Ist Google Gott?
Was ist der Unterschied zwischen Google und Gott? Oder Facebook und Gott? Googelt Gott? Sind diese Internet-Riesen – die ich nur stellvertretend für alle anderen nenne, von Geheimdiensten wie der amerikanische NSA ganz zu schweigen – nicht genau das, was im Psalm 139 gesagt wird:
Von allen Seiten umgibst du mich, kennst alle meine Wege. (V. 5)
Wir gehen auf das Zeitalter der sog. „intelligenten Maschinen“ zu. Internet 4.0 (wir sind die Generation des permanenten Updatens), Künstliche Intelligenz. Wenn wir fahren, lassen wir uns vom GPS leiten. Unsere Handys sind stets in Kontakt mit den Satelliten im All. Man misst, wo ich fahre, wie ich fahre, wie lange ich fahre. Ich bekomme bald Nachrichten, dass mein Kühlschrank diese und jene Ware braucht: Butter, Käse und Eier. Mein Vorratsschrank benötigt Mehl und die Heizung springt an, sobald ich mich auf 25 km meiner Wohnung nähere. Meine Waschmaschine bestellt selbstständig bei Amazon das Waschmittel nach. Mein Herd rechnet mir mein optimales Menü aus, das bei Rewe geordert wird. Rewe wiederum schickt eine Drohne, um mir die Ware vor die Haustür zu stellen. Mein Handy hilft mir bei meiner Freizeit: heute ist walken dran, morgen joggen. Die Daten meines Kreislaufs werden über meine Uhr am Handgelenk meiner Krankenversicherung gemeldet, die mir demnächst einen neuen Tarif vorschlägt. Mein Klo misst die Werte meines Urins und sendet sie meinem Hausarzt – der Prototyp für diese Seite meines Lebens ist in Japan entwickelt worden.
Unsterblich, allgegenwärtig
Roboter schreiben selbstständig Kommentare in den sog. „sozialen Medien“ und andere Roboter pflegen unsere Alten. Rechenmaschinen lernen, als Teddy oder Welpe aufgemacht, das Gesicht von Dementen zu deuten und reagieren auf die Freude im Gesicht. Leitsysteme lotsen durch Innenstädte und die günstigsten Bahnverbindungen errechnet mir ein kleines Programm auf meinem Handy, das zugleich Vorschläge macht, wohin ich in Urlaub fahren könnte. Basis sind meine bisherigen Reisen, meine Gesundheitsdaten und die Flug- und Hotelpreise. Außerdem kann ich mir ausrechnen lassen, welche Partei mir am besten entspricht und ich konsequenterweise wählen sollte. Basis sind hier die Online-Nachrichten, die ich lese, und die Bücher, die ich bestelle. Facebook sucht derweil das Netz nach Menschen ab, die mit mir eingeschult worden sind und schlägt mir „Freunde“ vor. Timeline – Zeitlinie, besser: deine Biografie – heißt das Programm, das die wichtigsten Daten und Weichenstellungen meines Lebens gespeichert hat mitsamt den Geburtstagen derer, die mir im Leben begegnet sind. Amazon schlägt mir Filme, Bücher und Gewürze vor, denn keine Suchanfrage, geschweige denn Bestellung, bleibt verborgen oder geht verloren. Ganz genau, wie der Psalm notiert:
Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen. (V. 7-10)
Die Frage ist nicht, ob Gott googelt. Die Frage ist: Ist Google Gott? Antwort: Ja. Das Netz ist ein Gott: allgegenwärtig und allwissend und unsterblich. Es kennt alle Informationen, alle Seiten, die ich besucht, alle Suchanfragen, die ich gestellt habe, und alle Vorlieben, die daraus folgen. Nichts ist verborgen. Nichts geht verloren. Kein noch so kleines Informationsschnipselchen geht je verloren. Mein digitales „Ich“ ist unsterblich. Ich kann nicht entkommen. Das Netz und all die genannten Dienste sind wie Gott. Man muss das in aller Klarheit sagen. Und sie sind es in mehr als einer Hinsicht. Sie besitzen das, was man seit langen Zeiten die Eigenschaften Gottes genannt hat: sie sind unsterblich, allgegenwärtig, allwissend.
Freiwillig, täglich
Wir, die „User“, die „Nutzer“, dienen dieser Gottheit, indem wir uns ihrer bedienen. Wir dienen ihr freiwillig, indem wir uns völlig ausliefern. Wir glauben an sie, wir bewundern sie, wir hoffen auf ihren Segen: Wohlstand, Lebensbewältigung, Gesundheit, Glück. Es ist eine Hingabe, die an Selbstaufgabe grenzt. Das Selbstwertgefühl von Menschen, die Twitter oder Facebook nutzen – oder die einen Youtube-Kanal haben, hängt von den „Likes“ und Followern ab, die sie bekommen und haben. Was geben wir nicht alles preis, was geben wir nicht alles her, was gestehen wir nicht alles! Es ist eine tägliche Beichte: Sieh, mein Gott, so bin ich und so stehe ich vor Dir. Erkenne mich und bewerte mich, rechtfertige mich, vergib mir all meine dunklen Seiten und erhebe mich in dein Licht: Gib mir „Likes“! Unsere Konsumwünsche, unsere Neugier, unsere Pläne, unsere dunklen und unsere hellen Seiten. Wir stellen uns ins Netz – wir geben uns damit preis und sind tief beunruhigt, wenn diese Gottheit nicht antwortet und auf WhatsApps nicht reagiert wird. Netz ist Gott. Und von so einem Gott spricht auch der alte Psalm. Oder? Ich habe einen Freund, der versteht Gott genau auf diese Weise. Er versteht aber den biblischen Gott falsch. Er denkt, Gott ist allwissend, und mir bleibt nichts Persönliches, kein Ausweg, nichts Privates. Alles, wirklich alles, wird gespeichert, nichts wird vergessen, alles ist vor Gott gegenwärtig, und alles wird bewertet und beurteilt. Ein Gericht wird sein. Ein solcher Gott ist allwissend und gnadenlos. Ich aber frage: Ist das wirklich die Art, wie der Gott der Bibel um uns weiß? Sind die Maschinen, die wir bauen, Abbilder der Gottheit, die die biblischen Schriften meinen? Sind die Gottesbilder aus unserer Hand mittels unserer Technik das, was die Menschen der Bibel als „Gott“ bezeichnen? Ist dies die Eigenart Gottes: dass seine Aufmerksamkeit den Informationen über uns gilt, aufgeschrieben in dem „Buch des Lebens“, wie die Offenbarung des Johannes es nennt? Dort als Information gespeichert? Ist das wirklich die Art von Wissen, die Gott von uns wissen will? Daten, Fakten?
Sie ahnen, dass ich darauf aus bin, dies zu verneinen. Wenn Gottes Wissen über uns diese Qualität hätte, dann wäre Gott nicht glaub- oder vertrauenswürdig. Von solch einer Allwissenheit würde ich jedenfalls nichts wissen wollen. Und von solch einem Gott schon gar nicht. Ich würde vielleicht annehmen, dass es ihn gäbe: aber ich würde ihm weder glauben noch vertrauen. Keinen Gedanken würde ich an ihn verschwenden. Mein hauseigenes Antiviren- Programm würde mir melden: „Zugriff von Gott verweigert und geblockt.“ Dieser Gott wäre ja noch unangenehmer als das, was ich übers Netz gesagt habe. Das Netz sammelt ja nur, um Geld zu machen (indem es mir sagt, was das gute Leben sei) – dieser Gott wäre aber ein Aktensammler, um mich fertig zu machen und abzuurteilen. Also:
Herr, du erforschest mich und kennst mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es. Du verstehst meine Gedanken von ferne. (V. 1-2)
Das sind Sätze des Vertrauens. Für den Verfasser des Psalms ist das eine frohe Botschaft.
Aufmerksam, zugewandt
Es ist die Botschaft von der göttlichen Aufmerksamkeit für uns. Diese Aufmerksamkeit ist mehr als das Wissen von Fakten. Dieses „Kennen“ – „du kennst mich“! – ist etwas anderes als das Sammeln von Fakten über mich. Auch wenn diese Fakten und Tatsachen stimmen, auch wenn die Sammlung über mich als Mensch komplett ist, ist das noch lange kein Kennen, wie der wahre Gott mich kennt. Das macht der Psalm ganz deutlich, indem er das Wissen von Tatsachen mit der Weise, wie Gott unser Gott ist, koppelt.
Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht alles wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. (V. 3-5)
Es ist ein besonderes Wissen. Ein schützendes und teilnehmendes Wissen. Keines, das einen feststellt und festhält und teilnahmslos mit Fakten behaftet. Der Psalm koppelt diese Wahrnehmungen meiner Person mit Gottes Güte: Wissen – Verstehen – Sehen – Umgeben – deine Rechte hält mich – in der Dunkelheit ist Licht. Der große Unterschied zu dem, was und wie das Internet etwas weiß, besteht darin, dass Gott nicht nur weiß, sondern versteht. Nicht nur versteht, sondern schützt. Nicht nur schützt, sondern selbst die Dunkelheit hell und licht macht. Wissen – Verstehen – Schützen – hell machen.
Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht. (V. 11-12)
Denn Gott ist weder eine Aktensammlung noch eine Festplatte. Gott ist Geist, der mir begegnet. Der mit mir geht. Der in meine Dunkelheiten geht, um sie zu erleuchten und hell zu machen. Gott ist Geist und begegnet meinem Geist. Und das tröstet, ermutigt, hilft und verändert alles. Bloßes Wissen würde mich zu einem Gegenstand wie alle anderen Gegenstände machen. Zu einem Ding. Zu einem Teil der Sammlung. Verstehen aber bedeutet, dass man ein Stück des Weges mitgeht – ins Unbekannte, Verzweifelte, Fragende, Ungewisse. Das macht jeder gute Seelsorger, jeder gute Freund, das passiert in jeder guten Partnerschaft und Ehe, das ist das höchste, was Menschen einander tun können. Das ist das Göttliche in unserer Welt. Dass man geht und versteht. Leben ist Wanderschaft, das Wissen der Daten geht nicht mit, sondern hemmt Veränderung, stellt im wahrsten Sinne fest. Bei Gott aber bekommen wir es mit einer Aufmerksamkeit zu tun, die uns gilt. Ach, was sage ich: uns? Genauer muss ich reden. Sie gilt dir und mir. Nicht einfach nur „uns“. Jedem und jeder Einzelnen. Es geht nicht um unsere Daten, es geht um dich und mich. Um dich und mich kann es aber nur gehen, wenn einer tatsächlich, mit allem, was er ist, mit mir geht. Ein Stück meines Lebensweges, meiner Traurigkeit, meiner Fragen, meiner Schuld und meiner glücklichen Stunden. Meiner Verlorenheit auch, die im Dunkeln wohnt. Auch dahin geht Gottes Kenntnis und Verstehen – nicht um daraus einen Vorteil zu schlagen oder Gewinn zu machen, sondern um mein Leben zu erhellen. Damit ich frei werde und selber mein Leben führen kann. Das ist Gottes große Sehnsucht, sein Begehren, seine Liebe. Das ist seine urteilsfreie Bereitschaft, uns aufzunehmen, kennenzulernen, auf uns zu warten und dabei zu sein, was und wie unser Weg ist.
Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. (V. 9-10)
Vorbehaltlos angenommen
Selbst wenn ich bis an die Grenzen meiner Existenz ginge – du, Gott, Herr, Jahwe, wärest da. Es gibt kein… Entrinnen? Nein!! Es gibt kein Verlorengehen!! Vorbehaltlos bereit, uns zu verstehen, wie wir uns zeigen. Gottes Aufmerksamkeit für uns kommt aus einem tiefen Interesse und einer tiefen Sehnsucht. Sie ist etwas, was seine ganze Person durchdringt. In seiner Aufmerksamkeit öffnet sich Gott unserem Wesen und unseren Lebenswegen, damit er daran teilnehmen kann. Er hat Absichten mit uns. Er hat uns gewollt als Wesen, die sehen und hören, die sich verpflichtet wissen, dem Leben und den Lebewesen zu dienen, gerade weil sie als Menschen ausgezeichnet sind, sein Ebenbild zu sein. Seine Stellvertreter auf Erden. An uns soll sichtbar werden, was unser Gott ist. Wir kriegen das nicht hin. Aber einer hat das getan, deswegen wird er Gottes Sohn genannt. Wir anderen? Entlaufene Kinder sind wir, verlorene Söhne, die in die Fremde gehen und Gott und den anderen und sich selbst fremd werden, die gleichwohl Gottes Aufmerksamkeit besitzen. Das kostet etwas … – für Gott.
Wäre Gott wie all die vernetzten Rechenmaschinen, wäre er wie Google, Amazon, Facebook, NSA, dann würde das wenig für Gott bedeuten. Er müsste bloß Daten sammeln und verrechnen. Aber Gottes Wissen, seine Kenntnisse bedeuten verstehen. Verstehen bedeutet, von sich abzusehen und ein Opfer zu bringen. Sich Zeit zu nehmen und zu fühlen, wie wir fühlen, zu erleben, wie wir erleben, zweifeln und bitten, wie wir zweifeln und bitten. Dieses Dabei-Sein, dieses Mitgehen, dieses uns Aufsuchen hat einen Namen, ist Mensch geworden: der Mensch Jesus, der deswegen Christus heißt: der Retter und Heiland. Nur er.
Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht. (V. 11-12)
Amen!