Der Mensch bleibt anfällig

Mit diesem Salzkorn folgen wir der Fährte unseres Jahresthemas Was ist der Mensch? Sie führte uns bislang zu der Einsicht, dass der Mensch nur von Gott her als Ebenbild seines Schöpfers zu verstehen ist: Gottesstatue im Gesamtkunstwerk, ausgestattet mit Herrlichkeit und Würde, nochmals aufgewertet durch die Gefährtenschaft Jesu Christi.

Editorial

Versuchungen sind wie Vagabunden:
Wenn man sie freundlich behandelt,
kommen sie wieder und bringen andere mit.

– Mark Twain

Liebe Gefährten

mit Versuchungen lässt sich gutes Geschäft machen. Das wusste bereits die Schlange im Garten Eden, und bis heute macht sich die Werbebranche unsere Schwäche zunutze, um überflüssige Dinge erfolgreich an den Menschen zu bringen. Online-Plattformen platzieren mit ausgeklügelten Algorithmen die auf den Nutzer zugeschnittenen Produktangebote, um seine Anfälligkeit für Das-brauche-ich und Das-will-ich zu steigern.

Mit diesem Salzkorn folgen wir der Fährte unseres Jahresthemas Was ist der Mensch? Sie führte uns bislang zu der Einsicht, dass der Mensch nur von Gott her als Ebenbild seines Schöpfers zu verstehen ist: Gottesstatue im Gesamtkunstwerk, ausgestattet mit Herrlichkeit und Würde, nochmals aufgewertet durch die Gefährtenschaft Jesu Christi.

Zum Wesen des Menschen, der ein Angewiesener ist und bleibt, gehört von Beginn an auch seine Gefährdung und seine Anfälligkeit. Versuchungen lauern – wie zwei Augen aus dem Dunkel – unablässig auf die Verführbarkeit des Menschen und stellen seine Widerstandsfähigkeit auf eine harte Probe. Anfälligkeit ist eine und bleibt eine anthropologische Konstante. Jesus fasst es den Jüngern gegenüber in die nüchterne Feststellung: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“ (Mt 26, 41).

Fällige Bitte im Vatergebet

Die Urabsicht des Versuchers ist klar: die Abspaltung und Isolierung des Menschen von sich selbst, von der Gemeinschaft und von Gott. Seine Methoden sind so subtil wie hartnäckig. Weil Versuchungen uns täglich anfallen, ist es gut, dass Jesus im Vatergebet die Bitte „und führe uns nicht in Versuchung“ verankert hat. Oft aber stolpern wir über diese Formulierung: Führt Gott in Versuchung? Warum sollte er das tun? Pfarrer Andreas Geister klärt das Missverständnis um den mehrdeutig übersetzten Begriff und richtet unser Augenmerk auf das, um was wir Gott anflehen: nämlich um die Standhaftigkeit und Bewahrung in der Versuchung (S. 104).

Wir tun mit Mark Twain gut daran, hinter den Versuchungen die reale Gefahr zu wittern und diesen Vagabunden das Gastrecht zu verweigern, denn sonst „kommen sie wieder und bringen andere mit“ und richten, wenn sie hinreichend Landefläche vorfinden, wirklichen Schaden in unserem Leben an. Es ist nicht von ungefähr, dass Suche, Versuchung und Sucht etymologisch eng beieinanderliegen. Versuchungen entfalten ihre Macht, wo unsere elementaren Bedürfnisse, Sehnsüchte und Nöte unbeantwortet und ungestillt bleiben. Sie werden uns oft erst in der Niederlage bewusst.

Vom Garten Eden in den Alltags-dschungel

In unserem dichten Miteinander sind wir besonders darauf angewiesen, uns in dieser Gebetsbitte des Vaterunsers zu bergen, wenn die Stimmen von innen und außen uns ein X für ein U vormachen und uns die Freude an Gott und aneinander rauben wollen. Wir haben diesmal einen ganzen Strauß von Lebensbildern aus unserer Gemeinschaft und dem engen Freundeskreis zusammengestellt, um die Fußangeln und Gruben sichtbar zu machen, in die wir mit großer Regelmäßigkeit tappen (S. 107); oder aus allen Wolken in tiefste Abgründe fallen (S. 116); oder uns immer neu vorsehen müssen. Wie im Umgang mit den verführerischen kleinen Helfern, die sich uns längst unentbehrlich gemacht haben. PCs, und erst recht Tablets und Smartphones haben unseren Umgang mit Information revolutioniert. Gerade auf Kinder und Jugendliche üben die leichte Bedienung und die Millionen kostenlosen Spiele eine unglaubliche Sogkraft aus. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung warnt vor einem zunehmend „pathologischen Computer- und Internetgebrauch“. Jeppe Rasmussen, unser Medienallrounder, ist mehrfach betroffen – als User und als Vater (S. 122). Ihm sind die evangelischen Räte Armut, Keuschheit und Gehorsam in dieser Frage gute Ratgeber und Koordinaten im Mediendschungel geworden.

Der Umgang mit Kindern setzt uns ganz schön unter Strom. Ihr unverblümter Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit und Kraft und die dazu umgekehrt proportional zum Ausdruck gebrachte Dankbarkeit fordern uns täglich heraus. Sie sind wahre Meister im schonungslosen Spiegeln unseres eigenen (Fehl-)Verhaltens. Daniela Mascher, Physikerin und Mutter, hat sich bereiterklärt, den ganz normalen Ausnahmezustand mit seinen Fallstricken, großen und kleinen Versuchungen zu beschreiben (S. 119).

Kostenfaktor Überwindung

Versuchungen sind nebst aller Gefährdung auch eine Chance, uns selbst besser kennenzulernen, und Ansporn, über uns hinauszuwachsen. Gott lässt sie offenbar zu, damit wir einen Weg nach innen gehen, die eigene Not und Dunkelheit erkennen und durchleben und in ein tieferes Fragen und Suchen nach Ihm kommen. Gott lässt es zu, dass wir schmerzhafte Niederlagen erleben, sonst wären wir vermutlich nicht bereit, uns verändern zu lassen. Den Weg, realistischer, reifer und damit demütig zu werden, kann man nicht abkürzen – ist der Wunsch, die Versuchung möge uns vom Leibe gehalten werden, auch noch so verständlich. Eines ist gewiss: Wir haben einen Verbündeten und Fürsprecher, der sich nicht zu schade war, Abgründe und Wüstenzeiten selbst zu durchwandern. An seiner Hand können wir zu Überwindern werden und entdecken, wie aus Niederlagen die Verheißung einer größeren Freiheit erwächst und Vertrauen und Widerstandskraft erstarken. Der dänische Theologe und Bonhoeffer-Forscher Jørgen Glenthøj kann deshalb gewagt formulieren: „Die Stunde der Versuchung gehört zum Anbruch des Reiches Gottes“ (S. 126).
In Anfechtungen widerständig und für alle Eventualitäten ausstaffiert – idealerweise in der vollen Montur des Heiligen Geistes, wie sie im Epheserbrief beschrieben wird – so möchten wir uns als offensive Christen selbst gerne sehen. Aber was darf uns die Aufrüstung kosten? Was genau legen wir mit den Waffen des Geistes an – und was legen wir ab? Diesen Fragen geht Írisz Sipos in ihrer Auslegung von Epheser 6 nach, die im Rahmen einer OJC-Bibelarbeit entstanden ist (S. 110).

Wir bleiben anfällig

Dass wir nicht nur einen Schild gegen die „feurigen Pfeile des Bösen“ brauchen, nicht nur gutes Schuhwerk und einen festen Gurt um die Lenden, sondern vor allem treue Weggefährten, haben wir beim letzten „Tag der Offensive“ wieder erfahren und feiern dürfen. Danke für Euer Kommen und die Treue über die vielen Jahre! Wir haben miteinander neue und stärkende Impulse für die nächste Wegstrecke bekommen. Vor allem die Zeugnisse unserer Projektpartner aus Mexiko, Mazedonien und Israel (S. 132) haben uns ermutigt, unseren eigenen Auftrag mit noch mehr Dankbarkeit, Fröhlichkeit und Selbstbewusstsein auszuführen.

Darin können wir uns täglich neu üben, denn unsere umfassende Anfälligkeit wird uns in immer neuer Weise vor Augen geführt. Neuerdings ist es unser Status der Gemeinnützigkeit, der zur Disposition gestellt werden soll. Eine neuerliche Kleine Anfrage der Grünenfraktion1 an die Bundesregierung hinterfragt mit großer Vehemenz aber geringer fachlicher Redlichkeit das Recht, Ratsuchende dabei zu unterstützen, ihre Identität als Männer und Frauen auch angesichts großer Verunsicherung und tiefgehender Verletzungen zu behaupten und ihre sexuellen Empfindungen entsprechend zu verändern oder zu festigen. Dazu haben wir schon mehrfach differenziert und fundiert Stellung bezogen (www.dijg.de). Wir erleben hautnah, was der ZEIT-Redakteur Jochen Bittner pointiert so formuliert: Ziel grüner Politik sei „die Verbannung bestimmter Ansichten aus dem Reich der erlaubten Meinungen.“

Diese Aktion der Grünen und die Medien reduzieren und fixieren unsere vielfältigen diakonischen und missionarischen Engagements auf das Reizthema Nr. 1. Das konfrontiert uns als Gemeinschaft erneut mit der Versuchung, dieses Thema fallen zu lassen. Es wäre viel einfacher und angenehmer: endlich Bestätigung und Applaus, endlich das uneingeschränkte Wohlwollen seitens Staat und Kirche und endlich die angemessene Würdigung unseres Dienstes. So aber bleibt unsere erste Übung, den Weg nach innen zu gehen und geistlich zu unterscheiden, was dran ist. Und den nicht aus dem Blick zu verlieren, in dessen Auftrag wir stehen.

  • Fest bleiben heißt loslassen

Wer um seine Zugehörigkeit weiß, kann getrost loslassen. Wer weiß, woran sein Leben hängt, ist weniger versucht, sich von den Ansprüchen dieser Welt abhängig zu machen. Wer um seinen Platz weiß, braucht nicht unbedingt in der Welt zu arrivieren. Der kann unabhängiger denken und handeln. Halten wir an der Zusage fest: Wir gehören zu Christus!

  • Fest bleiben heißt verlieren können

Wer möchte schon zu den Verlierern gehören? Wer aber hier auf Erden ein Verlierer ist, wird frei, alles von Gott zu erwarten. Er, unser Auftraggeber allein, ist für unsere Ehrenrettung zuständig, er spricht sie uns zu. Ja, wir sollen zu „Verlierern“ in dieser Welt werden, um empfänglich zu sein für das Wesentliche aus der anderen Welt, so wie Paulus in seinem Philipperbrief schreibt: „Ja noch mehr: Ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen“ (Phil 3,8).

  • Fest bleiben heißt sich wandeln

Oft verwechseln wir fest bleiben mit erstarren, hart werden. Die Versuchung, uns zu verbarrikadieren und vor möglichen Angriffen zu schützen, ist groß. Wer sich abschottet, wird für andere unnahbar – ein einsamer Rechthaber. Lebendig bleibt nur, wer sich anrühren und verändern lässt. In der Ohnmachtserfahrung lernen wir, tiefer in die Gottesbeziehung einzutauchen und intensiver nach den Absichten Gottes zu fragen. Die Zeiten der Bedrängnis sind Zeiten des Wachstums und der Bewährung des Glaubens! Das ist die gute Nachricht in unguten Zeiten.

  • Fest bleiben heißt hörfähig bleiben

Frank Buchmann, Gründer der „Moralischen Aufrüstung“, eine der Bewegungen, in denen die OJC wurzelt, lehrte: „When a man listens, God speaks. When man obeys, God acts.“ Davon sind wir nach wie vor überzeugt: Nicht aus einem getriebenen Aktionismus heraus handeln, sondern innehalten, auf-horchen und auf-richtig prüfen, ob unsere Gedanken auch seine Gedanken und unsere Pläne auch seine sind. Wenn wir Gewissheit erlangt haben, dann müssen wir alles tun, was in unseren Kräften steht. Hörfähig sein, heißt auch, gesprächsfähig und gesprächswillig zu bleiben – erst recht mit den Gegnern.

„Wir rühmen uns unserer Bedrängnis: denn wir wissen, Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung“ (Römer 5, 3 – 4). Stimmt. Aus Sicht der Öffentlichkeitsarbeit sind negative Schlagzeilen eine Katastrophe. Unsere Sicht darf sich aber an der Überzeugung Bonhoeffers orientieren: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“ Wir brauchen keine Werbung zu schalten, Traktate zu verteilen, PR-Agenten zu beschäftigen; ganz von alleine boomen die Intennetzugriffe auf www.ojc.de und www.dijg.de, und wir bekommen mehr ehrlich gemeinte Fragen und Anfragen als je zuvor! Hier verwirklicht sich unser Dienst, wenn wir vom gesellschaftlichen Handeln reden.

Wir bleiben dran

Standhaft bleiben heißt auch, den medialen Shitstorm auszuhalten und ihn geduldig Gottes barmherzigem Urteil zu überlassen. Geduld, das ist die christliche Ausprägung der klassischen Tugend der Gelassenheit. Der Geduldige, der Harrende, der Wartende ist ein Standfester in der wankenden, sich wandelnden Welt. Geduld, griechisch hypomoné, bedeutet wörtlich drunterbleiben. Der Duldende ist hoch aktiv, er weicht nicht, wenn andere sich an ihm stoßen. Was sich so bewährt, weckt Hoffnung in jenen, die nach Orientierung suchen. So bleiben wir unserem Auftrag treu, jungen Menschen in Christus Heimat, Freundschaft und Richtung zu geben.

Seit 46 Jahren besteht die OJC nur, weil sie einem Auftrag folgt und weil sie einen Unterschied macht. Darin allein besteht ihre Existenzberechtigung, alles andere ist dem untergeordnet. Salz in der Welt können wir nur bleiben, wenn wir als Gemeinde Jesu und als Gemeinschaft Kontrastgesellschaft bleiben und nicht danach streben, es allen recht zu machen. Dass wir standhalten können, verdanken wir vor allem unseren Freunden. Bei allem Bemühen um die Wahrung unserer FSJ-Trägerschaft: Ihr seid unsere eigentlichen Träger! Euer Tragen und Mittragen macht uns tragfähig und handlungsfähig – gerade in turbulenten Zeiten. Wieder vertrauen wir unsere Finanzen mit dem alljährlichen Sommerloch eurer Fürbitte an und danken allen, die mit uns teilen, von Herzen.

In allem darf uns die Verheißung aus dem Korintherbrief leiten: „Gott ist treu; er wird nicht zulassen, dass ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet. Er wird euch in der Versuchung Ausweg schaffen, so dass ihr sie bestehen könnt“ (1. Kor 10, 13).

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