an ihrer missionarischen Einsatzfähigkeit für die Verlorenen in der Welt sichtbar.
Wirkungsfeld: die Nachbarschaft vor Ort
Die Gemeinde muss sich vor Ort engagieren und als eine von Gott aus der Welt versammelte Gemeinschaft Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen. Ein Gemeinwesen ist bestimmt vom sozialen Raum, von Menschen, die in der unmittelbaren Nachbarschaft vor Ort leben. Ihnen gilt die Aufmerksamkeit der Ekklesia. Ihretwegen ist sie vor Ort zusammengerufen. Ekklesialer Gemeindeaufbau muss daher immer mit der Verortung beginnen. Die neutestamentliche Ekklesia ist zunächst und vor allem Ortsgemeinde. Verortung meint den Prozess der Entscheidung einer Gemeinde, geistliche Verantwortung für die Menschen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zu übernehmen. Erst wenn eine Gemeinde sich für ihren Ort entscheidet, an dem sie Licht des Evangeliums sein will, wird sie Gottes Agent der Transformation vor Ort. Ortslose Gemeinden werden dazu tendieren, Gleichgesinnte in religiöse Vereine zu sammeln, die letztlich für sich selbst sorgen und irgendwann spirituelle Selbstbeweihräucherung betreiben. Solche Gemeinden ziehen Menschen dann vor allem mit christlich-attraktionalen Elementen im Gottesdienst und Gemeindealltag an. Aber das ist nur „Transferwachstum“, weil nicht Suchende hinzukommen, sondern vor allem Christen aus anderen Gemeinden. Wer Christen spirituell zu bespaßen weiß, kann in unserer egozentrischen Gesellschaft für steigende Zahlen von Gottesdienstbesuchern sorgen. Allerdings nehmen jene in der Regel selten aktiv an der Mission der Gemeinde teil und finanzieren lieber vollzeitliche Mitarbeiter für Veranstaltungen auf professionellem Niveau. Die aber bewirken vor Ort wenig bis keine Veränderung. Eine Ortsgemeinde dagegen kann sich ihre Leute nicht aussuchen, ihr sozialer Raum ist von vornherein territorial abgesteckt: sie wird Licht für ihre Nachbarschaft sein. Womöglich wird sie numerisch nur langsam wachsen, aber die, die kommen, sind nicht Überläufer aus anderen Gemeinden, sondern Nachbarn, die das Zeugnis der Gemeinde erlebt, gehört und verstanden haben und von diesem Zeugnis angeregt Jesus nachfolgen wollen. Viele evangelikale Gemeinden in Deutschland sind keine Ortsgemeinden im engeren Sinn. Sie mögen ein Gemeindehaus vor Ort unterhalten, aber ihre Besucher kommen nicht zwingend aus dem Ort, und nur selten übernehmen sie Verantwortung für die Menschen vor Ort. Wer aber diese für ein Leben mit Gott gewinnen will, sollte sich ihnen auch zuwenden. Erst wenn die Gemeinde die Verantwortung für den Ort bewusst übernimmt, kann sie missionarisch erfolgreich agieren. Verortung der Gemeinde ist ein Prozess, der Monate dauern kann. 2 Hilfreich ist dabei eine Fachbegleitung von außen, wie sie von mehreren Gemeindeentwicklungsinstituten in Deutschland angeboten wird.
Top-Team: wer immer da ist
Gemeinde ist als Gemeinschaft gefragt. In einer attraktionalen Gemeinde braucht es immer den einen oder anderen vollzeitlichen Alleinunterhalter. In der amerikanischen Gemeindewachstumsbewegung etwa wird die Frage nach dem Leiter, dem die Gemeinde folgt, auch deutlich gestellt. „Who owns the ministry?“ ist die zentrale Frage des transferzentrierten Wachstums.Nicht so im ekklesialen Gemeindebau. Hier kommt es auf die ganze Gemeinde, auf den Leib Christi an. Gemeinde wächst hier nicht, weil ihre Leitung andere Christen anzieht, sondern weil die Gemeindeglieder ihren Glauben im Alltag leben und damit Zeugnis von der verändernden Kraft des Evangeliums sind. Dabei kommt es stets auf alle an, sind sie doch wunderbar verschieden begabt und berufen. Mindestens 22 Dienst-Gaben des Heiligen Geistes hat der Herr seinem Leib anvertraut, die alle Bereiche unseres menschlichen Lebens durchziehen. Die einen setzen sich für das materielle Wohl der Menschen ein, andere können seelischen oder sozialen Beistand gewähren. Wiederum andere helfen ihnen, ihre Lebenssituation besser zu verstehen und suchen gemeinsam nach Lösungen, oder sind fähig, schwer erklärbare Phänomene im Leben zu erklären, Antwort auf Fragen nach Gut und Böse, Gott und Teufel, Sinn und Unsinn ihrer Erfahrungen zu geben. Es ist dieses ganzheitliche Zeugnis im Gemeinwesen, das den Ort mit dem Licht des Evangeliums erleuchtet: Das Evangelium wird im Lebenskontext vorgelebt, den Menschen wird evangelisch-diakonisch gedient und schließlich auch gepredigt. Die Gemeinde wird dabei zu jener verkündigenden Existenz, die nicht sich selbst, sondern den groß macht, der sie gewollt und geschaffen hat.
Unerlässlich für eine missionarische Durchdringung des Ortes ist, dass die Gaben und Fähigkeiten jedes einzelnen Gliedes erkannt und diese für einen effektiven Einsatz geschult werden. Potenzanalyse und Anleitung sind also die Grundlage für den Gemeindeaufbau (Eph 4,11-12). Geistliches Wachstum, die jüngerschaftliche Förderung besteht also darin, dass die Gemeindeglieder zum Werk des ihnen von Gott anvertrauten Dienstes freigesetzt werden. 3
Kontextrelevanz: was gebraucht wird
Das Evangelium ist nur dann eine gute Nachricht, wenn es im Kontext der Bedürftigen ausgesprochen wird. Nichts wäre dem Evangelium so fremd wie Hilfe, wo keine Hilfe gebraucht wird. Eine Gemeinde, die den Menschen in ihrem Lebensraum mit dem Evangelium begegnet, wird sich deshalb darum bemühen, ihren Lebensraum zu verstehen, um sie da abzuholen, wo sie sind. Eine gute Kontextanalyse geht dem Einsatz der Gemeinde voraus, damit sie versteht, wo die Stärken und die Schwächen der Menschen liegen und was ihre tatsächlichen Bedürfnisse sind. Kontextanalysen bieten der Gemeinde jene Sehhilfe, die konkrete und lebensrelevante Verkündigung in Wort und Tat ermöglicht, damit die Gemeinde zum Transformationsagenten im Gemeinwesen werden kann. Sie wird nur dann als lebensrelevant erkannt, wenn sich in ihr alles dem Gemeinwesen, in dem sie lebt, anpasst: ihre Strukturen, ihre Sprache, ihr kulturelles Erscheinungsbild. Ganz nach dem Vorbild ihres Herrn. Auch er kam als Mensch in die Welt und wurde hier unter den Menschen in allem als Mensch erkannt. Nur gesündigt hat er nicht (Hebr 4,15). Und diese Inkarnation hat es den Menschen ermöglicht, in seinem Leben die Herrlichkeit Gottes zu erkennen (Joh 1,1.14). Auch die Gemeinde inkarniert in den Kontext, passt sich kulturell an die Menschen an. Die Menschen, die sie aufsuchen, werden in ihr weniger religiöse Befriedigung, sondern Antworten auf Fragen ihres Lebens suchen, weil die Themen, mit denen sich die Gemeinde beschäftigt, auch ihre Themen sind. Leider ist die Mehrheit der christlichen Gemeinden in unserem Land alles andere als kontextrelevant, sondern eher traditionsverpflichtet, konfessionell angepasst oder darum bemüht, den neuesten Trend aus Übersee umzusetzen. Nicht ihr Dienstkontext, sondern Strömungen im christlichen Kontext bestimmen den kirchlichen Alltag. Damit erreichen sie aber keine Menschen, die Gott fern sind, sondern nur Christen mit religiösen Bedürfnissen. Wenn eine Gemeinde diesen Trend ändern will, muss sie sich ihrem Kontext bewusst zuwenden. Hierzu stehen ihr vielfältige Hilfsinstrumente zur Verfügung. 4 Als besonders hilfreich seien die von der Theologischen Hochschule Ewersbach (THE) und dem Trafo-Institut in Marburg angebotene Beratung genannt, die Gemeinden durch den Prozess einer Kontextanalyse leitet und ihnen gegebenenfalls Berater und Mentoren zur Seite stellt.
Operationsbasis: das persönliche Umfeld
Wie nähert sich eine Gemeinde den Menschen vor Ort? Wie wird sie Licht, was ist die „höchste Stelle“, von der aus sie allen leuchten kann? Zwei Beobachtungen können an dieser Stelle helfen. Erstens: Die Gemeinde ist da am höchsten Ort, wo ihr Zeugnis maximal sichtbar wird. Und das ist zunächst und vor allem in Familie und Nachbarschaft, wo der neugierige Blick der Menschen am intensivsten auf die Christen gerichtet ist. Hier wird sichtbar, wie sie ihren Alltag gestalten, miteinander umgehen. Nirgendwo sonst wird der Lebensbezug des Glaubens so deutlich und augenfällig wie in den vier Wänden einer Familie, wo der Glaube zum gelebten Alltag gehört, ob man will oder nicht. Es ist kaum verwunderlich, dass der Heilige Geist seinen Triumphzug durch die Weltgeschichte in den vier Wänden eines privaten Hauses begann. Unzählige Erweckungswellen, die unsere Welt durchzogen, haben das bestätigt: Wo Familien in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft evangelisch leben, werden Menschen am ehesten auf den Glauben aufmerksam und so von einer missionarischen Gemeinde angezogen. Gemeindeaufbau nach innen muss daher nicht nur das einzelne Glied der Gemeinde auf die Begabung und Berufung aufmerksam machen, sondern die Familie an sich stärken und zum zeugnishaften Leben in der Nachbarschaft befähigen. So entstehen Nachbarschaftszellen, Familien-Cluster, in denen das Evangelium vorgelebt, vorgedient und erklärt werden kann. Doch genügt die Konzentration auf die Familie nicht, um den sozialen Raum mit dem Evangelium zu erreichen; erst recht nicht in unserer familienskeptischen Gesellschaft. Aus meiner Sicht ist dafür kirchliche Gemeinwesenarbeit am besten geeignet, also freiwilliger Einsatz zum Wohl des Gemeinwesens. Einsätze in einem Nachbarschaftstreff, zu dem gläubige wie suchende Menschen gehören, können Vertrauen stiften und Interesse für weiteres wecken.
Ziel: dass Menschen Glauben finden
Wo Menschen Vertrauen zu Christen und ihrer Gemeinde gewinnen, werden sie bald auch die Frage nach dem Glauben stellen. Und indem diese Fragen beantwortet werden, geschieht Evangelisation. Das kann auf sehr vielfältige Weise passieren. Ob im persönlichen Gespräch, in einer Nachbarschaftsdiskussion oder in einem besonderen evangelistischen Gottesdienst. Das Format ist zweitrangig – worauf es ankommt, ist die Kommunikation des Evangeliums selbst. Gemeindeaufbau setzt intentionale Verkündigung des Evangeliums und damit die Hinführung des Menschen zur Entscheidung für den Glauben voraus. Im gesellschaftstransformativen Gemeindeaufbau werden Menschen nicht nur religiös unterhalten, sondern erfahren eine Transformation ihres gesamten Lebens.
Man kann Gemeinde also unterschiedlich bauen, entscheidend aber ist die Perspektive: Bauen wir Gemeinde für Christen oder für die Welt? Im Sinne der Ekklesia, wie Jesus sie gedacht hat, kommt nur die zweite Option infrage.
Mehr dazu in J. Reimer: Die Welt umarmen. Theologie des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus. 2. Aufl. Marburg: Francke 2013, 42-47. ↑
S. J. Reimer & Tobias Müller: Gemeinde von Nebenan. Wie Gemeinde ihren lokalen Auftrag findet. Praxisreihe Tools 1. Marburg: Francke 2015. ↑
S. J. Reimer, T. Müller: Die eigene Gemeinde verstehen. Wie Gemeinde ihr Potenzial entdeckt. Praxisreihe Tools 2. Marburg: Francke 2015. ↑
S. Tobias Faix & J. Reimer (Hg): Die Welt verstehen. Kontextanalyse als Sehhilfe für die Gemeinde. Transformationsstudien Bd. 3. Marburg: Francke 2012. ↑