Im Anfang war Rhythmus
- Rhythmus hält lebendig
- Wiedererkennbarkeit über die Zeiten hinweg
- Was das Leben freisetzt
- Leuchtkraft gegen das Chaos
Ich glaube, wir sind uns einig, dass Ritualen und Rhythmen eine haltgebende Funktion innewohnt. Ein rhythmisierter Tagesablauf bietet Orientierung und Struktur – um das beruhigende Element der Wiederholung wissen alle Eltern, die je versucht haben, eine Vorlesegeschichte etwas abzukürzen. Im geistlichen Kontext heißt dieser Rhythmus Liturgie.
Auch in der Bibel findet sich Liturgie als strukturierendes Element. Ich muss nicht weit suchen: Schon auf der ersten Seite der Bibel begegnet mir Liturgie. Sie begegnet mir in der rhythmisierten Komposition des Schöpfungsberichtes: Und Gott schied, schuf, … und so wurde aus Abend und Morgen der erste, der zweite, der dritte Tag. Und Gott nannte, und Gott sah, dass es gut war. Der lyrische Text mit seiner dichten poetischen Bildwelt ist einem Takt unterworfen, der den Sprecher in ein Gleichmaß leitet – wie priesterlicher Gesang. In ihm hallt sozusagen die Schöpfungsliturgie wider.
Rhythmus wird hier als Scheidung beschrieben. Im Scheiden findet Unterscheiden statt. Daraus ergibt sich der Rhythmus von Tag und Nacht, Land wird vom Wasser geschieden. Definire heißt umgrenzen – in der Abgrenzung zum Andersartigen werden Zeit und Raum rhythmisiert und die Welt im Scheiden und Unterscheiden hervorgebracht. Dieser schöpferische Vorgang kulminiert in der Erschaffung des Menschen im Bilde Gottes. Durch die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf entsteht erst das Gegenüber. Und sie setzt sich fort in der Unterscheidung von Adam und Eva, Mann und Frau. Wären die beiden gleich und ohne Unterschied, wären sie einander Spiegelbild statt Gegenüber in Entsprechung, austauschbar statt einzigartig, gleichgeschaltet statt dialogisch. Der Unterschied erst führt ins Fragen und Antworten, ins Gespräch und ins Lernen voneinander und Staunen übereinander. Dieses Gegenübersein, dieses Unterscheiden, ist die Grundlage von Gemeinschaft. Das Unterscheiden trennt nicht, sondern bringt zusammen. Liturgie als rhythmisches Unterscheiden bringt also etwas zusammen und ermöglicht Gemeinschaft.
Rhythmus hält lebendig
Als Geschöpfe sind wir Rhythmen unterworfen: unser Leben wird bestimmt von regelmäßigen Atemzügen und Herzschlägen, die uns von Anfang an begleiten. Wir glauben, dass uns der Atem Gottes eingehaucht ist, und so ist auch der Rhythmus als Grundstruktur unseres Lebens ein Gegenentwurf zum Chaos. Gott ist ein Freund von Rhythmen, scheint mir.
Rhythmisches Unterscheiden gestaltet unseren Alltag. Wer nicht unterscheiden kann, tut sich mit dem Entscheiden schwer und dümpelt durch den Tag. Wer sich auf keine regelmäßigen Mahlzeiten festlegt, erleidet Schaden am Körper. Wer oberflächlich atmet, wird krank. Wer nicht in einem gleichmäßigen Schritt geht, stolpert leicht. Ganz elementar und kreatürlich funktionieren wir als rhythmische Wesen am besten. Das gilt sogar für das Lernen: rhythmische Bewegung unterstützt das Auswendiglernen. Das wird in der Grundschule beim 1x1 genutzt, oder schon im Kindergarten durch Reime und Abzählverse. Und wir kennen das Schokeln bei den Juden.
Dietrich Bonhoeffer schrieb in seinen Briefen aus dem Gefängnis, dass ihn sein Arbeitsrhythmus vor dem Verzweifeln bewahrte. Obwohl es nicht nötig war, stand er jeden Morgen in der Frühe auf und begann zu arbeiten. Er las, er schrieb, er forschte. Hätte er sich treiben lassen, wäre sein Leben aus dem Ruder gelaufen, sagte er.
Wiedererkennbarkeit über die Zeiten hinweg
Rhythmus im Sinne von Weiterführung schenkt auch Verbindung zwischen den Generationen. Das hilft, das Rad nicht immer neu erfinden zu müssen. Ich kann an dem anknüpfen, was sich bewährt hat. Die Lebensalter und Generationen sind in einen rhythmischen Kreislauf des Weitergebens und Lernens eingebettet. So stiftet auch Liturgie Identität und Kontinuität – die Wiedererkennbarkeit über die Jahrhunderte führt uns über die individuelle Glaubenserfahrung hinaus in die Gemeinschaft, formt den Leib Christi in der Welt.
In unserer OJC-Liturgie des Alltags sind insbesondere die Tagzeitengebete das verbindende Glied zur alten Klostertradition. Hier entfaltet die kleine Liturgie eine große Tragekraft: Ich kann mich hineingeben und werde mitgetragen von Worten, die bewährt, vertraut und verlässlich sind. Ich muss nicht täglich neu überlegen, wie ich mich Gott erklären will, sondern vertraue mich Worten an, die meinen eigenen vorausgehen und die auch noch gültig sind, wenn ich nicht mehr bin.
„Im Lauf der Jahre, die ich schon Mönch bin, habe ich für mich immer mehr entdeckt, dass dieses nach außen hin routiniert und immer gleich wirkende Leben ganz viel innere Freiheit schenkt. Rituale und Routine haben nicht nur Nachteile, sondern sie öffnen Wege zu mir selbst. Nicht zuletzt deshalb, weil eine äußere Ordnung auch mein Inneres ordnet und strukturiert.“
– Aus: Zacharias Heyes, Selbst verständlich – wie Rituale helfen, wieder bei sich anzukommen, Vier-Türme-Verlag Münsterschwarzach
Was das Leben freisetzt
Und doch gilt es auch, wachsam zu bleiben. Aus Rhythmus wird schnell Routine, werden Rituale – mit ihrer hilfreichen und ihrer schädlichen Komponente. Im Ritual und in der Routine lauert die Gefahr der negativen Gewöhnung, der einseitigen Beanspruchung von Gehirnregionen, die andere Bereiche dafür verkümmern lassen. Wenn Rituale leer, zur inhaltlosen Konvention werden, töten sie Kreativität, Neugierde und Innovation. Wenn Routine, Rhythmus oder Liturgie verhindern, dass Entwicklung geschieht, dann stagniert eine Gemeinschaft, ein Werk, eine Familie, eine Schule – was auch immer. Liturgie muss die schöpferische Kraft haben, Neues hervorzubringen, siehe Genesis.
Als OJC suchten wir von Anfang an, was dem Leben dient. Die Entrhythmisierung unseres Lebens einerseits und die gedankenlose Routiniertheit andererseits dienen beide nicht dem Leben. In unserer individualistischen Kultur gilt das Aufbrechen von vormals geltenden Rhythmen als befreiend. Erweiterte Ladenöffnungszeiten und Streamingdienste machen uns frei von den gesetzten Öffnungs- und Sendezeiten, Onlinebestellungen nehmen uns die Last ab, uns auf den Weg ins Geschäft zu machen und dafür unsere Zeit zu verplanen. Wenn uns das in der Schöpfung angelegte Prinzip von Rhythmus, Unterscheidung, der Liturgie schließlich als überflüssiges, beengendes Relikt vergangener Zeiten gilt, dessen wir uns lieber entledigen, führt das nicht in die ersehnte Freiheit, sondern fördert die Beliebigkeit und Konturlosigkeit, die letztlich tiefe Verunsicherung und Stress auslösen.
Alles, was das Leben einer Ordnung unterwirft, gilt uns modernen Menschen als einzwängendes Korsett. Auch Kinder. So unberechenbar Kinder auch sind, so sehr man aus dem Moment heraus reagieren muss, so sehr zwingen sie uns als Eltern doch eine Struktur auf: Hunger und Durst kehren regelmäßig wieder, Schlaf und Anregung müssen in ein Gleichgewicht gebracht werden. Wie es mir gerade auch geht – das Kind fordert mich zum Handeln und zur Wiederholung auf: zu einem Rhythmus.
Wir Menschen sehnen uns nach etwas, das uns immer wieder daran erinnert, wo wir herkommen, zu wem wir gehören, auf wen wir uns beziehen können. Es ist Teil unseres OJC-Auftrags, diese Erinnerung für uns fruchtbar und lebendig zu gestalten. Wir verankern dies in unserer Liturgie. Es verortet uns täglich neu zu beten: „Wir gehören nicht den Menschen, nicht der Arbeit und nicht uns selbst. Wir gehören dir.“
So ist Rhythmus, ist Struktur, ist Liturgie im Grunde eine lebenserhaltende Notwendigkeit, die Wachstum und Entwicklung fördert, weil sie Räume schafft und Räume voneinander trennt. Wie in der Schöpfungsgeschichte. Gott schied das Licht von der Finsternis. Oder: Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. (1 Mo 8,22)
Leuchtkraft gegen das Chaos
Liturgie und geistlicher Alltags-Rhythmus sind Auftrag und besonderes Charisma christlicher Gemeinschaft. In der OJC sind wir über die Jahre hinweg lernend mit unserer „Liturgie des Alltags“ unterwegs. Immer wieder müssen wir sie daraufhin abklopfen, ob sich in ihr noch das artikuliert, wer wir sind und was Gott uns anvertraut hat, oder ob sie schon zu oll, zu fremd, zu langatmig, eintönig oder unverständlich geworden ist. Nicht wir dienen ihr, sondern sie dient unserem Glaubensleben, hält uns bei der Stange – so halten wir sie lebendig.
Fehlt dieses identität-, gemeinschaft- und sinnstiftende Element, dann fehlt die innere Zuordnung der Dinge zueinander, und das Tohuwabohu bricht ein – wie vor der Schöpfung. Liturgie stärkt die Selbstwirksamkeit, indem sie darlegt, dass wir dem Chaos nicht ausgeliefert, sondern aus der Selbstisolation in die Freiheit einer Beziehung zu Gott und zueinander berufen sind. Diese Kraft möchten wir als Gemeinschaft für uns fruchtbar machen. Natürlich kann jeder zu jeder Zeit beten – und an jedem Ort. Dennoch beten wir auch zu festgelegten Zeiten nach einer festen Liturgie. Warum? Warum beten wir seit 2000 Jahren das Vaterunser, seit dem 8. Jh. das Glaubensbekenntnis? Weil das Gemeinschaft stiftet: Wir verabreden uns dazu, es bringt uns zusammen. Wir verbünden uns darin immer wieder neu zu unserem Auftrag. Wir schwingen im gemeinsamen Rhythmus. Und das nicht nur mittags um zwölf, sondern weltweit und über die Jahrhunderte hinweg. Damit keiner alleine stehe wider das Dunkel.
Angesichts der Stimmungen, denen unsere Seele und unser Körper nur allzu gerne nachgeben und die uns zunehmend haltlos, konturlos, kraftlos und vor allem freudlos werden lassen, möchten wir den Sinn einer liturgischen Lebensform neu zum Leuchten bringen. Denn wir sind überzeugt, dass das ein heilsamer Weg ist.