Selbstbestimmt
Ich habe es in der Hand.
24/7 Zugang zu allem: Infos, Dienstleistungen, Ware, Kommunikation. Keine Minute muss ungenutzt bleiben. Wenn ich fünf Minuten auf den Bus warte, kann ich mindestens 12 WhatsApp-Nachrichten schreiben. Ich muss mir nicht mal überlegen, was ich schreibe – ist ja kostenlos. Ich lebe gern in einer Welt, in der mein Smartphone jederzeit das Tor zu einer anderen Wirklichkeit öffnet. Sie ist inspirierend, schnell, pulsierend – und geht weit über meinen Verstand. Früher war eben doch nicht alles besser. Dennoch braucht es auch im 21. Jh. ein Bewusstsein für das, was vorgeht, um nicht verloren zu gehen in dieser anderen Welt. Folgende vier Bereiche sind mir besonders wichtig geworden.
Tiefe
Ich brauche keine zehn Sekunden, um herauszufinden, wer sich zur Wahl aufstellen lässt, wie man Kartoffeln optimal verarbeitet oder wie ich mir meinen Wohnzimmertisch selbst bauen kann. Die Zeiten, in denen man ewig in der Bibliothek saß, Bücher wälzte oder Nachbarn um Rat fragte, sind vorbei: Google weiß alles – oder weiß, wo ich es finde. Ich brauche keine Menschen mehr, um mich in dieser Welt zurechtzufinden. Freundschaften pflegen sich nebenher: zwischen Lernen und Abendessen eine Nachricht ‚Hei! Wie geht’s dir? Was machst du so?‘ Ich merke aber auch: Freundschaften, die in die Tiefe gehen sollen, brauchen Zeit. Um jemanden kennenzulernen, muss ich Prioritäten setzen und mich unterbrechen lassen, aufmerken. Mein Gegenüber kann mir nicht alles sofort und in brauchbarer Form liefern: Vertrautheit, Zuwendung, guten Rat, Auskunft, Austausch. Genauso wenig kann ich auf Knopfdruck meine Masken fallen lassen, meinen safe place hinter den Algorithmen aufgeben und mich mit allen Unebenheiten zeigen, die Instagram wegretuschiert, die aber doch zu mir gehören. Denn „ich“ bin mehr als das, was übrigbleibt, wenn man die perfekten Reisen, das perfekte Aussehen, die perfekten Freunde und das jederzeit präsentierbare Leben abzieht: eine echte, verletzliche, nicht ganz perfekte Frau. Ob diese Frau liebenswert ist, erfahre ich erst, wenn ich Beziehungen in der wahren Welt zulasse und die Distanz zwischen mir und anderen aufgebe.
Fokus
Ich brauche Klarheit darüber, wo ich hin möchte mit meinem Leben, mit meinem Tag, in meinen Beziehungen. Welchen Werten möchte ich folgen? Was ist wichtig und was darf ich lassen? Wie viel geht gleichzeitig – und wie lange halte ich das durch? Es kann nicht sein, dass die Worte meines Gegenübers ins Leere gehen, weil das Vibrieren meines Smartphones anzeigt, dass ein anderer etwas von mir möchte. Oder dass die Worte Gottes ungehört bleiben, weil ich im Hinterkopf schon die To-dos des Tages plane. Ich möchte es nicht dem unablässigen Strom der E-Mails überlassen, meine Lebenszeit einzuteilen. Wenn ich mich auf mein Buch konzentriere, sollen mich keine Klicks in kurzweiligere Welten ziehen. Im Moment leben, ohne schon den nächsten Urlaub, die Nachbesprechung und das Kaffeetrinken in zwei Stunden zu planen. Ganz im Augenblick verweilen, die Schönheit um mich wahrnehmen.
Geduld
Ein Wort, das fremd geworden ist. Dank Amazon Prime habe ich morgen alles, was ich heute bestelle. Dank WhatsApp muss ich nicht warten, bis mein Gesprächspartner am anderen Ende der Welt aufwacht oder bis meine Nachbarin Zeit hat, mir zuzuhören. Ich schreibe, wann ich will und der andere antwortet, wenn ihm danach ist. Das ist praktisch, aber wenn die Antwort doch länger auf sich warten lässt, beschleichen mich Ungeduld, Ärger, vielleicht sogar Unsicherheit: Bin ich noch gefragt? Haben meine Fragen und Bedürfnisse Priorität beim anderen? Und was macht es mit mir, wenn nicht? Gott lässt mich oft ausgiebig warten, wenn ich versuche, auf seine leise Stimme zu achten, die mein Leben lenken soll. Wie viel Zeit bin ich gewillt, ihm zuzugestehen, bis ich die Entscheidung selbst in die Hand nehme? Tage? Minuten? Wenn 1000 Jahre vor ihm wie ein Tag sind, und umgekehrt, dann hat er keine Eile. Warten und warten lassen – das kann er. Jesus konnte warten, als läge die Ewigkeit vor ihm, und er konnte handeln ohne Aufschub: stets geistesgegenwärtig. Mir fällt es nicht leicht, in der Gegenwart zu leben. Nostalgie oder Reue über die Vergangenheit, Träumerei oder Sorge um die Zukunft reißen mich schnell aus dem Hier und Jetzt. Aber bei ihm ist Gegenwart.
Heimat
Ein Wort, das inflationär geworden ist. Alles scheint „Zuhause“ zu sein, wo sich mein Handy automatisch mit dem WLAN verbindet. Für die Generation Backpacking verschwindet zunehmend der Unterschied zwischen Natur und Instagram, zwischen Hier und Dort, Fremde und Heimat. Hat man überhaupt gelebt, wenn man nicht in Australien war oder an Silvester am Brandenburger Tor? Wofür lohnt es sich, mich auf den Weg zu machen? Ich möchte Menschen so begegnen, dass etwas Echtes entstehen kann, auch wenn es kein Material für ein Instagram-Foto hergibt. Meine Seele findet Heimat, wo ich zur Ruhe komme und zu mir selbst finde. Heimat ist der Ort, an dem ich weinen kann, vor Menschen, die mich kennen, und die ich liebe. Heimat entsteht in mir und um mich, wenn ich Gastfreundschaft übe, zu mir einlade, in meine ungeschminkte Wirklichkeit.
Ich genieße es, meiner Generation anzugehören – und nicht nur, weil mir nichts anderes übrigbleibt. Ich bin gerne Kind dieser Zeit, die mich prägt, und es liegt in meiner Hand, ob ich sie präge, indem ich mich fokussiere auf das, was zählt, und den Dingen in ihrer Echtheit und Tiefe auf den Grund gehe. Es liegt an mir, in dieser Welt ohne Limits Grenzen zu setzen und sie so zu halten, dass der Raum frei bleibt, an dem ich bei mir selbst zuhause und für andere greifbar bin.