Endlich
„Wo ist Heidi?“ Zum x-ten Male höre ich heute die Frage nach meiner Frau. Ich beantworte sie ebenso gleichbleibend: „In Bielefeld.“ Daraufhin: „Wohnt ihr in Bielefeld?“ „Nein, Mutter, wir wohnen nicht in Bielefeld. Da wohnt deine jüngste Enkeltochter Mirjam mit ihrem Mann und deinen drei Urenkelkindern.“ „Ach so, ja“, antwortet sie zufrieden. So als wäre sie um eine Erkenntnis reicher … nur um später am Tag diesen Dialog zu wiederholen. Die Endlichkeit ihres Lebens ist deutlich spürbar. Sie wohnt bei meinem Bruder. Da sie nicht mehr allein sein kann, bin ich dran, wenn er im Urlaub ist. Und ich tue, was ich früher für meine Kinder und heute für meine Enkel tue: ich schmiere ihr das Brot und schneide es in mundgerechte Stücke. Und unterhalte mich mit ihr … über die zunehmend gleichbleibenden Fragen.
Wenn das Ziel des Transhumanismus ist, die Grenzen der Endlichkeit zu sprengen, hat er hier gründlich versagt. Dabei spüre ich bei meiner alten Mutter keine Angst vor dem Tod oder gar die Sehnsucht, ihr Leben zu verlängern. „Alt und lebenssatt“ – diese biblische Formel trifft es wohl eher. Wie werde ich wohl im hohen Alter leben? Die Grenzen meiner Vitalität sind längst erreicht, wenn auch noch nicht Gebrechlichkeit. Mein Leben ist noch weit, mein Denken noch klar … aber an meiner Mutter ahne ich: es wird in absehbarer Zeit anders werden.
Die Bibel redet in nüchterner Weise vom Menschen. Sie umschreibt ihn mit dem Wort Fleisch, hebr. „bāśār“ – Hans Walter Wolff1 übersetzt: der hinfällige Mensch. Seine ganze Gebrechlichkeit, Vergänglichkeit und Todverfallenheit wird angesprochen. Der Mensch mit seinen Grenzen und in seinen Grenzen. Nichts wird schöngeredet, sondern bejaht. Ohne Illusion. Aber auch ohne Resignation. Denn das ist längst nicht alles, was die Bibel zu sagen weiß. Der Mensch, dieses hinfällig geborene Wesen, ist eingeladen zum Frieden: zum „šālōm“. Nicht zur Ausbesserung, sondern zum umfassenden Heil-Sein. Schalom meint das „Genug haben“. In Zeit und Ewigkeit!
Gott steht zu seinen Geschöpfen
Die Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer schrieb vom Verlust der Ewigkeit: „Wenn das Leben die einzige Gelegenheit ist, dann steigert sich die Verlustangst ins Unerträgliche. Zudem ist die Aufgabe der Selbsterschaffung und Selbstverbesserung, die sich das Individuum zur Pflicht macht, prinzipiell immer unvollendet. Für dieses Individuum kommt der Tod chronisch zu früh.“ Und sie stellt fest: „Der Tod drückt dem Leben auch dann seinen Stempel auf, wenn er abschlägig beschieden, wenn der Dialog mit ihm verweigert, wenn er grob vor die Tür gesetzt wird. Er vermag sich in jedem Fall Geltung zu verschaffen.“2 Die Bibel sieht den Menschen ganz nüchtern – und sieht ihn dennoch mit lebensbejahenden Augen!
Als ich vor 19 Jahren meinem Vater nach seinem letzten irdischen Atemzug die Augen schloss, kam mir das Wort „das Zeitliche segnen“ in den Sinn. So war sein Leben. JA sagen zum Leben – so wie es jeweils ist – zur vorfindlichen Wirklichkeit. Es annehmen in guten wie in schlechten Tagen … ihm einen Segen abgewinnen auch in den Momenten der Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit.
Wir gehen auf Weihnachten zu. Das christliche Fest der Menschwerdung Gottes. Der Transhumanismus möchte gerne ein Fest der Gottwerdung des Menschen feiern. Wir Christen aber wissen um den umgekehrten Weg: Gott macht sich selbst zum Menschen. Er kommt nicht als göttliches Wesen – er kommt als Mensch. Nicht als Scheinmensch (Doketismus), sondern als der „Mann der Schmerzen“, der mitleiden kann und will, was uns Menschen auferlegt ist. Darin steckt Gottes tiefstes JA zu uns Hinfälligen. Unser Gott ist der Schöpfer, der zu seinem Werk steht, so Otto Weber. Und weiter: „Das besagt dann aber auch: Gott begegnet uns in Jesus Christus da, wo wir wirklich sind, nicht in Überzeitlichkeit, Übergeschichte oder Weltlosigkeit.“3.
Schalom: das JA zum Leben
Weihnachten weiß darum, dass Gott „Fleisch“ wurde und unter uns wohnte. Eben darin war seine Herrlichkeit zu sehen (Joh 1,14). Paulus umschreibt dies so:
Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig – nicht um der Werke willen, die wir in Gerechtigkeit getan hätten, sondern nach seiner Barmherzigkeit (Titus 3,4f).
Das ist Gottes großes JA zu uns Menschen – so wie wir sind – sein Ja zu unserem wirklichen Leben – mitsamt aller Gebrechlichkeit und Endlichkeit. Und darin lässt sich auch unser JA zum Leben finden! Das eigene Leben dankbar annehmen, Wert und Segen empfinden, mit Zuversicht und Hoffnung leben. Auf dieser Erkenntnis gründet auch der erste und damit grundlegende Satz unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Gemeint ist Würde zu jeder Zeit und in jeder Lebenslage! Deshalb warnt der Journalist Jan Ross zu Recht: „An der Respektlosigkeit gegenüber dem Menschen zeigt sich das Satanische.“4 Weil Gott – der Schöpfer – JA sagt zu uns Menschen, sind wir Menschen – seine Geschöpfe – eingeladen, immer wieder JA zu unserem Leben zu sagen! Das heißt im Schalom leben. Das Leben dankbar annehmen so wie es ist und auf dem Weg nach Hause bleiben.
Vor vielen Jahren gab mir meine Mutter einen kleinen Zettel, den sie aus der Zeitung ausgeschnitten hatte. Darauf ein Satz, den sie einmal auf ihrer Traueranzeige geschrieben wissen möchte: „Als Gott sah, dass der Weg zu lang, der Berg zu steil, das Atmen zu schwer wurde, legte er seinen Arm um dich und sprach: Komm, wir gehen heim!“ Das wäre es wohl auch für mich: mein Leben unter der Menschenfreundlichkeit Gottes zu leben, im Wissen um Gottes fürsorgliches Geleit und in Vorfreude auf die Heimkehr zu Gott! Das wäre genug – „šālōm“ – schon jetzt!
siehe Hans Walter Wolff; Anthropologie des Alten Testaments ↑
Marianne Gronemeyer; Das Leben als letzte Gelegenheit, Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit; S. 24f + 16 ↑
Otto Weber; Grundlagen der Dogmatik, Band II; S. 126 ↑
an Ross; Die Verteidigung des Menschen, Warum Gott gebraucht wird; S. 30 ↑