BIld von einem Flüchtlingscamp auf Lesbos

Genug Hoffnung für einen Tag

Zwischen den Zelten auf Lesbos

Interview mit Andrea Wegener

Die ojcos-stiftung hat 2021 ihren Stiftungspreis für besondere Verdienste in den Bereichen humanitäre Hilfe für Flüchtlinge, Entwicklungszusammenarbeit und Völkerverständigung an Andrea Wegener, Lesbos, Griechenland verliehen. Sie ist seit 2018 für Global Aid Network (GAiN) und EuroRelief im Einsatz für Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos. Sie setzt sich unermüdlich dafür ein, dass die Bewohner in den Lagern Moria und Mavrovouni ein Mindestmaß an Versorgung und menschlicher Unterstützung erhalten. 2019 wurde ihr die operative Leitung der Arbeit von EuroRelief im Camp übertragen. Gleichzeitig leiht Andrea den Flüchtlingen ihre Stimme, um in Deutschland ein authentisches Bild von der Lage auf Lesbos zu vermitteln. Dafür schreibt und berichtet sie an vielen Stellen in Kirche und Gesellschaft und auch in die Politik hinein. Sie verbindet ihr Wirken mit einer überzeugenden Hoffnungsperspektive und lebt ein glaubhaftes Zeugnis für christliche Werte und Menschenrechte in Europa.

Liebe Andrea, bei Griechenland denken die meisten von uns eher an Urlaub. Dabei ist Lesbos ein Synonym geworden für großes Elend im Flüchtlingslager und gleichzeitig ein Versagen der Politik. Was hat dich bewogen, dich freiwillig in eine so herausfordernde Lebenssituation zu begeben?
Dass das so „abschreckend“ ist, hat mich ja gerade gereizt. Ich habe einfach in der Vergangenheit beim Einsatz in Krisengebieten gemerkt, dass ich ganz gut zurechtkomme in Situationen, um die andere einen Bogen machen. Und ich habe mich gefragt, ob da auch eine Berufung drin liegt: da meinen Beitrag zu leisten, „wo die Welt schreit“. Das wurde dann ja auch der Titel meines Buchs über Lesbos. Es ist tatsächlich nicht immer einfach hier und ganz schön komplex, aber ich möchte nirgendwo anders sein.

Das ist nicht dein erster Einsatz in der humanitären Hilfe. Was hat dich geprägt und woher kommt deine Leidenschaft, besonders für Menschen in Not?
Ja, das stimmt. Man wacht nicht eines Tages auf und hat die Leitung einer ziemlich großen Arbeit in einem Krisengebiet! Ich habe eher im Rückblick gemerkt, was mich auf das vorbereitet hat, was ich nun tue. Eine Etappe war sicher ein halbes Jahr in Kenia noch während des Studiums, in dem ich mit einer deutschen Diakonisse mit unglaublich viel Erfahrung herumgereist bin; sie hatte die Verantwortung für rund 50 kleine Ambulanzen in ländlichen Gebieten. Von ihr habe ich sehr viel gelernt und es hat mich auch von der Spur weggebracht, an der Uni als Germanistin Karriere zu machen. Seit ich 2007 bei Campus für Christus einstieg, hatte ich immer wieder die Möglichkeit zu Einsätzen im Ausland: ein Baueinsatz bei Holocaust-Überlebenden in Israel, dann mehrere Einsätze in Haiti nach dem Erdbeben 2010 und im Irak 2014, als der IS dort sein Unwesen trieb.
Gerade der Irak hat mich enorm geprägt: zu sehen, dass Menschen in all dem Schrecklichen Gott auch ganz besonders stark erfahren und dass wir als Christen gerade in solchen Situationen vermitteln können: Ihr seid nicht allein! Gott ist ja da – durch uns! Er benutzt unsere Hände und Füße und Ohren und Hilfsgüter, um den Menschen zu vermitteln, dass sie nicht alleingelassen sind!

Andere Organisationen leisten auch gute Arbeit. Was unterscheidet die Arbeit von GAiN und EuroRelief von ihnen?
Lasten gemeinsam zu tragen und auch bei Gott abzugeben, ist sicher etwas, das mir bei anderen Organisationen fehlen würde, denen diese Grundlage fehlt! Und das Menschenbild ist ein anderes, ist viel tragfähiger! Manche Helfer teilen die Welt sehr schlicht in schwarz und weiß: Flüchtlinge sind gut. Polizisten sind böse, die griechische Regierung sowieso. Aber so einfach ist es ja nicht! Wie Alexander Solschenizyn sagte: „Die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft durch das Herz eines jeden Menschen.“ Wir möchten in jedem Menschen Gottes Ebenbild sehen und ihn gleichermaßen „ehren“ – ich weiß kein besseres Wort.
Naja, und dann denke ich auch, dass wir als Christen eine andere Quelle für unsere Hoffnung haben: auch da, wo politischer Aktivismus – der ja unbedingt auch seinen Platz hat! – keine endgültigen Lösungen schaffen kann, können einzelne Menschen Hoffnung für ihr Leben haben. Oder doch für den nächsten Tag, die nächste Woche.

Ganz konkret: Wie hat sich die Situation nach dem Brand von Moria in dem neuen Lager von Mavrovouni verändert?
Im Vergleich zu Moria hat sich manches verbessert: Das Gelände ist weitläufiger, die Sicherheitslage deutlich weniger angespannt, die Polizei viel präsenter. Die Verteilung von Waren ist leichter möglich als in Moria und die Zusammenarbeit zwischen den Hilfsorganisationen besser.
Aber weil das Camp in aller Eile errichtet wurde und nur als Übergang gedacht ist, gab es große Schwierigkeiten mit der Infrastruktur. Tagelang gab es kaum Toiletten und die Leute haben ihr Geschäft im Gebüsch oder im Meer verrichtet. Es hat über drei Monate gedauert, bis sie zum ersten Mal warm duschen konnten. Im Winter gab es nicht genug Strom und alle versuchten trotzdem, mit kleinen Heizöfen etwas Wärme in die Zelte zu bringen. Wenn dann ein Heizofen lief und jemand anders das Licht anmachte, flog die Sicherung raus. Das war mit Kälte, Sturm, Starkregen und Schnee richtig schlimm. Sobald es trocken und warm ist, spielt sich das Leben hier im Freien ab.
Dazu kommen die üblichen Dauerthemen, wie unklare Entscheidungswege, rund 60 ethnische Gruppen auf engem Raum, schlechte medizinische und psychologische Versorgung…

Woher nimmst du die Kraft, dich immer wieder auf dieses Leben einzulassen?
Ja, das ist eine Spannung! Ich arbeite am Großen, wenn ich mich mit Vertretern anderer Hilfsorganisationen oder Verantwortungsträgern vom Ministerium treffe und wir Planungen fürs ganze Camp machen. Aber ich möchte dabei auf das Kleine schauen, auch und gerade wenn wir nicht alles besser machen können: Es ist genug, wenn ich diesem einen Menschen heute genug Hoffnung für diesen einen Tag gebe. Wenn wir das alle machen, ist das schon eine ganz schöne Hoffnungs-Kollektion! Und ich muss natürlich immer selbst bei Gott andocken, um meine Hoffnung zu behalten und mich vom Bösen und all der Traurigkeit nicht überwinden zu lassen. „Das ist wie Gift“, hat es eine Mitarbeiterin formuliert, „und man nimmt es auf allen Ebenen wahr!“ Das Gegenmittel ist immer die Güte und Freundlichkeit Gottes.

Was bewegt die Menschen, denen du dort begegnest?
Für ganz viele nimmt das tägliche Überleben einen großen Raum ein: Essen holen, Wäsche waschen, Anstehen für einen Termin beim Anwalt oder Arzt… Im Winter war die Kälte ein großes Problem, im Sommer ist es die Hitze, die sich in den Zelten staut. Was vielen zu schaffen macht, ist die Unsicherheit: Wann kommt ihr Bescheid? Werden sie in Europa bleiben können? Haben ihre Kinder eine Zukunft? Dazu kommt die Untätigkeit. Vor allem für die vielen jungen Männer ist es unglaublich zermürbend, nicht arbeiten zu können.

Was kannst du von ihnen lernen, für dich mitnehmen?
So viel! Diese unglaubliche Gastfreundschaft, die wir von Menschen erleben, die nichts haben und dann plötzlich ein opulentes Mahl auf einer Plastikplane servieren. Dass man ältere Menschen ehrt, dass man für die Familie in der Heimat Verantwortung übernimmt… Es ist unglaublich, wie viel unsere Bewohner von den 75 Euro, die sie monatlich bekommen, abzweigen und nach Afghanistan oder in den Irak schicken! Ich erlebe natürlich auch die Schattenseiten der orientalischen Kultur, aber ich möchte unbedingt, dass sie ihrerseits meine westlichen Schattenseiten hinterfragt, meinen Individualismus zum Beispiel.

Wenn man die Nachrichten über Moria und Mavrovouni verfolgt, hört man ganz unterschiedliche Botschaften. Wie kommt man an glaubwürdige sachliche Informationen, um sich eine fundierte Meinung zu bilden?
Manche Aktivisten schimpfen, dass das neue Camp noch viel schlimmer ist als das alte. Sie berichten von Kindern, die von Ratten gebissen werden, und von Zelten, in denen nach einem Regenschauer das Wasser knöchelhoch steht, und sie beschuldigen die Regierung, den Flüchtlingen aus Abschreckungsgründen bewusst grundlegende Rechte vorzuenthalten.
Das Ministerium und die EU-Behörden, die für die Unterbringung der Flüchtlinge und für die Einhaltung humanitärer Standards verantwortlich sind, halten dagegen und behaupten, dass die Zelte winterfest seien und Grundbedürfnisse erfüllt würden. Bei fast jedem Bericht – egal aus welcher Richtung er kommt – habe ich ein leises „Ja, aber!“ im Kopf. Es ist oft verworrener und vor Ort viel komplexer, als man es in kurzen Artikeln beschreiben kann. Ja, die furchtbare Sache mit den Rattenbissen stimmt – aber nicht auf Lesbos, sondern auf Samos. Die Zelte sind „winterfest“ gemäß den Standards humanitärer Katastrophenhilfe und die Überschwemmungen reichen nur noch selten in die Wohnzelte hinein. Aber das schließt nicht aus, dass einige Eltern in Zelten mit nass-klammen Seitenwänden und feuchtem Boden elend durch die Nacht frieren und alles dransetzen, dass wenigstens ihre Kinder schlafen können. Das ist schrecklich. Anderes lebt sich vor Ort nicht ganz so dramatisch, wie es dargestellt wird. Und manches ist viel, viel schlimmer. Das eigentliche Leid lässt sich nicht in der Anzahl der Duschen und der Generatoren-Kapazität messen.
Es ist die Unsicherheit, ob man bleiben darf. Das Eingesperrtsein. Die Gewalt innerhalb von Familien, gegenüber der die Polizei und die Behörden machtlos sind, weil sie verschwiegen wird.

Mit dem ojcos-Stiftungspreis ist eine kleine finanzielle Förderung verknüpft. Was wirst du mit dem Geld machen?
Wir haben an jedem beliebigen Wochentag 40–70 Kurzzeit-Ehrenamtliche im Camp. Die tragen die schwersten Lasten, weil sie am meisten mit den Flüchtlingen direkt zu tun haben und das Schwierige ungefiltert abbekommen. Manche wollen ihre Zeit gerne verlängern, stehen aber finanziell etwas knapp da. Der Stiftungspreis ist der Grundstock für unseren „Fonds für arme Helfer“.

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