
Meint wer?
Zum Thema Populismus und Polarisierung fällt wahrscheinlich jedem sofort eine Situation ein, in der Gespräche schnell konfrontativ wurden, weil es plötzlich nicht mehr um die Sache ging, sondern um grundlegende, tief mit der Identität des Gesprächspartners verwobene Überzeugungen. Selbst bei reflektierten Menschen wird schnell klar, wodurch Polarisierung vermeintlich ausgelöst wird, nämlich durch „die Anderen“.
Als Christ in einem universitären Studium der Sozial- und Geisteswissenschaften habe ich jeden Tag Einblicke in zwei weitgehend voneinander abgekoppelte Gruppen unseres Landes, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Fromme, überwiegend konservative Christen und junge, linke, häufig aktivistische Studenten. Obwohl sich beide Gruppen kaum begegnen, scheinen sie hervorragend zu wissen, wie die jeweils andere Gruppe über einen selbst denkt: nämlich mindestens so ablehnend wie man selbst über die anderen. Diese gegenseitige Zuschreibung von Denken ist deshalb gefährlich, weil sie vermeintlich davon befreit, sich wirklich mit den teilweise ermüdend komplexen Argumentationsketten der anderen auseinanderzusetzen. Gegen die banalen Schlagworte, die man ihnen in den Mund legt, kann man sich selbst auch mit banalen Schlagworten verteidigen. Auch ich rüste mich innerhalb meiner Gruppe oft für Diskussionen, die dann gar nicht stattfinden. Man diskutiert gar nicht mit den anderen, sondern mit einem durch Zuschreibung konstruierten Feindbild.
Erfahren durfte ich so eine Zuschreibung von Positionen ohne vorangegangene Auseinandersetzung während der Hochschultage der Christlichen Hochschulgruppen 2024 in Tübingen und Heidelberg. Von verschiedenen, auch christlichen Organisationen wurden Redner und Veranstalter unserer missionarischen Aktion mit der politischen Rechten und aggressiven Missionierungsversuchen in Verbindung gebracht. In einem der Statements in Heidelberg wurde sogar erwähnt, man wolle die persönlichen Freundschaften zwischen den Hochschulgruppen nicht gefährden. Wären diese Freundschaften aber im Voraus genutzt worden, um eigenes Denken mit den realen Positionen der anderen abzugleichen, man hätte manchen Streit nicht mit solch zerstörerischer Härte führen müssen.
Gleichzeitig erlebe ich immer wieder genauso negative Zuschreibungen für „die Liberalen“ in meinem christlichen Umfeld. Mit Gendersprache beispielsweise setzt man sich nicht als in ihrer Wirksamkeit und Relevanz zu diskutierender Idee auseinander, sondern man schimpft über „Gendergaga“ und spricht allen, die sie befürworten, eine lautere Intention ab.
An mich selbst stelle ich den Anspruch, wenigstens den Versuch zu unternehmen, mich in Situationen, in denen Maximalhaltungen aufeinanderprallen, nicht von einer der Seiten ganz vereinnahmen zu lassen. Aber das fällt mir schwer, wenn meine Freunde und ich selbst mit einer eigentlich moderaten Haltung plötzlich in eine Situation kommen, in der wir nicht mehr unsere Meinung verteidigen, sondern uns gegen das wehren, wovon jemand meint, es wäre unsere Meinung. Denn in diesem Fall ist die produktive, die eigenen Überzeugungen schärfende Diskussion beendet. An ihre Stelle tritt ein Kampf gegen das Gegenüber, dessen bloße Existenz meine Gruppe und mich substanziell gefährdet.
Diese Gegenüberstellung von Feinden muss inhaltlich irgendwie gerechtfertigt werden. Häufig erfährt die eigene Rechtfertigung keine Korrektur mehr von außen. Tatsachen, die bisher allgemein akzeptiert und Gegenstand eines konfliktiven, aber im Letzten produktiven Austauschs waren, werden auf einmal gruppenspezifisch. Die Gruppen konstruieren ihre eigenen Wahrheitsuniversen und ziehen sich dort hinein zurück. Die Distanz zwischen den Gruppen tritt uns als Tatsache gegenüber, und wir finden keine gemeinsame Ebene mehr, auf der wir uns noch einigen könnten.
Das Auseinanderdriften der Universen erlebe ich leider auch unter Christen. Besonders während der Pandemie haben sich einige Menschen, die mir große Vorbilder waren, an Orte zurückgezogen, die mit meiner täglichen Wirklichkeit und den Methoden meiner Wissensgewinnung kaum noch etwas zu tun haben. Die Medien, die die einen konsumieren, sind für die anderen wahlweise Geschwurbel oder Mainstream- bzw. Lügenpresse. Vorsichtige Stimmen, die das Gemeinsame suchen, werden unter dem Lärm der Maximalpositionen zerrieben. Wir umgeben uns mit anderen Menschen als vorher und finden im Gespräch meistens schon nach wenigen Sätzen kein Fundament mehr, auf dem es sich zu streiten lohnt.
Dass wir uns um die Wahrheit des Evangeliums versammeln können, ist oft keine große Hilfe. Zu wenig konkret-verbindliche Überzeugungen kann man daraus ableiten. Wenn jemand göttliche Eingebung oder verworrene theologische Ableitungen als Grund für seine situative Überzeugung verwendet, werde ich eher skeptisch. Hier liegt die große Gefahr für Gemeinschaften, durch die Teilung in Universen die nötige Einheit zu verlieren. Wenn das schon bei uns Christen so ist, welche Entwicklungen stehen uns dann in einem ungleich heterogeneren Land ins Haus? Wo die Uneinigkeit persönliche Beziehungen zerstört, öffnet sich das Einfallstor für Populisten aller Couleur, die von der Angst vor den anderen (Zuwanderer, Klimakleber, Konservative, Abtreibungsgegner, etc.) politisch profitieren.
Wenn wir uns lösungsorientiert mit dem Thema der Polarisierung und ihren Treibern auseinandersetzen wollen, müssen wir uns mit Möglichkeiten beschäftigen, Brücken zwischen den Universen zu bauen. Konstrukte miteinander zu verbinden, die vor allem in Abgrenzung zueinander entstanden sind, ist ein kompliziertes Vorhaben. Für mich sind aber die Ansätze auf ganz persönlicher Ebene schon sehr interessant. Wie bleibe ich im Gespräch, wenn eine Diskussion in ein bodenloses Loch der Uneinigkeit, Angst und boshafter Zuschreibungen fällt? Worum geht es Menschen aus dem anderen Universum eigentlich? Wie kann ich ihre Perspektive einnehmen, und einen Blick hinter die Brandmauer werfen, hinter der sie ihre Motive verstecken? An der Uni finde ich immer wieder Oasen des Diskurses, in denen genau das gelingt. In den Seminaren begegne ich Menschen, deren Grundannahmen über die Welt, deren tiefste Wahrheitsüberzeugungen ich nicht teile. Aber weil wir gezwungen sind, uns unter streng von den Seminarleitern durchgesetzten akademischen Regeln, auf allgemein akzeptierter inhaltlicher Basis auszutauschen, kommen wir um die Begegnung nicht herum. Noch nie habe ich Christen und Feminist*innen so zivilisiert über das Patriarchat diskutieren sehen. Oft kocht es in uns, zusammenstoßende Universen erzeugen Hitze. Aber auf die Idee, uns aus der Situation zurückzuziehen, oder dem anderen polemisch den Verstand abzusprechen, käme natürlich keiner. Viel zu wichtig ist der Austausch um seiner selbst willen, als dass man sich mit der moralischen Zurechtweisung des Gegenübers („Sowas kann man doch nicht sagen!“) zufriedengeben könnte.
Die große Herausforderung beim Ruf nach einer besseren Gesprächskultur ist wahrscheinlich, den Spagat zwischen eigener inhaltlicher Klarheit und Offenheit für das andere zu schaffen. Damit muss ich bei mir anfangen. Gleichzeitig will ich inhaltlich nicht in die relativistische Gleichgültigkeit abdriften. Neben dem Framing der anderen als böse gibt es auch die Gefahr, sich bequem einfach nicht mehr zu positionieren, alles irgendwie okay zu finden. Den Streit um der Sache willen, auch gerne zwischen den jeweiligen Maximalpositionen, halte ich für das Mittel gegen Polarisierung schlechthin, denn er bietet die Chance zur Einigung. Wenn wir Ideen entwickeln können, wie diese Art des Streites gestärkt werden kann, dann haben wir es geschafft.