Don’t forget the poor!
C. René Padilla, Theologe, Missiologe und langjähriger Freund und Partner der OJC, ist am 27. April in Buenos Aires (Argentinien) verstorben. Als wir ihn 2008 kurz nach der Kommunitätsgründung bei seinem letzten Besuch mit Ehefrau Cathy fragten, was er uns ins Stammbuch schreibt, antwortete er ernst und lapidar: „Don’t forget the poor!“ – Vergesst die Armen nicht! Wir sind dankbar für alle Weggemeinschaft und Wegweisung und möchten seine Erinnerung und sein Vermächtnis unter uns lebendig halten.
Esperanza – ein Hoffnungsträger
Geboren 1932 in Quito (Ecuador) in eine Schneiderfamilie lernte René christliche Nachfolge kennen, aber auch Hunger, Armut und Ausgrenzung. Mit Hilfe von geliehenem Geld und vielen Jobs konnte er sich eine gute Ausbildung erarbeiten. Seitdem beschäftigte ihn die Frage: „Was hat der christliche Glaube beizutragen in unseren gesellschaftlichen Kontext?“
Bei der legendär gewordenen Lausanner Konferenz 1974 mit 150 führenden Evangelisten aus aller Welt hatte Horst-Klaus Hofmann die erste Begegnung mit ihm. Padilla gehörte zu den Hauptrednern und forderte, das ganze Evangelium ernst zu nehmen und Verantwortung für die sozialen Nöte in der eigenen Gesellschaft zu übernehmen. 1980 besuchte er uns in Bensheim – und wurde mit seiner Frau Catharine zu unserem Freund und Partner. Beide waren leidenschaftliche Bibellehrer; wenn er bei uns war, ging er nie, ohne uns mit aktuellen geistlichen und politischen Einsichten herauszufordern – ob das Herzensbildung, Armut oder ungerechte Weltwirtschaftspolitik betraf.
In den 80ern konnten wir ihn und seine Kairos-Gemeinschaft mithilfe unserer Weihnachtsaktion in sozialen Projekten unterstützen. Seiner Bitte, beim Bau eines „Kairos-Zentrums“ als Schulungs- und Begegnungszentrum für Nachfolge und ganzheitliche Mission zu helfen, kamen wir gerne nach. Hermann Klenk entwarf die Pläne für dieses Gebäude im ländlichen Pachéco nahe Buenos Aires. Mit einem OJC-Handwerkerteam aus der Schweiz und Deutschland und mit der argentinischen Gruppe konnten wir ein Baucamp vor Ort realisieren. Weitere folgten. Anfang der 90er Jahre wurden dort internationale Seminare für Teilnehmer aus der ersten Welt angeboten, mit dem Ziel, die desolate Wirklichkeit der „dritten Welt“ zu verstehen und aufs Herz zu nehmen.
Nach dem Tod seiner ersten Frau (2009) nahmen seine Europareisen ab. Mit seiner zweiten Frau Beatriz hatte er noch acht Jahre. In den letzten zwölf Jahren widmete er sich seinem Herzensanliegen, einem zeitgemäßen biblischen Kommentar mit über 100 lateinamerikanischen Autoren. Das Comentario Biblico Contemoráno wurde sein Meisterstück, das er noch zu Ende bringen durfte.
René Padilla war ein Hoffnungsträger, mit dem wir das Ziel teilten: nach dem Gottesreich und seiner Gerechtigkeit zu trachten – inmitten unserer rauen Welt. (Angela Ludwig)
Sinceridad – ein Unbestechlicher
Als ich René Padilla 1980 zum ersten Mal begegnete, war ich begeistert von seinen leidenschaftlichen Bibelauslegungen zum Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit und von der Liebe, die er ausstrahlte. Sie galt den Großen und den Kleinen sowie den Reichen und den Armen. Das hat mich berührt.
Von 1987 bis 1990 reiste ich mehrmals mit einem internationalen Team von jungen Leuten nach Argentinien. Wir halfen bei der Planung und dem Bau eines Konferenzzentrums in Pachéco, Buenos Aires. Eines Tages bat mich René, zum Flughafen mitzukommen, um 2000 Kalender in spanischer Sprache abzuholen. Es war ein Geschenk aus Deutschland an die Mitglieder seiner Gemeinde. Der Zollbeamte am Flughafen teilte uns mit, dass wir 2000 USD zu zahlen hätten. René begann mit ihm zu diskutieren, sagte deutlich, dass die Kalender nur 1900 Dollar wert seien, zehn Prozent wären der richtige Betrag. Doch der Beamte bestand auf 2000 Dollar!
Wir warteten den ganzen Tag – ab 10 Uhr. Wir hofften und beteten um eine Reduzierung der Summe. René sagte, wie einfach es wäre, die Kalender zu bekommen: „Einfach 200 Dollar in den Pass legen und ihn über den Schreibtisch schieben; innerhalb von 15 Minuten wäre die Ware da. Aber das ist Bestechung. Diese Art von Korruption zerstört die Wirtschaft unseres Landes. Ich kann dieses System nicht unterstützen.“ Also warteten wir weiter. Wir bemerkten, dass der Beamte ebenfalls wartete, obwohl er uns scheinbar ignorierte.
Um 17.30 Uhr fragte mich René, wie viel Bargeld ich hätte. „1700 Dollar.“ Er fügte 300 Dollar hinzu und wir übergaben dem Beamten die von ihm geforderte Summe. Allerdings bestand René darauf, dass er alle offiziellen Papiere ausfüllte und unterschrieb, mit Stempeln und allem anderen. Er tat es, widerwillig, ohne uns auch nur ein einziges Mal anzuschauen.
Unbestechlich zu bleiben kann sehr teuer kommen, aber es hilft, eine Nation zu heilen. (Hermann Klenk)
Compasión – ein Barmherziger
Zum Glück meines Lebens zählt der Reichtum an Mentoren, Vorbildern und geistlichen Wegelagerern, die ich kennenlernen durfte. Einer davon war René Padilla. Vorgeschaltet war allerdings das Kennenlernen seiner Tochter Sara, die in meinen Teenagerjahren bei uns in der Familie als Au-Pair und „Löwenbändigerin“ einen strahlenden Eindruck hinterließ. Ich lernte damals, dass die Argentinier nicht nur brillant Fußball spielen, sondern ihre Töchter ebenso resolut wie gewinnend sein konnten.
Ein halbes Jahrzehnt später, gerade 20jährig, war ich Handball-Bundesligaspieler und fragte mich in einer vorgezogenen Midlifecrisis, was das Leben neben den Höhen sportlicher Erfolge noch an Tiefe zu bieten habe. Die Reise nach Buenos Aires zu einem interdisziplinären Seminar über Globalisierung und Gerechtigkeit war ein Versuch, das herauszufinden. Die Voraussetzungen meinerseits waren mager, meine Englischkenntnisse überschaubar, mein Spanisch unterirdisch. Meine Fähigkeit, mich in politischen und theologischen Zusammenhängen zu bewegen, war bereits nach kurzen Inputs erschöpft. Dabei hatte René Padilla aus seinem Netzwerk das Beste zusammengebracht: Den Theologen Samuel Escobar, den Architekten und Friedensnobelpreisträger Pérez Esquivel und eine Menge anderer Köpfe, die mich und andere lehrten, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Auch wenn ich kaum die Hälfte von dem verstand, was sie sagten, gab es da ein Mehr in diesem Seminar. Unvergessen geblieben ist mir vor allem ein Wort, das René Padilla mit dem Markusevangelium auslegte: „Compasión – Jesus felt compassion.“ Jesus war berührt, er litt mit, er spürte den Schmerz der anderen, es ging ihm unter die Haut, es „drehte ihm die Eingeweide um“. Ich konnte damals nur erahnen, was es für den Sohn Gottes bedeuten musste, um so mit uns und den Armen zu fühlen. Und wenn René dieses Wort aussprach, dann kam etwas von dieser tiefen Bedeutung zum Klingen. Compassion – ein Schlüsselwort seiner „misión integral“.
Der Same, der damals gepflanzt wurde, ging auf. Ein Jahr später kam ich wieder, um mitzuarbeiten. Klein, aber konkret. Viele andere Projekte in Lateinamerika haben sich daran angeschlossen und die OJC hat etwas von der Compassion aufgenommen und weitergetragen, die René Padilla gelehrt und gelebt hat. (Dominik Klenk)