
Von fern her…
Herr, du bist mein Gott, ich will dich rühmen und deinen Namen preisen. Denn du hast wunderbare Pläne verwirklicht, von fern her zuverlässig und sicher. – Jesaja 21,5
„Wo kommst du her?“ – diese gewöhnliche Frage beim Kennenlernen ist für mich nicht mit einem Wort zu beantworten. Ich sag meistens mein Sprüchlein auf, „In Wiesbaden bin ich geboren, aber im Libanon aufgewachsen.“ Meistens muss ich dann noch mehr erzählen … Als ich drei Jahre alt war, zogen wir als Familie nach Anjar, einem Grenzort zu Syrien. Dort, am Hang des Anti-Libanon-Gebirges, verbrachte ich 15 Jahre meines Lebens. Das besondere an Anjar sind seine Bewohner: Nachkommen der Musa-Dagh-Armenier1, die sich während des Völkermordes an den Armeniern unter dem Jungtürkischen Regime auf dem „Moses-Berg“ in der Südwest-Türkei verschanzt und heldenhaft ums Überleben gekämpft hatten. Sie wurden dann von französischen Kriegsschiffen evakuiert und in Ägypten interniert. Erst 1939 wurden sie im Libanon angesiedelt, nachdem Frankreich ihr angestammtes Gebiet der Türkei als Gegenleistung für ihre Neutralität im 2. Weltkrieg zurückgegeben hatte.
Geschichte und Identität
In Anjar gibt es drei Kirchen mit jeweils einer Schule: neben der armenisch-apostolischen Kirche,2 der die meisten angehören, auch eine armenisch-katholische und eine armenisch-evangelische. Mein Alltag spielte sich im evangelischen Bereich ab, und mir war der schlichte, einstündige, wortgeprägte Gottesdienst vertraut. Das wenige, was ich von der apostolischen Kirche mitbekam, wirkte befremdlich: Man betrat die Kirche, bekreuzigte sich, zündete eine Kerze an und ging wieder, während die Messe auf Altarmenisch gesungen wurde, wobei nur wenige in den Sitzreihen verweilten. Beeindruckend fand ich als Kind die Fresken und Gemälde – nicht weil sie kunstvoll gewesen wären, sondern einfach, weil es derlei in unserer Kirche nicht gab. Drei Gemälde haben sich mir eingeprägt und ich sinne heute über sie nach. Das eine zeigt vier prominente Männer: Mesrop Maschtoz und Isaak den Großen, flankiert von Moses von Choren und Gregor von Narek. Mesrop und Isaak hatten zu Beginn des 5. Jh., als Armenien zwischen Rom und Persien aufgeteilt wurde, das armenische Alphabet entwickelt und damit maßgeblich zur Wahrung ihrer kulturellen Identität beigetragen. Ihre Übersetzung der Bibel und altkirchlichen Liturgie bildet noch heute die Grundlage des armenischen Christentums. Moses (auch 5. Jh.) gilt als bedeutendster Geschichtsschreiber und der gelehrte Mönch und Mystiker Gregor (10. Jh.) als einer der Väter der armenischen Liturgie. Das zweite Bild zeigt den Feldherrn Vartan Mamikonian mit einem Geistlichen und einer Kriegerin (s. links). Es erinnert an die Schlacht von Avarayr am 26. Mai 451 n. Chr., in der die Armenier gegen die Übermacht ihrer persischen Herrscher ihren christlichen Glauben verteidigten. Sie unterlagen, aber der ungebrochene Widerstand sicherte ihnen 484 n. Chr. Religionsfreiheit. Das dritte Gemälde schließlich stellt die Rettung der Musa-Dagh-Armenier durch die Franzosen dar. Alle drei Bilder befinden sich im Rücken der betenden Gläubigen, so wie die Geschichte, die „hinter” einem Menschen liegt. Erst beim Verlassen der Kirche fasst man sie ins Auge und wird erinnert: Das sind unsere Ursprünge, das sind unsere Vorbilder, das ist unsere Geschichte mit Gott und Gottes Geschichte mit uns. Das ist unser Weg. Ein Weg der Erleuchtung des Geistes (Bildung) und ein Weg des Leidens von Leib und Seele (Krieg, Martyrium, Genozid, Heimatlosigkeit). Das alles gehört zu unserer Identität! Es beeindruckt mich, wie meine armenischen Geschwister ihre Geschichte in ihre Gotteshäuser und Frömmigkeit integrieren. Die geistliche Erinnerungskultur ist für eine Volksgemeinschaft, die sich lange in der Zerstreuung, und stets im Spannungsfeld zwischen Orient und Abendland behaupten musste, überlebenswichtig. Da bot die Geschichte des Volkes Israel wichtige Orientierung, das ja auch im Exil, in der Fremde hörte: Richte dir Wegzeichen auf, setze dir Steinmale und richte deinen Sinn auf die Straße, auf der du gezogen bist! (Jeremia 31,21).
Versöhnung mit der eigenen Geschichte
Anjar war für mich zunächst Fremde, dann wurde es meine Heimat. Als ich als junge Erwachsene nach Deutschland zurückkehrte, war ich hier in der Fremde. Ich war heimatlos. Nach dem Studium lebten mein Mann und ich für eine kurze Zeit im Libanon, aber Gott rief uns zurück in den Odenwald in die OJC-Kommunität, wo wir uns kennengelernt hatten. Ich musste wieder Abschied nehmen. Das löste in mir viele Fragen aus. Der Rückblick auf mein Gewordensein wurde in den kommenden Jahren von grundlegender Bedeutung für meinen Glaubensweg. Um herauszufinden, wohin ich mit meinem Leben wollte, musste ich herausfinden, wer ich war – und auch, woher ich kam. Mein Ausgangspunkt waren dabei allerdings weder die Germanen, noch ihre Christianisierung
oder Kant und Goethe, sondern meine ganz persönliche Geschichte. Ich erkannte, dass sie eingebunden ist in eine Familiengeschichte, und dass vieles, was meine Eltern, Groß- und Urgroßeltern erlebt hatten, Auswirkungen auf mein Leben hatte und weiterhin hat. Ihre Lebensgeschichten wiederum sind eingebunden in die deutsche Ge-schichte mit den zwei Weltkriegen und dem großen Leid, das damit verbunden war. Meine Identität ist nichts Beliebiges, sie schwebt nicht im freien Raum und kann nicht durchdesignt werden. Sie ist vielmehr eingebettet in eine bestimmte Zeit und in verschiedene Formen der Gemeinschaft. Dadurch ist sie einmalig. Es gibt keine Identität ohne Gemeinschaft, ohne Zugehörigkeit zu etwas, was außerhalb von mir selbst ist.
Beim Blick auf meine Vergangenheit merkte ich, dass das Schwere wie ein Schatten über all dem Guten und Schönen lag, das auch zu meinem Leben gehörte. Wenn ich frei werden wollte zum Weiter-gehen, musste ich erst das Schwere anschauen: Trennung von Orten der Geborgenheit, Abschied von geliebten Menschen, Verlassenheit, Trauer, Unsicherheit und Angst, aber auch Unrecht, das mir widerfahren war. Auf diesem schmerzvollen Weg musste ich stets aufpassen, weder im Idea-lisieren des Schönen, noch im Verurteilen des Schweren steckenzubleiben. Erst indem ich auch das Unheilvolle als Teil von mir annahm, konnte ich es in die Hände Jesu Christi legen, der durch seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung all dies überwunden hat. Ich erlebte, dass er Wunden heilt und Gebundenheit löst. Ich übergab ihm meinen Anspruch nach Genugtuung, ich rief seinen Sieg aus über Angst und Trauer, die mich immer wieder wie Ungeheuer zu verschlingen drohten. So musste mir das Schöne aus meiner Vergangenheit nicht mehr als Rettungsersatz dienen, sondern zur Freude und als Gabe für meinen weiteren Weg. Meine Geschichte war nun Teil meines Glaubens an den lebendigen Gott. Ich war mit ihr versöhnt und erlebte eine Verwandlung meiner Identität, die in der Verbundenheit zu Gott als meinem Vater und dem König der Geschichte ruht.
Im täglichen Mittagsgebet unserer Kommunität beten wir, „Herr, unser Schöpfer, auf der Höhe des Tages kommen wir zu dir. Wir gehören nicht der Arbeit, nicht den Menschen und nicht uns selbst. Wir gehören dir. Unsere Zeit steht in deinen Händen.” Dieses Innehalten im Hier und Jetzt hilft mir, meine Geschichte, Zugehörigkeit und meine Identität immer wieder in Gottes Hand zu legen. Im Buch der Offenbarung stehen acht Verheißungen an die Überwinder. Eine davon lautet: Wer überwindet, dem will ich geben von dem verborgenen Manna und will ihm geben einen weißen Stein; und auf den Stein ist ein neuer Name geschrieben (2,17). Wer sich durch Christus mit der eigenen Geschichte versöhnt, dem wird sich die eigene Identität neu erschließen.
Geschichte und Bekenntnis
Blicken Armenier heute auf ihre Geschichte zurück, kommen sie nicht am Todestal des grausamen Völkermordes vorbei. Viele haben an der verzweifelten Frage, „Wo warst du, Gott?“ ihren Glauben verloren. Den Altar der Völkermord-Gedenkkirche im syrischen Der Zor, die vor drei Jahren durch den Islamischen Staat (IS) zerstört wurde, schmückte ein eindrückliches Gemälde. Es zeigte den Gekreuzigten und eine Menschen-
menge, die sich auf ihn wirft, sich an ihm festhält, wie Zuflucht und Rettung suchend. Darüber befindet sich in Stein gemeißelt der armenische Buchstabe (E), wie über den meisten Altarräumen der armenisch-apostolischen Kirchen. Er steht im Alphabet an siebter, also heiliger Stelle und damit für Gott. Zugleich verkündet er als Seinsverb den heiligen Namen Gottes: „Ich bin (da)“. Gott ist über Geschichte und Tod erhaben, durch Christus aber mitten in unserem Leid gegenwärtig und hat es überwunden.
Meine Verbundenheit mit den Armeniern hat eine kleine Spur im Odenwald hinterlassen: In der Michaelskapelle auf Schloss Reichenberg steht in einem der Kapellenfenster der armenische Wortschriftzug „Ejutjun“, der sich von dem Buchstaben ableitet. Er bedeutet Sein, Wesen, Identität. Gott ist, und er ist heilig. Sein Wesen ist das Leben und er teilt es mit uns. Alles Sein hat seinen Ursprung und seine Vollendung in ihm. Was für ein Zeugnis! Was für eine Hoffnung!