Amos, der Partycrasher
„Es könnte alles so schön sein!“ Dieser Satz wird Jerobeam II., dem König von Israel, öfter durch den Kopf gegangen sein. Wir schreiben das Jahr 750 v. Chr. – eine Zeit der Blüte für ihn und sein Volk. Das Gebiet des Nordreiches, das sich unter seinen Vorgängern durch verlorene Kriege kontinuierlich verkleinert hatte, konnte er wieder zu alter Größe führen. Es zeichnet sich ein Bild von Reichtum und Prachtentfaltung ab – Wohlstand, ja Luxus waren die Kennzeichen dieser Epoche. Politisch stabil, wirtschaftlich erfolgreich – was will man mehr? Israel war wieder wer und man sprach mit Achtung von diesem Volk und seinem König. Es könnte alles so schön sein …
… wenn nicht eines lieben Tages dieser komische Kauz aus dem Südreich Juda aufgetaucht wäre. Ein kirchlicher Amateur, eigentlich Herr von Schafherden und Maulbeerplantagen. Ein waschechter Laie. Ein Außenseiter, ein Partycrasher, wie sie auf einer alternativen Wikipedia-Seite beschrieben sind: „Partycrasher (griech., ach, ist auch egal, wie das auf Griechisch heißt) sind meist Jugendliche, die, um Spaß zu haben, auf Partys von anderen Leuten gehen (nur dann, wenn sie nicht eingeladen sind). Dieses Phänomen tritt immer häufiger auf und wird zu einem ernsten Problem in Partymetropolen.“1 Mit genau solch einem musste sich Jerobeam II. herumschlagen. Der Typ war nicht eingeladen – und genervt hat er, dieser Amos. Einer seiner Aussprüche ist legendär geworden: „Der Löwe brüllt, wer sollte sich nicht fürchten? Gott der HERR redet, wer sollte nicht Prophet werden?“ (Amos 3,8).
Kirche – ein Streichelzoo
Die Zeiten eines Jerobeam und Amos gleichen verblüffend unserer Zeit. Politisch insgesamt stabil – trotz allerlei Wirrnis auf der einen wie der anderen Seite. Wohlstand auf breiter Ebene des Volkes – wiewohl es damals wie heute auch eine beträchtliche Anzahl Wohlstandsverlierer gab. Ein florierendes religiöses Leben – die Heiligtümer waren wenigstens an Festtagen ordentlich besucht und der Kultus öffentlich wohlwollend aufgenommen. Alles fügte sich irgendwie harmonisch ineinander. Und dann kommt dieser Spaßverderber und sieht in allem äußerlichen Glanz die abgrundtiefe Not! Daraus wird zunächst seine soziale Anklage: Bei allem Wohlstand bleiben zu viele auf der Strecke! Auch damals klafft eine erhebliche Schere zwischen Arm und Reich. Dann geht er einen Schritt weiter und nennt die Wurzel des Elends: das Versagen seiner Kirche. Gott war zum Objekt der kultischen Veranstaltungen geworden. Alles war zur inhalts- und wahrheitslosen Folklore verkommen. Und zu einer trügerischen Sicherheit, die den lieben Gott zu einem Schmusekätzchen und die Kirche zu einem Streichelzoo gemacht hat: nett, aber harmlos. Dahinein muss Amos im Auftrag Gottes sprechen. Nicht, dass ihm das leichtgefallen wäre. Sein Name ist Programm: Lastenträger. Er selbst hat gelitten – mit den Menschen mitgelitten –, eben darum scheut er nicht die klaren Worte, die bei aller Deutlichkeit und Härte stets werbend bleiben. Seine Botschaft ist Warnung – aber das letzte Wort hat dennoch die Hoffnung auf eine andere Zukunft.
Gott – kein Schmusekätzchen
In Zeiten der geistlichen Gleichgültigkeit will Gott sich wieder ins Gespräch bringen. Damals wie heute. „Man verliert nicht den Glauben, aber er hört auf, dem Leben Form zu geben, das ist alles“, so schreibt Georges Bernanos.2 Diesem Trend will Gott sich widersetzen. Nicht auf Grund seines unangemessenen Geltungsbedürfnisses, sondern auf Grund unseres menschlichen Lebensbedürfnisses. Denn wo Gott schweigt, endet die Welt. Gott der HERR redet – und er fängt dort an, wo er zu allen Zeiten angefangen hat: in seiner Kirche. Rudolf Bohren beschreibt die Situation in seinem Buch über Eduard Thurneysen und dessen Nachdenken über den Großinquisitor bei Dostojewski so: „(…) eine Kirche, die sich am Menschen und seinen Bedürfnissen orientiert, das ist die Kirche des Großinquisitors, und der Großinquisitor ist der, der die Menschen ‚annimmt‘ und ihnen das gibt, was sie nötig haben. Er hilft ihnen bei der Bewältigung der Lebensprobleme und akzeptiert dabei einen Nicht-Gott als Gott. (…) Wenn ich recht sehe, herrschen heute in Theologie und Kirche weitgehend Anpassungsstrategien. Man versucht, die Religion, das Christentum, dem Menschen von heute mundgerecht zu machen.“3 Klingt nach Amos, nach damals, und ist doch heute. Und damals wie heute bringt das Gott nicht zum Schweigen! Darum braucht es Propheten. Der Gründer der OJC, Horst-Klaus Hofmann, beschrieb das so: „Propheten sind Wächter! Es ist die Aufgabe des Wächters, Alarm zu schlagen! Es liegt dann an den vielen in der Gemeinschaft, den Alarm ernst zu nehmen und schnell zu handeln, um das Leben zu retten!“4 Propheten sind gegenwartsfähig, weil sie die Wirklichkeit des menschlichen Lebens nüchtern sehen und benennen. Und zukunftsfähig, weil sie Hoffnung verkünden und heute schon zeichenhaft leben, was morgen für alle wesentlich sein wird.
Propheten – radikale Kämpfer
„Der glaubende Mensch aber ist wie der mächtige Prophet alter Zeiten bestimmt, für Gott zu kämpfen; nur sind seine Gegner nicht mehr die gottlosen Völker, sondern die gottwidrigen Dämonen.“5 Indem sie für das Leben kämpfen, ringen sie mit den je lebenshindernden geistigen Mächten ihrer Zeit. Dabei sind sie weder Pessimisten – Kirchen- oder Kulturpessimisten – noch Optimisten, die alles verharmlosen, sondern Realisten, die mit Gottes Eingreifen zu Gunsten seiner Menschheit rechnen. Prophetie ist kein Spektakel – nicht der Prophet und sein Auftreten stehen im Mittelpunkt, sondern seine Sorge um die Menschen, die doch eben ein Hinweis auf die Sorge Gottes um den Menschen ist. Es braucht keine Typen mit extravaganten Sonderbegabungen; es braucht stille und klare Seelsorger – und solche, die sich ihrem sündigen Volk nicht in ein frommes Getto entzogen haben. „Der Prophet hat nur ein Interesse, dass Gott selbst zu Worte komme (…). Im Horizont des nahenden Gerichtes können nur Propheten Seelsorger sein.“6 Sie brauchen einen klaren Blick, ohne zu meinen, sie würden alles durchschauen. Ihre Kardinaltugenden heißen Hoffnung und Geduld – aus beiden speist sich christliche Zuversicht. Menschen mit einem brennenden Herzen für Gott und seine Menschheit sowie der Bereitschaft, sich rufen zu lassen und ihren Platz einzunehmen. Propheten zu allen Zeiten sind bescheidene Leute: sie treten ganz hinter ihre Botschaft zurück – und ehrliche Leute: beim Offenbaren von Missständen beginnen sie bei sich selbst und bei ihrer Kirche – und aufmerksame Leute: sie deuten die Zeit, ebenso erschrocken, da sie das Gericht spüren und doch beharrlich für die Gnade werben, wie unerschrocken, da sie auch persönliche Opfer nicht scheuen. Sie sind radikale Leute: Sie leben ihre Botschaft zeichenhaft, indem sie wider die Verharmlosung des Evangeliums mit Gott ernst machen. Das macht sie gefährlich: Sie schwimmen gegen den Mainstream ihrer Zeit. Wer nicht bereit ist, ein Störenfried Gottes zu werden, der taugt weder als Seelsorger noch als Prophet. Man könnte an den Satz Luthers denken: „Nam prophetia, que venit ex Deo, sic venit, ut sit contra omnem sensum et velut impossibile asserat … – in freier Übersetzung: Denn die Prophetie, die aus Gott kommt, kommt so, dass sie wider alle Zustimmung ist und gleichsam Unmögliches behauptet.“7 Und sie sind ernst zu nehmende Leute, denn sie reden im Auftrag Gottes. Sie bleiben hoffnungsvoll, denn sie leben erwartend auf Gottes Zukunft hin. „Es gibt keine christliche Hoffnung ohne die Kraft des langen Atems, des Durchstehens im Hoffen wider alle Vernunft. Es gibt keine Hoffnung ohne die Geschichtstugend Gottes, die Geduld heißt. Gerade an der Tugend der Geduld lässt sich erkennen, dass die Hoffnung kein Willensakt, sondern eine Seinsart ist.“8 Die Fragestellung des Amos „Wer sollte nicht Prophet werden?“ meint, das wegweisende ewige Wort Gottes aktuell in die Zeit hineinzusprechen, es zu vergegenwärtigen. „Es gibt nur eine Aufgabe der Kirche, und die heißt: ringen um neuen Respekt vor Gott.“8 Ich meine, es ist an der Zeit für Amos 2.0 – jetzt und heute sind wir dazu gerufen! Weil allein das Wort des brüllenden Löwen die Menschheit zukunftsfähig macht.
https://www.stupidedia.org/stupi/Partycrasher,
abgerufen am 06.01.2020 ↑
Georges Bernanos, Tagebuch eines Landpfarrers, S. 140 ↑
Rudolf Bohren, Prophetie und Seelsorge: Eduard Thurneysen, S. 106f ↑
Horst-Klaus Hofmann, Es ist fünf Minuten nach Zwölf, Predigt beim Kirchentag 1983 in Hannover ↑
Ernst Lohmeyer, Kritisch-Exegetischer Kommentar über das Neue Testament, Das Evangelium des Markus, S. 191 ↑
Bohren a. a. O., S. 109 ↑
zitiert nach Bohren a.a.O., S. 108 ↑
Paul Schütz, Charisma Hoffnung, Von der Zukunft der Welt, Furche Hamburg 1962 ↑ ↑