Kontrovers

Wie bleiben wir zugewandt?

Wie ist das mit der Wahrheit? Wer hat Recht – jeder auf seine Weise? Gibt es denn keine absolute Wahrheit? In unserer komplexen Gesellschaft, die oft in polarisierende Lager zerfällt, ist es wichtiger denn je, echte, interessierte Gespräche zu führen.

Dieses Salzkorn lädt dazu ein, mutig Brücken zu bauen und in Beziehung zu bleiben – auch wenn das Gegenüber ganz andere Ansichten hat. Es geht nicht darum, wer Recht hat, sondern darum, gehört zu werden.

Entdecke Impulse, die ermutigen, den Dialog zu suchen, die eigene Überzeugung zu vertreten und gleichzeitig offen für andere Perspektiven zu bleiben.

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Editorial

Liebe Freunde

ich mag gute Witze, kann mir aber nur wenige merken. Dieser hat es mir angetan:

Ein Mann kommt zum Rabbi und beschwert sich über seinen Nachbarn. Der Rabbi hört sich die Sache an und sagt: „Du hast Recht.“ Zufrieden geht der Mann nach Hause. Kurz danach kommt der Nachbar und klagt seinerseits über die Ungerechtigkeit, die ihm von dem anderen angetan worden sei. Der Rabbi hört sich die Sache an und sagt: „Du hast Recht.“ Der Nachbar geht zufrieden nach Hause. Die Frau des Rabbi, die alles mitbekommen hat, sagt nun zu ihrem Mann: „Das geht doch nicht. Du kannst doch nicht beiden Recht geben.“ Darauf der Rabbi: „Da hast du auch Recht.“

Auf welch charmante Weise doch dieser Rabbi alle drei „Rechthaber“ unter ein Dach bekommt! Trotzdem - wie ist das mit der Wahrheit? Wer hat Recht - jeder auf seine Weise? Gibt es denn keine absolute Wahrheit?
Wahrheit als mathematische Größe schon - mit der Wahrheit als beweisbare philosophische Größe ist es schwierig. Wie die Schönheit im Auge des Betrachters liegt, so liegt diese Wahrheit im Erleben und Ermessen des Einzelnen. Darum gibt es eben meine und deine Wahrheit.
Ist das alles? In einem Gespräch darüber sagte mir neulich jemand: Das mit der Wahrheit ist eben anders. Die Wahrheit ist keine Position, sie ist eine Person.
Das hilft mir. Eine Person kann ich beobachten, befragen und mir zum Vorbild nehmen. An einer Person kann ich sehen, wie eine Idee sich im Leben bewährt. Die Wahrheit wird gelebte Realität.

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es

In meinem Poesiealbum, das ich noch von der Grundschulzeit habe, steht dieses Zitat von Erich Kästner. Ich mochte es seines Reimes wegen, habe es damals aber nie ganz begriffen.
Heute verstehe ich den Satz so: Über die Wichtigkeit des Zuhörens reden, ist eine Sache. Das auch zu tun, eine andere. Das eine ist, über gute Kommunikationswege Bescheid zu wissen, das andere, sie auch anzuwenden. Jedes Gespräch auf Augenhöhe muss deshalb mit der Prämisse beginnen: Ich unterstelle dem anderen, dass er einen guten Grund hat, warum er so und nicht anders denkt, redet, entscheidet und handelt. Einen guten Grund haben: das anzuerkennen ist schon viel. Ein Gespräch, das mit dieser Annahme geführt wird, fragt den anderen nicht: Wie kannst du nur?, sondern: Was sind deine Erfahrungen, deine Einsichten, deine Gründe?

Dieses Heft will nicht politisch aufklären und schon gar nicht die Guten und die Bösen definieren. Es soll zum souveränen Reden und Handeln beitragen. Unsere komplexe Gesellschaft zerfällt in polarisierende Lager. Das Zusammenleben muss man üben. Das können wir nicht an „die da oben“ delegieren; man wagt und übt es in der Nachbarschaft, in den Netzwerken, am Arbeitsplatz. Wir üben, indem wir um gute Argumente ringen, indem wir Wege suchen, wie wir Schaden abwenden können. Das geht nur gemeinsam und nicht in der Abgrenzung. Der Prozess der Meinungsbildung beginnt da, wo ich den Argumenten des Anderen Raum gebe. Wo ich dem Anderen nicht Dummheit, Verbohrtheit und Unterschicht attestiere, ihn nicht als diskursunfähig stigmatisiere.

Wer wagt‘s denn?

Liebe Freunde, lasst uns um echte, interessierte Gespräche ringen! Dazu gehört zweierlei Mut: für die eigene Überzeugung einzustehen und demütig zu erkennen, dass diese auch ergänzungsbedürftig ist. Doch wie ist das mit der freien Meinungsäußerung?

Das Institut für Demoskopie Allensbach hat zusammen mit dem Medienforschungsinstitut Media Tenor 2024 erforscht, dass die gefühlte Meinungsfreiheit in der deutschen Bevölkerung den tiefsten Stand seit den Fünfzigerjahren erreicht hat. 44 % der Befragten gaben an, dass sie mit freien Meinungsäußerungen vorsichtig sein müssen. Obwohl die Meinungsfreiheit im Grundgesetz verankert ist, empfinden die Menschen, dass sie Maulkörbe verpasst bekommen. Tatsächlich, das kommt uns doch bekannt vor – oder wie leicht nehmen wir noch Begriffe wie heimatverbunden, konservativ oder evangelikal in den Mund, ohne Angst zu haben, dafür in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden? Das gilt gleichermaßen für Worte wie Feminismus, Impfskepsis oder Kapitalismus. Die Verortung scheint immer gleich gegeben.

Also lieber den Rückzug antreten? Nein, denn unser Selbstverständnis als Christen beinhaltet: Resilienz statt ­Gesinnungshaltung. Verbundenheit statt Abwertung. Gerechtigkeit statt Empörung. Deshalb: Keine Angst vor Barrikaden! Keine Angst vor Meinungen – sie sind nicht bedrohlich. Gefährlich wird es dann, wenn hüben und drüben mit einzelnen Worten ganze Ideologien assoziiert und Mauern hochgezogen werden.
Wunderbar hat dies die neue Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau formuliert, die am 26. Januar 2025 in der Lutherkirche in Wiesbaden in ihr neues Amt eingeführt wurde. Christiane Tietz begann ihre Predigt mit den Worten:

Reden Sie nicht über Politik und Religion! Wählen Sie lieber unverfängliche Themen wie das Wetter oder Urlaubspläne! - Diese Empfehlung hört man als Regel für berufliche Kontakte oder vor Familienfesten und Geburtstagsfeiern. Zu groß scheint die Gefahr, dass die Stimmung kippt und es zu Streitereien kommt, wenn der Onkel eine politische Meinung vertritt, die den anderen absurd vorkommt. Oder wenn die Enkelin zum Ausdruck bringt, dass sie vom Glauben der Großeltern nichts hält. Darum haben sich viele Menschen angewöhnt, Religion und Politik dort und auch anderswo gar
nicht erst zum Thema zu machen, sobald es kontrovers zu werden droht.
Diese Zurückhaltung ist manchmal verständlich. Nicht immer hat man die Kraft zur Auseinandersetzung. Und zu streiten passt nicht, falls man jemanden gerade erst kennengelernt hat.
Diese Zurückhaltung kann aber auch gefährlich werden. Gefährlich wird sie für die Politik: Sobald sich Menschen mit anderen Argumenten nicht mehr auseinandersetzen, verhärtet sich die eigene Sicht.
Und die Zurückhaltung schadet der Religion: Sobald innerhalb der Familie oder des Freundeskreises nicht mehr über Religion gesprochen wird, wird sie im persönlichen Alltag bedeutungslos und fremd.

Diese Predigt hätten wir gerne im Ganzen abgedruckt, aber unser Heft war schon in der Schlussphase der Fertigstellung. Daher haben wir uns entschieden, bei den News am Ende des Heftes, wo wir über den Wechsel von Kirchenpräsident Volker Jung zur Kirchenpräsidentin Christiane Tietz berichten, einen QR-Code einzufügen, der zum vollständigen Text führt.

Gottes Regiment

Als Christen wissen wir: Auch wir werden eines Tages gerichtet. Gerichtet auch im Sinne von repariert. Gottes Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit sind die Werkzeuge dafür.
Es ist überliefert, dass Karl Barth am Vorabend seines Todes, als er mit einem Kollegen über den unerfreulichen Zustand der Welt gesprochen hatte, am Ende des Telefonats sagte: „Es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente!“
Gottes Regiment: Das ist die Zuversicht, von der wir als Christen leben. Das begründet die Furchtlosigkeit, mit der wir in die Zukunft sehen.

überBrücken

Dieses Salzkorn ist eine Einladung, den Zustand der Welt anzuschauen. Mutig in Beziehung zu treten und in Beziehung zu bleiben, auch wenn das Gegenüber ganz andere Ansichten hat als ich. Unerträglich andere. Ich muss das nicht ausmerzen. Ich muss mich nicht empört abwenden. Sondern: In den Ring steigen und meine Angst überwinden, missverstanden zu werden. Zeugnis ablegen von der Hoffnung, die in mir lebt. Damit wir voneinander erfahren und verstehen, wie man auch denken kann. Damit wir fragen, wie wir dahin kamen, wo wir jetzt sind. Damit wir unserem Verstand mutige Analysen zumuten, an denen wir dennoch nicht verzweifeln. Indem wir wahr sein lassen, was los ist. Und „lost“ scheint. Scheint: Denn alle Zustände dieser Welt, alle Weltanschauungen und alle Überzeugungen religiöser und politischer Art stoßen an die Grenze der Endlichkeit und Vorläufigkeit. Eine gute Ausführung zu unserer Verortung als Christen in dieser Welt findet sich im Artikel von Preston Sprinkle. Auch an unserem Freundestag an Himmelfahrt wollen wir der Frage weiter nachgehen, wie wir in Zeiten der Polarisierung zueinander finden und beieinander bleiben. Das Motto lautet überBrücken. Jetzt schon herzliche Einladung dazu!
Wer hat nun Recht – der Rabbi, seine Frau oder einer der beiden Streithähne? Ehrlich gesagt: es geht hier nicht ums Rechthaben, sondern ums Gehörtwerden. Der wichtigste Satz darin: Der Nachbar geht zufrieden nach Hause.
Dieser Mann wird seinem Kontrahenten nicht das Haus anzünden. Er wird ihm auch nicht den Gruß über den Gartenzaun verweigern. Die Kontroverse bleibt bestehen – das Gespräch aber wird möglich.
Uns allen wünsche ich Mut, Leidenschaft und Entschlossenheit.


Artikel aus diesem Heft

Meint wer?

Polarisierung durch feindschaftliche Zuschreibungen gefährden den Dialog. Wie können wir Brücken zwischen den Wahrheits-Universen bauen?
Eine Riesige Satellitenschüssel steht im Sonnenaufgang.

Freigestrampelt

Auf einer Fahrradtour in die Westsahara entdeckt Konstantin Mascher die Kraft von Vertrauen, Hilfsbereitschaft und innerer Leere als Fülle.
Eine leere Straße durch die Wüste.

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