Raus aus dem Getto
„Der Christ in seiner Umwelt“, ein unermessliches Thema, zu dem nur ganz wenig, stotternd und mit Bangen, gesagt werden kann. Denn schon die „Welt“, die in diesem Thema vorkommt, ist unübersehbar und unbeschreiblich: die Welt der ungeheuren, in einem erschreckenden Tempo wachsenden Menschheit, die Welt, die zu einer Einheit aus partikulären Kulturen und Völkern zusammengewachsen ist, so dass heute jeder jedes Nachbar und Geschichte und Schicksal jedes Volkes zur Geschichte und zum Schicksal jedes anderen geworden ist; die Welt der rationalen Technik, der Atomkräfte, der Automation, der ABC-Waffen, der Massenkommunikationsmedien, der nomadenhaften Freizügigkeit, der militanten Großideologien, der Massenhysterien, der Werbung, künstlicher Bedarfslenkung, des organisierten Vergnügens, die Welt, die immer rationaler geplant und doch immer weniger kalkulierbar wird, die Welt, die nicht mehr das von der Natur vorgegebene feste Haus des Menschen, sondern das Material für seine schöpferischen Pläne ist, die Welt, deren Werdetempo der Mensch selbst beschleunigt; aber auch die Welt, die immer noch die des ewigen Wesens des je einmaligen Menschen ist, seiner Liebe, seiner alles überholenden Frage, seiner Sehnsucht, seiner Einsamkeit, seines Verlangens nach Glück und Ewigkeit, die Welt der abgründigen Qual und des Todes, die Welt von heute, die schrecklich ist und uns doch vertraut, von uns doch geliebt: unsere Welt, unser Schicksal, das wir annehmen, neben dem wir kein anderes kennen. In dieser verwirrenden Welt leben wir. Wir müssen sie so sehen, wie sie wirklich ist. Fragen wir also ehrlich: Was tut der Christ in dieser Welt?
Teilen und sich mitteilen
Das erste, meine ich, ist dies: Der Christ teilt brüderlich mit allen anderen Menschen diese Welt von heute, so wie sie ist. Er flieht sie nicht, er will weder in einem Getto leben noch im Windschatten der Geschichte, weder in der Vergangenheit, in die er romantisch zurückflieht, noch in einer bestimmten soziologischen Kleingruppe, in der allein er sich wohl fühlen würde. Er nimmt die weltliche Welt an, er hat gar nicht die Absicht, sie in die Welt eines vergangenen Mittelalters zurück zu verwandeln, in der unmittelbar alles religiös geprägt wäre; er bildet sich nicht ein, für alles und jedes ein fertiges oder gar besseres Rezept zu wissen als die Nichtchristen, bloß deshalb, weil er diese Welt umfasst weiß von der Macht und dem Erbarmen des unbegreiflichen Geheimnisses, das er Gott nennt und das er als Vater anzurufen wagt; er weiß mit allen anderen, dass seine Welt in eine Bewegung geraten ist, deren konkrete innerweltliche Ausgänge niemand klar sieht, weil alle Berechnungen auch das Unberechenbare wachsen lassen. Der Christ nimmt diese Welt der Macht, der Angst und abgründigen Ohnmacht an. Er vergöttert sie nicht in utopischen Ideologien und verdammt sie nicht. Sie ist; und der Christ, der der wahre Realist ist oder sein soll, nimmt sie an als den ungefragt verfügten Raum seines Daseins, seiner Verantwortung und seiner Bewährung. Er kann es sich leisten, ein hoffender Realist zu sein, weil er in der Treue zu dieser Welt und ihren Aufgaben einer absoluten Zukunft entgegengeht, die ihm von Gott her entgegenkommt, mitten hindurch durch alle Siege und alle Untergänge dieser Welt und ihrer Geschichte.
In der Welt, nicht von der Welt
Das zweite ist dies: Der Christ erkennt die Diaspora an, in der er heute, und zwar überall, leben muss, als die letztlich positiv zu deutende Situation seines Christseins. Wenn ich Diaspora sage, meine ich den biblischen und den heutigen Sinn des Wortes, nicht den von gestern, also nicht die Situation einer katholischen Minderheit unter einer Majorität von evangelischen Christen. Dieser Begriff des 19. Jahrhunderts mag auch noch eine Wirklichkeit und eine pastorale Aufgabe bezeichnen. Aber er tritt in immer größerer Beschleunigung zurück hinter der Wirklichkeit, die wir heute unter diesem Stichwort sehen müssen. Diese aber ist die weltanschaulich pluralistische Gesellschaft; die Gesellschaft, die als ganze und solche weder verfassungsrechtlich noch gesellschaftlich noch kulturell einfach und allein christlich geprägt ist, in der katholische und evangelische Christen, so sie es wirklich sind, gemeinsam als Brüder in der Diaspora leben. Diese Diaspora, in der es den achristlichen liberalistischen Humanismus, militanten Atheismus, die Atrophie des Religiösen überhaupt gibt, ist gemeint, wenn hier von Diaspora die Rede ist, die gemeinsame Diaspora aller Christen, der gegenüber die christlich-konfessionellen Unterschiede nicht einfach unerheblich, aber geschichtlich sekundär werden. Diese Diaspora muss heute dem Christen als die gottverfügte Situation seines Christentums erscheinen. Sie ist die Situation seines personal freien Glaubens, der durch keine gesellschaftliche Sitte ersetzt werden kann, die Situation der freien Entscheidung, der persönlichen Verantwortung, des eigenen Bekenntnisses, die den alten Satz wahr machen hilft, dass Christen nicht geboren werden, sondern werden; sie ist die Situation, die in einem heilsgeschichtlichen „Muss“ kommen musste, wenn das Christentum von seiner eigenen theologischen Zukunftserwartung her immer als das angefochtene Bekenntnis existieren wird, und wenn die eine Geschichte aller gar keine homogenen kulturellen Räume, die nur „von außen“ angefochten werden, zulässt. Wir Christen nehmen diese Situation an. Wir wollen zwar wie alle anderen Staatsbürger das Recht haben, an der Welt der Öffentlichkeit mitzuwirken; wir fordern zwar gewiss auch, dass dort, wo bei allem Pluralismus der Gesellschaft das eine öffentliche Leben eine und dieselbe Gestaltung gar nicht vermeidbar sein lässt, die christliche Geschichte unseres Volkes und die Tatsache, dass die große Mehrheit des Volkes eben doch christlich sein will, respektiert werden und nicht im Namen der Freiheit und Toleranz faktisch der den Ausschlag gibt, der am radikalsten das Christentum verneint. Aber wir Christen haben kein Interesse an christlichen Fassaden, hinter denen kein wahres Christentum lebt und die dieses nur kompromittieren und unglaubwürdig machen. Es scheint uns aber auch nicht fair, dass Nichtchristen insgeheim vom alten Erbe christlicher Kultur leben und es öffentlich glauben bekämpfen zu müssen.
Aufgabe in der Zukunft
Wir Christen sind nicht die, die meinen, ihr Glaube und ihre Konzeption der Welt könne nur werbend sein, wenn unser Glaube die besondere Protektion des Staates genieße. Deswegen aber brauchen wir dennoch nicht der Meinung zu sein, das öffentliche Leben müsse in einem rationalistischen Formalismus konstruiert werden aus ein paar abstrakten Prinzipien von Freiheit und Gleichheit und müsse alles christlich Geschichtlich-Gewordene in der Gestalt dieses öffentlichen Lebens ausmerzen. Wir nehmen die Situation der pluralistischen Gesellschaft, der christlichen Diaspora an; aber eben zu ihr gehören wir selber, unsere eigenen Massen und das Erbe einer mehr als tausendjährigen Tradition, die nicht nur Ballast, sondern auch echten Reichtum und Aufgabe in der Zukunft bedeutet. Und wenn wir ehrlich diese Situation annehmen, also, uns selbst gegenüber kritisch, uns selber darauf aufmerksam machen, dass wir den anderen auch dort nach unseren eigenen Prinzipien den gebührenden Raum der Freiheit einzuräumen haben, wo sie zu widerchristlichen Entscheidungen verwendet wird, dann fügen wir anderen gegenüber ehrlich hinzu, dass die formalen Spielregeln der Demokratie allein nicht genügen, um ein gemeinsames Leben aller in Friede und Freiheit zu ermöglichen, dass eine Gesellschaft und ein Staat auf einen gemeinsamen materialen Fundus von letzten sittlichen Überzeugungen nicht verzichten können, mag es Naturrecht oder wie immer geheißen werden, mag er auch selbst noch einen Index geschichtlich bedingter Konkretheit haben, und dass dieser Fundus, wo nötig, auch mit der Macht und Gewalt der Gesellschaft und des Staates verteidigt werden darf und muss. Weil die gleichzeitige Realisation dieser vielen Prinzipien nicht einfach die Deduktion des heute Richtigen ein für allemal erlaubt, darum lassen wir gern mit uns reden, wollen den fairen Dialog mit allen, sind auch zu anständigen Kompromissen bereit, fürchten es aber auch nicht, wenn wir als Mucker, Engstirnige, Reaktionäre, Intolerante verschrien werden, bloß weil wir der Meinung sind, dass christliche Vorstellungen auch im öffentlichen Leben ihren Einfluss geltend machen dürfen, als ob nicht jener falsche Liberalismus, der meint, das öffentliche Leben könne und müsse weltanschaulich sterilisiert werden und Bekenntnis und Gesinnung dürfe sich nur in Kirchen oder in den Klubs der Humanistischen Union zu Wort melden, auch eine Weltanschauung, und zwar eine schlechte sei. Weil jede Inanspruchnahme der Freiheit durch den einen eine verändernde Einengung des Freiheitsraumes des anderen ist, schon im Voraus zu dessen Zustimmung, kann es für keinen eine absolute Weite seines eigenen Freiheitsraumes geben, und darum ist nicht jede Gewalt schon gegen das Wesen der Freiheit, wenn diese Gewalt eine sinnvolle Verteilung des einen Freiheitsraumes aller garantiert und aufrechterhält. Wir Christen begehen – leider selbstverständlich – auch unsere Sünden. Und so ist es schwer zu sagen, ob die Sünde reaktionären Festhaltens an überholten christlichen Gestaltungen im öffentlichen Leben oder die Feigheit, für echte und neue einzutreten, bei uns verbreiteter ist. Vielleicht ist es sogar so, dass beide Sünden oft von denselben Christen, auch in Amt und Würden, gleichzeitig begangen werden. Wie dem auch sei: wir Christen wollen die Situation unserer Diaspora in einer pluralistischen Gesellschaft unbefangen annehmen und uns dabei hüten, in das Getto einer reaktionären Defensive des bloß Überlieferten oder in die bequeme Feigheit des Verzichtes auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens zu flüchten.
Gefunden in: Rechenschaft des Glaubens, Karl-Rahner-Lesebuch, Freiburg 1979, S. 416-418