Abgehangen!

So werden wir genießbar

Effizienz, Performance und Management gehören zu den prägenden Paradigmen unserer Kultur, die es zu einer enormen Wirtschaftsleistung gebracht hat. Allein in den letzten fünf Jahrzehnten hat sich die Produktivität verdreifacht, d. h. etwas, für das unsere Eltern noch drei Stunden brauchten, wird heute in einer Stunde hergestellt. Aber wir wollen nicht nur effizient produzieren, sondern auch ruhen und schlafen. Denn auch den Schlaf, lange das letzte Refugium vor der Nützlichkeit, haben wir als einen veritablen Markt erschlossen: Bett, Matratze, Schlafanzug und High Tech sollen ihn „optimieren“, unsere REM-Phasen vertiefen, die „Schlaf-Performance“ erhöhen, wenn schon die effektive Zeit zum Schlafen knapper wird. Erholsam aber geht anders!

Editorial

Ich mach heut NICHTS! NICHTS! NICHTS!
was etwas NUTZT! NUTZT! NUTZT!
Ich mach heute NICHTS!

– Judith Holofernes

Liebe Freunde

jedes Mal, wenn ich die Gelegenheit habe, in meine südafrikanische Heimat zu fliegen, fällt mir am Flughafen als erstes auf: Das Tempo! Es läuft dort alles langsamer als im umtriebigen Deutschland. Die Menschen gehen langsamer, der Pass wird langsamer eingelesen. Die Geschwindigkeit, mit der sich der Stempel von Stempelkissen zum Pass bewegt, ist langsamer und überhaupt wird das Verweilen im Augenblick – auch im Alltag – hingebungsvoll zelebriert.

Das 24-7-Paradigma

Effizienz, Performance und Management gehören zu den prägenden Paradigmen unserer Kultur, die es zu einer enormen Wirtschaftsleistung gebracht hat. Allein in den letzten fünf Jahrzehnten hat sich die Produktivität verdreifacht, d. h. etwas, für das unsere Eltern noch drei Stunden brauchten, wird heute in einer Stunde hergestellt. Aber wir wollen nicht nur effizient produzieren, sondern auch ruhen und schlafen. Denn auch den Schlaf, lange das letzte Refugium vor der Nützlichkeit, haben wir als einen veritablen Markt erschlossen: Bett, Matratze, Schlafanzug und High Tech sollen ihn „optimieren“, unsere REM-Phasen vertiefen, die „Schlaf-Performance“ erhöhen, wenn schon die effektive Zeit zum Schlafen knapper wird. Erholsam aber geht anders!

Wider die Diktatur des Nützlichen

Mit der Ausrede, Müßiggang sei aller Laster Anfang und Trägheit gar eine Todsünde, haben wir die Muße unter Generalverdacht gestellt, aus dem Alltag verbannt, eingezirkelt und professionalisiert: Wir leisten sie uns höchstens, wenn sie was bringt, wie beim Loriotschen Jodeldiplom. Dabei ist es gerade die Muße, die uns aus der Diktatur von Zweck und Nützlichkeit zurückführt an den Urgrund unseres Daseins. Der katholische Philosoph Josef Pieper schreibt: „Muße kann es nur geben, wenn der Mensch eins ist mit sich selbst, wenn er seinem eigentlichen Sein zustimmt.“

Das 24-7-Paradigma, die Verfügbarkeit rund um die Uhr, bindet unsere Aufmerksamkeit an die Reize, die uns umgeben. Wir werden durch tausend Dinge abgelenkt von uns selbst, von dem, was in uns Raum haben und durch uns Gestalt gewinnen möchte. Stille – das ist für viele Menschen förmlich zu einer Bedrohung geworden. Pieper warnt vor dem „dreigesichtigen Dämon“, dem knechtischen Geist, der, indem er Aktivität, Mühsal und Effektivität idealisiert, uns genau das verwehrt, was uns wirklich frommt: Geschehenlassen und Empfangen (S. 130).

NICHTS-NUTZT

Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so bleibt euch das Himmelreich verschlossen, warnt Jesus seine Jünger (Mt 18,3). Das Kind, das selbst- und weltvergessen vor sich hin spielt, wird zum Inbegriff des Geschehenlassens und des Empfangens. Es lässt sich von seiner Umgebung nicht vereinnahmen, sondern inspirieren. Es integriert das Vorgefundene, eignet es sich im Spiel an und wird dabei selbst schöpferisch tätig.

An solchen Menschen hat Gott seine Freude! Denn für sein schöpferisches Werk kann er „nützliche“ Menschen kaum brauchen; er braucht Menschen, die fähig sind, „ihrer Hände Werk“ auch loszulassen und sich im Überlassen zu üben. Die seinem Heiligen Geist Raum geben in ihrem Herzen und Verstand, in ihrem Wirken und Ruhen. Ihn selbst empfangen – das können wir insbesondere dann, wenn wir NICHTS! NICHTS! NICHTS! tun. In jedem heiligen Moment, der aus Sicht dieser Welt nichts NUTZT! NUTZT! NUTZT! Die Liturgie unseres Mittagsgebetes, wenn wir die Welt Welt sein lassen, erinnert uns täglich daran, worauf es ankommt: „Wir gehören nicht der Arbeit, nicht den Menschen und nicht uns selbst. Wir gehören DIR.“ Martin Boller aus dem Jahresteam 2014/15 berichtet, wie ihn diese Worte durch die Mannschaftszeit begleitet haben (S. 136).

Mono-Ton ungehorsam

Fulbert Steffensky schreibt: „Der Mensch unseres Kulturkreises fühlt sich allein als Macher gerechtfertigt und sein Selbstverständnis bricht zusammen, wo er sich nicht mehr als Macher erfahren kann.“ Damit reduziert sich aber die Partitur unseres Lebens zunehmend auf einen Ton, und es ist schon ein ironisches Signal unseres Leibes, wenn sich besagter Ton als fieses Ohrgeräusch in unserer Selbstwahrnehmung festsetzt. Auch und gerade in christlichen Werken und Gemeinden stehen Haupt- und Ehrenamtliche in Gefahr, sich über das Machen zu definieren und bis zum Umfallen zu dienen – als Beweis ihrer Hingabe. In Wahrheit aber offenbart sich darin ein fundamentaler Ungehorsam.

Als Gott zu Abraham sprach: Ziehe vor mir aus und sei GANZ, da meinte er sicher nicht „ganz geschäftig!“ Sei fromm, rechtschaffen, „ganz“ (so übersetzt Martin Buber tâmím) – das heißt: in ganzheitlichem Sinne Du selbst. Aufgehoben in einem Lebensrhythmus, in dem alle Anteile der Person zum Klingen kommen. Auch wir als OJC mussten im Lauf unserer Geschichte umdenken. Ende der 90er sind wir selbst in der Sackgasse eines Burn-out gelandet. Wir waren als Pioniere beseelt vom Tun und stolz darauf. Bis wir zu spüren bekamen, wie einseitig wir leben.
Um als Gemeinschaft zu überleben und lebendig zu bleiben, brauchte es eine Ausrichtung an den Koordinaten des Lebens im Kreuz der Wirklichkeit, wie wir es von Eugen Rosenstock-Huessy gelernt haben. Darin erhalten alle vier Dimension eines ganzheitlichen Lebens einen angemessenen Platz: Kontemplation, Aktion, Konspiration und Rekreation. Gerade weil in unserem offensiven Auftrag die Aktion quantitativ dominant bleibt, braucht es den Ausgleich durch die drei anderen Dimensionen (S. 103). Wie hilfreich ist es da, gelegentlich aus dem Brunnen benediktinischer Klostertradition zu schöpfen, deren ora et labora die Prioritäten vom Kopf wieder auf die Füße stellt und deren Ermutigung auch heute aktuell ist (S. 108). Stille, Besinnung und Muße erquicken Leib und Geist, wecken neu die Leidenschaft, die es braucht, um das Evangelium durch Wort, Leben und Tat kreativ zu verkündigen.

Genießerisch genießbar

Zur Muße gehört die Fähigkeit zum Genießen. Genuss – das kann eine Pfeife, ein vollmundiges Bier oder ein gutes Buch bieten. Genießen ist ausdrücklich dazu da, sich der Sorgen für eine gut bemessene Weile zu entledigen; „nicht um sie völlig aufzuheben, sondern um sie erneut zu ermöglichen.“ (Wilhelm Schmid). Es schafft jenen gebührenden Abstand zu den uns umtreibenden Sorgen, den es braucht, um sie gestärkt und wirksam angehen zu können. Genießen, die einzige Pflicht am Sabbat, ist im Wesentlichen gelebter Lobpreis. Klaus Sperr führt uns eine „route de plaisir“ durch die Bibel (S. 106) und Geschwister aus der Gemeinschaft gewähren Einblicke in ihre ganz persönlichen Mußestunden (S. 114).

Kaum sind sie wieder da …

Fast 3.000 km haben sie hinter sich gebracht, unsere Freiwilligen. Und manche innere Meile sind sie mit den zunächst Fremden mitgegangen, die in Bódvaszilas, im Nordosten Ungarns eine Woche Leben, Arbeit und Glauben mit ihnen teilten. Ca. 40 junge Menschen aus Deutschland, Ungarn, der Slowakei − in ihrer Mitte ungarische Roma − knüpften mit Herz und Kreativität am Band der Freundschaft. Das, was im vergangenen Jahr an Gemeinschaftskultur und Selbsterkenntnis unter den Freiwilligen gewachsen ist, konnte sich jetzt bewähren. Eine besondere Erfahrung war für sie die Gastfreundschaft der Roma, die das Wenige, das sie haben, mit ihnen goßzügig teilten.

… gehen sie schon wieder!

Das Jahr mit unserer Jahresmannschaft geht wieder zu Ende. Kaum haben wir uns an sie gewöhnt und sie in unser OJC-Leben integriert, müssen wir sie wieder freigeben, damit sie ihr Eigenes finden und als Hoffnungsträger und Multiplikatoren für versöhnte Beziehungen, Botschafter des gemeinsamen Lebens und der Liebe Christi in ihre Kraft kommen. Wir wünschen ihnen Gottes Segen und Geleit auf ihrem weiteren Weg und machen schon Platz in den Häusern und Herzen für die Neuen, die im September einziehen.

Bis dahin aber freuen wir uns am Sommer, den Ferien und an der Entschleunigung in Reichelsheim. Das wünschen wir auch Ihnen von Herzen: Freude! Wo immer Sie die Sommermonate verbringen, gönnen Sie sich Zeiten der Erholung und eine ordentliche Portion Muße!

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