Mitten im Dunkel
Die aktuelle Krise scheint immer die schwerste. Das ist verständlich, denn sie haben wir zu meistern. Da ist es hilfreich, zu schauen, wie andere Generationen in anderen, oft unvergleichlich schwierigeren Umständen Mut, Zuversicht und Kraft für ihren Alltag fanden bei dem, der diese Welt und unser aller Leben in Händen hält. Wie etwa vor bald 70 Jahren, als der Theologe Helmut Thielicke im vom Krieg zerstörten Deutschland seine Gemeinde und seine Kirche neu lehrte zu beten. Auch wenn sich die Zeiten ändern: Gott ist gestern, heute und morgen derselbe: Unser Vater.
Der Mensch geht durch den dunklen, nächtlichen Wald des Lebens. Um ihn herum lauern Gespenster und beunruhigen ihn erregende Geräusche. Es gibt so viele Gefahren in diesem dunklen Wald. Der heutige Mensch hat für die Witterung dieser Gefahren das Wort „Lebensangst“ erfunden. Er gäbe etwas darum, wenn einer da wäre, der ihn begleitete, ihm die Hand auf die Schulter legte und sagte: „Sei ruhig, ich bin bei dir! Ich kenne die Schluchten, die gefährlichen Abhänge, die räuberischen Höhlen. Ich bringe dich sicher hindurch. Solange ich bei dir bin, kann dir niemand etwas tun.“
Aber nun weiß der Mensch – oder glaubt es wenigstens zu wissen –, dass es diesen Jemand gar nicht gibt. Darum beginnt er laut vor sich hin zu reden, so wie das Kinder tun, wenn sie allein die finstere Kellertreppe hinunter müssen, damit sie sich am Klang der eigenen Stimme beruhigen.
Seht, und nun lehrt uns Jesus Christus allem Augenschein dieser Lebenslage zum Trotz, dass wir wirklich sagen dürfen: „Unser Vater!“, und dass da eine Stimme ist, die uns wirklich und wahrhaftig antwortet.
Jedoch, wenn ich unsere Stimme und die antwortende Stimme des Vaters so nacheinander nenne, habe ich eigentlich das Verhältnis umgekehrt, denn die Stimme des Vaters ist ja viel eher da als die unsrige. Es ist ähnlich wie in den Samuel-Geschichten des Alten Testamentes: Ich höre eine Stimme, die meinen Namen ruft. Und nun kann ich nur noch sagen: Hier bin ich, hier hast du mich! Nun darf ich mit dem, der da zuerst einmal meinen Namen gerufen hat, sprechen wie das Kind mit seinem Vater, darf ihm von allen großen und kleinen Dingen erzählen, die mich bewegen.
… allein
Und nun frage ich euch: Wer von uns allen dürfte auch nur auf die Idee kommen, in diesem Walde unseres Lebens – gerade in jener gespenstischen Schlucht, die wir alle in diesen Monaten durchschreiten – einen Vater zu vermuten? Sieht die Welt nicht so entsetzlich „unväterlich“ aus? Vielleicht hat die Menschheit in ihren Kinderstadien einmal von ewigen, seligen Göttern geträumt, die den Olymp mit homerischem Gelächter erfüllen und den Nektar der Unsterblichkeit schlürfen. Dieser Traum von der Wirklichkeit ist aber bald anders geworden und einem härteren Bild gewichen: Je erwachsener und wissender die Menschen wurden, je mehr sie das Leben kennenlernten, umso mehr wurden sie dessen inne, wie gnadenlos die Welt ist, wie vaterlos, wie schrecklich verwaist. Die glücklichen Zeiten sind wie kleine Inseln in einem Ozean des Blutes und der Tränen. Die Weltgeschichte ist im Großen und Ganzen eben doch eine Geschichte der Kriege und von den Spuren der apokalyptischen Reiter gezeichnet. Es ist die Geschichte einer Menschheit ohne Vater – so scheint es. Nein, wir können nicht sagen „unser Vater!“ Wir können es wirklich nicht. Nur unter einer Bedingung, die allerdings einem Wunder gleichkäme: wenn nämlich der Vater, ehe wir den Mund auftun, zuerst zu uns gesprochen hätte; wenn er sich uns glaubwürdig bezeugt hätte und wir also die Garantie besäßen, dass er tatsächlich doch in dem dunklen Walde wäre, und dass wir bei unserem Ruf „Vater, Vater“ nicht den Illusionen unserer eigenen Sehnsucht zum Opfer gefallen wären. Nun sehen wir plötzlich: Es ist geradezu von schicksalhafter Bedeutung, dass Jesus Christus uns selber das Vaterunser beten lehrt. Er ist der unsichtbare Hintergrund jeder einzelnen Bitte. Denn in ihm ist ja nun dieses Wunder geschehen und erfüllt: dass der Vater gesprochen hat und dass er uns mitten in dem dunklen Wald begegnet. So und nicht anders sieht die Bibel die Erscheinung Jesu. Die prophetische Vision sieht sie auf dem dunklen Hintergrund der Nacht: Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker. Es ist eine Welt der Unbarmherzigkeit, der Verfolgung, der Einsamkeit, der Angst und der unseligen Gottesferne. Nicht etwa deshalb, weil Gott die Welt so gemacht hätte, sondern weil mitten durch sie hindurch ein Bruch geht und das Schuldverhängnis schwer auf ihr lastet. Es herrscht eine Nacht über der Welt, die keine Hoffnung mehr zu gebären scheint.
… und doch nicht allein
Aber nun wird uns ganz einfach die Nachricht gebracht, es wird uns an der Tatsache „Jesus“ leibhaftig demonstriert, dass es diese Hoffnung in der Nacht wunderbarer- und unbegreiflicherweise eben doch gibt und dass ein väterliches Herz für uns schlägt. Alles, was dieser Jesus sagt und tut, ist ein Abglanz dieses Herzens. In jedem seiner Worte steckt ein brüderliches Gespräch:Ihr, meine Menschenbrüder, lebt in einer Welt der Wunden, der Krankheiten und Kriege, und ich höre, wie ihr hadert mit eurem Vater und meinem Vater und sprecht: Wie kannst du das alles zulassen? Wie kannst du den Krebs zulassen, die Multiple Sklerose und die endlosen Reihen der Gräber! Hast du nicht selber die Blüte gemacht – warum knickst du sie? Wie solltest du unser Vater sein! Aber alles, was euch quält und zur Anklage wird, geht meinem Vater und eurem Vater nahe. Eure Schmerzen sind seine Schmerzen, stände ich sonst unter euch? Er schickt mich ja mitten in eure Schmerzen: Jede Wunde, auf die ich meine heilenden Hände lege, hat erst tausendmal in mir selbst gebrannt. Jeder Dämon, den ich austreibe, hat mich selber angegrinst. Und jedes Mal bin ich den Tod, den ich austreibe, selber gestorben und habe meinen eigenen Leib zerreißen und in die Erde betten lassen. Wer unter euch leidet denn, und ich hätte nicht mitgelitten? Wer von euch muss sterben, und ich wäre nicht mitgestorben? Begreift ihr das? Wer mich sieht, der sieht den Vater, und wer mich mit euch leiden sieht, der sieht das Leiden, das Mitleiden des Vaters. Aber warum lässt der Vater es überhaupt zu, wenn er selber mit darunter leidet? Warum stellt er dem allem nicht sein göttliches „Nein“ und „Halt“ entgegen? Von einem Vater verlangen wir doch, dass er nicht nur väterlich fühlt, sondern vor allem, dass er väterlich handelt. Warum lässt er uns immer nur warten auf sein Reich, in dem angeblich kein Leid mehr sein wird und kein Geschrei, noch der Tod herrschen wird? Warum stoppt er nicht das Leid und das furchtbare Geschrei in der Welt, auf allen Kontinenten und auf allen Meeren?
Zeichen am Himmel
Die Mächte der Schuld, des Leids und des Todes werden in der Heiligen Schrift als Feindmächte aufgefasst. Gott hat sie nicht gewollt, sie sind als Unordnung und Unnatur in den Schöpfungsplan Gottes eingebrochen. Sie sind die dunkle Gefolgschaft der Urschuld, unserer eigenen Schuld. Krankheit und Leiden sind Zeichen des Risses, der durch die Schöpfung geht. Und dieses Zeichen des Risses und der Zerstörung lässt Gott über der Welt stehen. Und so wahr es ist, dass der Regenbogen über der Welt steht als Zeichen, dass Gott die Welt niemals wieder in der Sintflut ertränken, sondern ihr seine Geduld erhalten will, so wahr ist es auch, dass es unterhalb jenes Bogens den Fluchbogen über der Welt gibt – als ein mahnendes Kainszeichen an der Stirn unserer brudermörderischen Welt.
Aber es gilt zugleich das ganz Neue, das sich kein Mensch selber sagen kann: Alles, was Gott zulässt, muss zuerst an ihm vorüber und wird von seinem väterlichen Blick geprüft, ob es für uns tauge, und ob es denen, die ihn lieben, nun wirklich zum Besten dienen könne. Und indem es so an ihm vorüber muss, ehe es mich treffen darf, geschieht das mit ihm, was immer passiert, wenn ein Ding oder ein Mensch von den Augen Gottes angesehen wird: es geschieht eine große Verwandlung: Die Leiden werden zu Prüfungen, durch deren Bestehen ich geläutert und entschlackt werden soll wie das Edelmetall des Goldes. Die großen Schreckenszeiten, in denen die Furien menschlicher Grausamkeit, Hybris und Verblendung losgelassen sind, werden zu Zeiten der Heimsuchung und Nachhausesuchung. Der Tod, der „letzte Feind“, wird zum Bringer jener „Lust“, die mich aufs „Absterben und Bei-Christus-Sein“ warten lässt (Phil 1,23). Die dunklen, mörderischen Täler, die ich durchqueren muss, werden zu einem Gelände, auf dem ich den guten Hirten kennenlernen darf. Die Sorgen, die mich in der Unsicherheit meiner Existenz und vor dem dunklen Vorhang der Zukunft quälen, werden zu einem Rohstoff, aus dem ich mein Vertrauen und meinen Glauben bilden lassen soll und darf. So wird das alles verwandelt für den, der sein Kind ist, für den, der in Jesu Leben und Sterben einmal den Vater gesehen hat. Wir wissen alle, welch gewaltiger Trost darin liegt, wenn wir etwas aus den Händen Gottes nehmen können. Das gibt meinem Leben eine neue Richtung. Ich frage nun nicht mehr, was die Menschen dabei dachten, als sie dies und das taten. Ich bin jetzt befreit zu der anderen getrösteten Frage, was sich Gott wohl dabei vorgenommen habe, als er mir das schickte, „wozu“ er das alles tut, und welche Ziele seine Hand damit verfolgt. Ich lerne aufzuschauen, weil Gott ein Gott der Ziele und der großen väterlichen Pläne für mein Leben und das Leben meines Volkes und unserer ganzen Menschheit ist. Es liegt schlechthin alles an der einen Tatsache, dass Jesus Christus uns dieses Gebet lehrt. Er allein ist in seinem Leben und Sterben der Garant dafür, dass es einen Vater gibt, und dass Gott mitten in dieser grausamen, harten und vaterlos scheinenden Welt dennoch am Werk ist und in der Heimlichkeit des Kreuzes sein Reich der Barmherzigkeit baut. Nur in ihm können wir anbetend das Geheimnis fassen, dass die väterliche Stimme wirklich und wahrhaftig im dunklen Wald unseren Namen ruft, und dass wir ihm wie die Kinder antworten dürfen „Abba, lieber Vater“.
Auszug aus: Helmut Thielicke, Das Gebet, das die Welt umspannt. Reden über das Vaterunser aus den Jahren 1944/45. Stuttgart 1953, S. 14-23.