Beitragsbild zum Text: Angst vor Liturgie? von Peter Zimmerling

Angst vor Liturgie?

Von der Notwendigkeit geprägter spiritueller Formen

Die protestantische Phobie vor geprägten Formen und die Notwendigkeit ihrer Überwindung

Verstärkt seit den 1968er Jahren sind geprägte spirituelle Formen nicht nur im Raum des Protestantismus mehr und mehr verloren gegangen. Die urprotestantische Angst vor der toten Form führte zu einer regelrechten Phobie vor festen Formen überhaupt.1 Bis vor wenigen Jahren konnte der Eindruck aufkommen, die Gestaltlosigkeit sei geradezu ein Markenzeichen des Protestantismus.2 Diesem Mangel an geprägten spirituellen Formen stehen exegetische Beobachtungen, die Selbstverständlichkeit entsprechender Formen bei den Reformatoren, der Blick in die weitere Geschichte der evangelischen Kirche und nicht zuletzt neuere humanwissenschaftliche Einsichten diametral entgegen. Angesichts der Angst als Grundgefühl vieler Menschen heute „[bedarf] die Bewahrung und Weitergabe von grundlegendem Orientierungswissen […] einer Absicherung durch Symbole und Riten.“3 Mit dem früheren Erlanger Praktischen Theologen Manfred Seitz gesprochen: „Einen Glauben, der nicht gestaltet ist und bloß als gedacht und in Gedanken existiert, verweht der Wind.“4 Daneben tritt die Beobachtung, dass in einer Informationsgesellschaft sich das Interesse vor allem auf das Erleben der eigenen Körperlichkeit zu konzentrieren scheint. Viele Menschen (gerade auch junge) wollen den Glauben heute nicht nur denken, sondern auch spüren. Ob dem Glauben Fernstehende in Zukunft Zugang zum christlichen Glauben bekommen, wird nicht zuletzt davon abhängig sein, ob ihre Körperlichkeit und Emotionalität darin vorkommt.5
Auch im Hinblick auf die Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation wird es entscheidend sein, ob es gelingt, alltagstaugliche, gemeinsam gelebte spirituelle Formen wie z. B. Tischgebete, Segensgesten, Zu-Bett-Bring-Rituale, wie Vorlesen aus der Kinderbibel und das Erlernen einfacher Gebete, bekannt zu machen und einzuüben.
Ich möchte im Folgenden am Beispiel von Martin Luther, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und Dietrich Bonhoeffer aufzeigen, welche Potenziale gemeinschaftlich gelebte spirituelle Formen im Lauf der Geschichte des Protestantismus freigesetzt haben.

Die Hauskirche Martin Luthers (1483–1546)

Auch wenn Luther den Glauben des einzelnen Christen von der Überwachung durch die mächtige Heilsanstalt der spätmittelalterlichen Kirche befreien wollte, hat er sich doch nie ein Christsein ohne Gemeinde und Kirche vorstellen können. Vielmehr verlegte der Reformator das Zentrum der christlichen Spiritualität vom Kloster in die Familie und schuf auf diese Weise die Hauskirche.6 Im Rahmen der Familie gelang jahrhundertelang die Weitergabe des Evangeliums an die nächste Generation.
Wie hat man sich diese Hauskirche konkret vorzustellen? Der Rhythmus des Zusammenlebens der frühneuzeitlichen evangelischen Großfamilie wurde durch tägliche Andachten geprägt. Diese traten als kleine Gottesdienste neben den großen am Sonntagmorgen. Luther hat dafür zwei berühmt gewordene Gebete geschaffen: seinen Morgen- und seinen Abendsegen. Der Reformator war überzeugt, dass das vorformulierte Gebet als „Feuerzeug“ für das eigene, freie Gebet fungieren muss.7 Neben die vorformulierten Gebete traten die Lieder als gemeinschaftlicher Ausdruck des Glaubens. Sie bildeten die zweite Säule der häuslichen Andacht. Da nur vergleichsweise wenige Lieder zur Auswahl standen, prägten sie sich ein und begleiteten die Menschen im Alltag. Singen und Sagen waren die beiden Weisen, in denen das Evangelium zugleich angeeignet und weitergegeben wurden.8 Luther gelang es, über das Singen auch den Bereich des Ersten Glaubensartikels (von der Schöpfung) in den Glaubensvollzug hinein zu holen.
Die lutherische Reformation wurde zu einer Singbewegung,9 die ihren Siegeszug durch Deutschland und Europa nicht zuletzt aufgrund ihrer neuen Lieder antrat.
Mit dem Katechismus etablierte der Reformator schließlich eine dialogische Form der Vergewisserung und Weitergabe der Glaubensinhalte im Rahmen der Hauskirche. Luther hat den Kleinen Katechismus ursprünglich nicht für Pfarrer, sondern für die Hausväter und -mütter geschrieben. Er bietet eine Art Lehrbuch für den häuslichen Glaubensunterricht im Frage- und Antwortmodus. Die Hauptstücke des Katechismus haben über vier Jahrhunderte die verlässliche Weitergabe der Inhalte des evangelischen Glaubens ermöglicht.

Eine Vielfalt gottesdienstlicher Versammlungen in der Herrnhuter Brüdergemeine

Trotz Betonung der persönlichen Liebe zu Jesus Christus entwickelte Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) eine auf Gemeinschaft ausgerichtete Spiritualität.10 Konkret wurde diese in den zahlreichen gottesdienstlichen Versammlungen: „Eine lebendige Gemeine muss sich alle Tage zusammen denken und reden und singen.“11 Zum Sonntagsgottesdienst versammelten sich die Mitglieder der Brüdergemeine im Kirchensaal. Der Prediger amtierte nicht allein, sondern zusammen mit weiteren Brüdern und Schwestern. Auf diese Weise wurde der lutherische Predigtgottesdienst zur Gemeindeversammlung umgestaltet, wie er in 1 Kor 14 beschrieben ist. Daneben gab es auch an den Wochentagen gottesdienstliche Versammlungen: Tagzeitengebete, dazu Singstunden, Liebesmahle und Abendmahlsfeiern.12 Der Tag begann mit der gemeinsamen Morgenandacht, in der die Losung des Tages ausgelegt wurde.
Auf der Höhe des Tages fand das Mittagsgebet statt. Am Abend um 17 Uhr gab man den Arbeitstag in Gottes Hände zurück und dankte für das Gelungene. Etwas später am Abend fand die Singstunde statt, bis heute eine Besonderheit der Brüdergemeine, in der zu einem bestimmten Thema – als Liedpredigt – Strophen aus unterschiedlichen Liedern gesungen wurden. Der Graf schätzte die Singstunde besonders, weil er der Überzeugung war, dass die Wahrheiten der Schrift „durchgesungen“ werden mussten, um im Herzen einzuwurzeln. Mit dem Nachtgebet wurde der Tag gegen 21 Uhr beschlossen.
Zinzendorf schaffte die freien Gebetsgemeinschaften ab, weil er meinte, in der Öffentlichkeit könne man nicht ehrlich beten. Stattdessen führte er die Tagzeitengebete mit Litaneien und Liturgien ein. Die meisten davon dichtete er selbst.13
Eine Besonderheit des liturgischen Lebens in der Brüdergemeine waren die bereits erwähnten Liebesmahle: Dabei saß die Gemeinde nach Chören getrennt in den Versammlungssälen bei Tee und Gebäck zusammen; im Sommer boten die großen Gärten reichlich Platz für solche Zusammenkünfte. Zeugnisse von Besuchern und Missionaren, Gedichte und kurze Ansprachen wechselten einander ab. Die Liebesmahle der Brüdergemeine waren als Alternative zu den weltlichen Feiern gedacht. Zinzendorf sprach von ihnen als dem Amüsement der Gemeine. Sie fanden vor allem am Sonnabend statt, aber auch an Geburtstagen von wichtigen Gemeindegliedern.
Zinzendorf war überzeugt, dass der Glaube nur gemeinschaftlich gelebt, die Vitalität und Ausstrahlung gewinnt, um Fernstehende anzuziehen und als gesellschaftlicher Impulsgeber zu wirken.

Dietrich Bonhoeffers „Gemeinsames Leben“ (1939)

Das „Gemeinsame Leben“14 ist ein geistliches Übungsbuch, ein evangelisches Exerzitienbuch, das in der Nachfolge von so berühmten Werken wie der Regula Benedicti, der „Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen und den „Exerzitien“ von Ignatius von Loyola steht. Für die evangelische Kirche ganz neu ist, dass Bonhoeffer darin versucht, nicht nur die Gestaltung des persönlichen, sondern auch die des verbindlichen gemeinsamen geistlichen Lebens zu bedenken. Schon im Vorwort weist er ausdrücklich darauf hin, dass er mit seinen Überlegungen der Kirche als Ganzes dienen will. Dabei ist Bonhoeffer sich der vielen Vorbehalte in der evangelischen Kirche bewusst. Auch wenn der ursprüngliche Sitz im Leben der im Buch beschriebenen geistlichen Übungen eine Theologengemeinschaft war, entfaltet Bonhoeffer seine Überlegungen im Hinblick auf die Kirche insgesamt, wobei er an christliche Hausgemeinschaften, Familien und Bruder- und Schwesternschaften denkt.
Das „Gemeinsame Leben“ will zeigen, wie der Kern des evangelischen Glaubens, dass Gott den Menschen „allein aus Gnaden“ annimmt, einem Christen sowohl als Einzelnem als auch in der Gemeinschaft zur bleibenden Erfahrung werden kann. Dazu knüpft Bonhoeffer an die spirituellen Erfahrungen anglikanischer und katholischer Orden an. Er geht davon aus, dass geistliche Übungen und ein lebendiger Glaube sich gegenseitig bedingen. Denn nicht nur der innerliche Glaube wirkt sich auf das äußere Verhalten aus; genauso hat das äußere Verhalten Auswirkungen auf den innerlichen Glauben.

Die Themen der einzelnen Kapitel des „Gemeinsamen Lebens“ sind: Gemeinschaft, der gemeinsame Tag, der einsame Tag, der Dienst, Beichte und Abendmahl. Die Morgen-, Mittags- und Abendandachten strukturieren den Tagesablauf. Bonhoeffer knüpft damit an die Hauskirche Martin Luthers an, die jahrhundertelang neben dem Sonntagsgottesdienst die zweite Säule evangelischer Spiritualität bildete. Die Andachten sollen nach Bonhoeffer Psalmgebet, Schriftlesung, Lied, Gebet und Fürbitte enthalten. Daneben treten in der gemeinschaftlichen Gestaltung des Tages die morgendliche Meditationszeit eines Bibelabschnitts, die regelmäßige Beichte und die Feier des Abendmahls.
Mit dem „Gemeinsamen Leben“ hat Bonhoeffer die Aspekte der Gemeinschaft, der Gestaltwerdung und der Übung als unverzichtbar für die evangelische Spiritualität wiederentdeckt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden diese Aspekte vor allem von den neu entstehenden evangelischen Kommunitäten aufgegriffen.15 Das „Gemeinsame Leben“ half ihnen, eine monastisch geprägte Frömmigkeit zu entwickeln, die mit dem evangelischen Glauben vereinbar war. Im „Gemeinsamen Leben“ zeigt Bonhoeffer, dass das gelebte Christsein der geistlichen Sammlung bedarf, wenn es nicht zum bloßen Versuch der Weltverbesserung verwässern soll. Wie Frère Roger Schutz von Taizé formulierte, gehören „Kampf und Kontemplation“ untrennbar zusammen.

Resümee

Die drei evangelischen Vorkämpfer für gemeinschaftlich gelebten Glauben blieben nicht ohne Wirkung auf die Gesellschaft. Luther gab den entscheidenden Anstoß zur Durchsetzung der Gewissensfreiheit des Einzelnen in Europa. Das wäre nicht möglich gewesen ohne seinen Einsatz für die geistliche Mündigkeit des einzelnen Christen. Zinzendorf entdeckte den „fernen Nächsten“. Ohne die gemeinsam gelebte Spiritualität hätte es keine weltweite Expansion der Brüdergemeine gegeben. Im Rahmen der evangelischen Weltmission wurde der Universalismus des Evangeliums erstmals konkret verwirklicht. Eine der Voraussetzungen für Bonhoeffers Widerstand gegen das menschenverachtende nationalsozialistische System war das gemeinsame Leben, getragen von geprägten geistlichen Formen.


  1. Vgl. z.B. Fulbert Steffensky, Was ist liturgische Authentizität? In: Pastoraltheologie, 2000 (89), 105 -116. 

  2. Christian Grethlein, Christliche Lebensformen – Spiritualität. In: Glaube und Lernen, 1991 (6), 114). 

  3. A.a.O., 115. 

  4. Manfred Seitz, Art. Frömmigkeit II, in: TRE, Bd. 11, 676. 

  5. Vgl. dazu speziell im Hinblick auf den Gottesdienst Christian Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende, Göttingen 1997, 133. 

  6. Vgl. dazu im Einzelnen: Eugen Rosenstock: Luthers Volkstum und die Volksbildung, in: ders. /Joseph Wittig, Das Alter der Kirche. Kapitel und Akten, Bd. 2, Berlin 1928, 675-728. 

  7. Martin Luther, Wie man beten soll. Für Meister Peter den Barbier, hg. von Peter Zimmerling/Ulrich Köpf, Göttingen 2011, 61. 

  8. Martin Luther, „Vom Himmel hoch“, EG 24, Strophe 1. 

  9. Christian Möller, „Ein neues Lied wir heben an“, 15-30; ders. (Hg.), Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu ihrer Geschichte. Ein hymnologisches Arbeitsbuch, Tübingen/Basel 2000, 69ff (dort auch weiterführende Literatur). 

  10. Vgl. zu diesem Abschnitt Peter Zimmerling, Evangelische Spiritualität Wurzeln und Zugänge, 2. Auflage, 93-109, Göttingen 2010, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, 68ff. 

  11. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Vorrede des Kinderbüchleins, 05.09.1754. 

  12. Vgl. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Zeremonienbüchlein. 

  13. Enthalten in den verschiedenen Auflagen des Litaneienbüchleins (z.B. Litaneyen=Büchlein, 4. Auflage, Barby 1757). 

  14. Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, hg. und mit einer Einführung versehen von Peter Zimmerling, 3. Auflage, Gießen 2023. 

  15. Vgl. dazu das Nachwort der Herausgeber in: Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben/Das Gebetbuch der Bibel. Eine Einführung in die Psalmen, hg. von G.L. Müller/Albrecht Schönherr, DBW, Bd. 5, München 1987, 141ff. 

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