Grautvornix

Angst verleiht Flügel

Grautvornix

„Ganz Gallien ist von den Römern besetzt … Ganz Gallien? Nein! …“ So beginnen alle Abenteuer der furchtlosen Gallier. Bereits bei diesen Worten wissen wir schon, dass am Ende alles gut ausgehen wird. Trotzdem fesseln uns die Geschichten mit dem kleinen tapferen Krieger und seinem dicksten Freund immer wieder aufs Neue. Auch bei dem neunten Band der Erfolgsreihe „Asterix und die Normannen“ von René Goscinny mit Zeichnungen von Albert Uderzo (auf Deutsch erstmals 1971 im Ehapa-Verlag erschienen) finden sich viele bekannte Motive wieder.

In diesem Teil erhalten unsere Helden Asterix und Obelix von Majestix den Auftrag, seinen vorlauten Neffen Grautvornix vom verweichlichten Stadtkind zu einem echten gallischen Mann zu machen. Zeitgleich landen die Normannen in Gallien. Sie kennen keine Angst, aber motiviert durch den Irrglauben, Angst würde Flügel verleihen, wollen sie unbedingt das Fürchten lernen. Grautvornix flieht, wird jedoch auf dem Weg nach Hause von den Eindringlingen entführt, damit sie von ihm Angsthaben lernen können. Natürlich kann der schmächtige Junge keinen der Wikinger erschrecken, weshalb unsere zwei gallischen Krieger zur Hilfe eilen müssen. Sie fallen in das normannische Lager ein und erfahren dort von deren eigentlichem Anliegen: Angst zu bekommen, um fliegen zu können! Sie einigen sich darauf, Asterix als Geisel im Lager zu behalten, während Obelix loszieht, um Hilfe zu holen. Und er sucht ausgerechnet den Barden Troubadix auf!?!

Dem Autor gelingt es hier, den Charakter des Troubadix, der in anderen Bänden häufig lediglich als Randfigur auftritt, auszubauen und ihm eine spannende und tragende Rolle zuteilwerden zu lassen. Ebenso plastisch ist Grautvornix gestaltet. Er ist der Angelpunkt des Plots und besticht durch seine Abweichung vom gewohnten Gallier und die packende Entwicklung, die er persönlich durchläuft – deren Beschreibung aber meiner Meinung nach leider etwas zu knapp ausfällt.

Das missverstandene Sprichwort „Angst verleiht Flügel“ ist als Anstoß der Handlung zwar nicht wirklich nachvollziehbar, doch die Normannen geben für Asterix durchaus einen Gegenspieler auf Augenhöhe ab und fügen sich trotz oder gerade wegen ihrer klischeehaften Darstellung nahtlos ins Gesamtbild ein.

Unverkennbar sind auch in diesem Band Goscinnys humoristische Sprachspielereien, wie beispielsweise die Verballhornung antiker Namen (sowohl auf gallischer Seite wie Rohrpostix, der Postbote, oder die Ironie in Grautvornix´ Namen, als auch auf normannischer, wie etwa Maulaf, Telegraf, Klammeraf, Dauerschlaf usw.). Davon abgesehen fallen dem Leser immer wieder Situationen der Moderne in einem amüsanten gallischen Kontext ins Auge, wie etwa antiker Versandhandel, Sportwagen oder Beatmusik, die einen abwechslungsreichen Gegensatz zu historischen Redewendungen bieten. Mit alledem erzeugt der Autor Witz bis zum letzten Bild.

Mit seinen Zeichnungen hat Uderzo die überraschend vielschichtige Handlung in farbenfrohe, detailverliebte und sogleich ausdrucksstarke Bilder verpackt. Er transportiert die Grundaussage des Textes hervorragend, trotz des herausfordernden Kontrasts zwischen den sorglosen Galliern und dem eher bedrückenden Hauptthema der Angst.
Alles in allem ist dieser Comic absolut lesenswert. Hier kommen Spannung, Witz und liebevolle Zeichnungen zusammen, sorgen für eine erfüllte Leseerfahrung und lehren den Leser eine gesunde Interaktion mit seinen Gefühlen. Beleuchtet werden extreme Gegensätze wie absoluter Angsthase gegen eiskalte Normannen. Beide leben in einem Ungleichgewicht aus Angst und Mut, fehlender Überwindung und Überheblichkeit. Ohne Angst kann man keinen Mut zum Überwinden aufbringen!

Ein Comicheftchen bewahrt mich nicht vor der Konfrontation mit meinen Gefühlen, aber ich habe die Möglichkeit, mich in die Gefahrensituation eines anderen zu begeben und daran zu wachsen oder daraus zu lernen. Obwohl ich weiß, dass am Schluss auf Asterix immer ein Happy End mit Bankett und Wildschweinbraten wartet, fühle ich trotzdem mit den Charakteren mit und erfahre auf unterhaltsame Weise, wie auch ich tapfer sein kann – ganz ohne Zaubertrank.

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