Kirche als Option
- Der Schwerpunkt des Christentums verlagert sich
- Und sie verschwindet doch nicht
- Revitalisierung in geistlichen Gemeinschaften
- Europas Kirchen im Krisenmodus
- Zwei Sterbeprozesse und zwei religiöse Megatrends
- Zwischen Tradition und Option
- Warum Jesus? Warum diese Gemeinde?
- Der Niedergang der Volkskirchen
- Individuelle Entscheidung ist näher am Evangelium
- „Weil man das so macht“ funktioniert nicht mehr
- Wenn das Umfeld bremst statt zu bestärken
- Das liberale Denkraster
- Beschädigte Christologie
- Die Vision einer Kontrastgesellschaft
Zukunftsforscher, Sozialwissenschaftler und Trendanalysten sprechen davon, dass wir in einer Zeitenwende leben. Die Veränderungen geschehen global und in einem atemberaubenden Tempo. Wir treiben einem völlig neuen Zeitalter entgegen, das unser gesamtes Leben transformieren wird. Kein Bereich ist davon ausgenommen. Und was ist mit der Religion?
Der Schwerpunkt des Christentums verlagert sich
Religion boomt, besonders das Christentum. Nicht bei uns in Europa, aber in unvorstellbarem Ausmaß in Asien, Afrika, Südamerika. Der Schwerpunkt des Christentums verlagert sich nach Süden und Osten. Christliche Gemeinden werden gegründet in einer Zahl, wie sie dieser Planet noch nie gesehen hat. Die alte Säkularisierungsthese, dass Bildung und Wohlstand zwangsläufig zum Niedergang von Religion führen, wird heute von kaum einem Wissenschaftler vertreten.
Und sie verschwindet doch nicht
Der Sieg der Moderne ist gleichzeitig ein Sieg über jeden Glauben, so dachte man noch vor 50 Jahren. Das war ein großer Irrtum, denn ausgerechnet in gebildeten und wirtschaftlich erfolgreichen Milieus gewinnt Religion an Attraktivität. Das gilt besonders für den ostasiatischen Raum, wo heute über zehn Prozent der Bevölkerung Christen sind. Wer deutsche Zahlen gewohnt ist, wo immer noch die Hälfte der Menschen einer christlichen Kirche angehört, den wird das nicht beeindrucken. Christsein in Deutschland heißt, dass man formal zu einer Kirche gehört, aber zumeist mit den Glaubensinhalten nichts anzufangen weiß und auch den Glauben kaum praktiziert.
Revitalisierung in geistlichen Gemeinschaften
Ganz anders in den meisten Teilen der Welt. Dort bedeutet Christsein, dass man seinen Glauben kennt und bekennt, seine Bibel liest, wöchentlich einen Gottesdienst besucht und seine Gemeinde mit oft zehn Prozent seines Einkommens mitfinanziert. In Afrika z. B. hat sich die Zahl der Christen in den letzten fünfzig Jahren mehr als verfünfzigfacht. Zwei große Bewegungen verändern Lateinamerika: das enorme Wachstum protestantischer Kirchen und eine Revitalisierung der katholischen Kirche durch die katholisch-charismatische Erneuerung.
Europas Kirchen im Krisenmodus
Angesichts der wachsenden weltweiten Dynamik des Christentums reibt man sich beim Blick auf unseren Kontinent verwundert die Augen. Was ist bloß mit Europa los? Jedes Jahr verlassen Menschen in der Größenordnung einer deutschen Metropole eine der beiden Großkirchen. Nicht viel besser geht es den meisten der klassischen Freikirchen.
Ist der christliche Glaube ein Auslaufmodell in Europa, besonders in Deutschland? Wird man auf diesem alten Kontinent vitale Religion möglicherweise nur noch im Islam finden, während das Christentum – abgesehen von ein paar gläubigen Inseln – schwächelnd vor sich hindümpelt?
Zwei Sterbeprozesse und zwei religiöse Megatrends
Der erste Sterbeprozess betrifft unser Kirchenmodell. Um die Krise zu verstehen, in der sich Europas Kirchen befinden, müssen wir einen Blick zurückwerfen auf das kirchliche System, das wir geerbt haben: das sogenannte Volkskirchenmodell, in dem jeder Bürger automatisch zur Kirche gehört. Obgleich es ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts allmählich möglich wurde, auch ohne Kirche zu leben, tragen wir das Erbe einer Unfreiwilligkeitskirche mit uns herum.
Zwischen Tradition und Option
Der Gedanke, dass Religion die eigene Entscheidung des Menschen ist, tauchte erstmals in der Reformation auf, setzte sich aber da noch nicht durch. Mit der Entdeckung der eigenen Subjektivität in der Aufklärung und der Romantik begann ein Prozess, der eine kulturelle Revolution bewirkte. Tausendfünfhundert Jahre lang war Religion etwas, das man übernimmt. Schritt für Schritt entdeckten die Menschen, dass Religion etwas ist, wofür man sich entscheiden muss.
Der Glaube wird zur Option. Genügte es früher, einfach mit der Kirche und mit der Gesellschaft irgendwie an Gott zu glauben, brauchen die Menschen heute Gründe für und persönliche Zugänge zum Glauben. Sie müssen als Einzelne gewonnen werden. Sie müssen zu einer persönlichen Entscheidung für Jesus und für die Kirche geführt werden. Die Religion der Zukunft ist gewählte Religion.
Warum Jesus? Warum diese Gemeinde?
Für die Zukunft der Kirche heißt das: Sie muss um Menschen werben, die in Auseinandersetzung mit anderen Optionen des Glaubens eine Entscheidung treffen. Warum Jesus? Warum diese Gemeinde? Die viel benannte gegenwärtige Glaubenskrise ist vor allem auch eine Modellkrise. Kirche, wie wir sie kennen, läuft nicht mehr. Es ist der Anfang eines Sterbeprozesses. Wir leben gerade am Ende des ersten Drittels dieses Prozesses. Die Zahl der Kirchenaustritte wird weiter zunehmen. Die Bedingungen sind nicht mehr gegeben, unter denen Volkskirche entstand und funktionierte.
Der Niedergang der Volkskirchen
Die Religionssoziologie konstatiert zwei religiöse Megatrends, die eine stimmige Erklärung für den Niedergang des Volkskirchenmodells liefern. Zum einen den Niedergang, institutioneller, beziehungsweise geerbter Religion, zum andern den Aufschwung individueller, beziehungsweise gewählter Religion.
Damit korrespondieren zwei gute Nachrichten (für alle, die das Sterben der Volkskirche für eine schreckliche Katastrophe halten).
Erstens: Unser Volkskirchensystem, das sicher seine Segenszeit hatte, gehört gar nicht wesensmäßig zum Christentum.
Die gute Nachricht ist: Mit dem Untergang der Volkskirche geht keineswegs die Kirche Jesu unter. Die gedeiht besser unter anderen Bedingungen und mit einem anderen Betriebsmodell, wie wir an dem weltweiten Aufbruch des Christentums erkennen können.
Der britische Religionssoziologe David Martin sieht durchaus Chancen für die alten europäischen Kirchen. Die könnten zu neuer Dynamik finden, wenn „sich die alten Verbindungen der Kirchen mit der Staatsmacht und dem Territorium einmal gelockert haben“ und die Kirchen sich ihrem eigentlichen Auftrag zuwenden. Daher hat höchstwahrscheinlich der christliche Glaube auch in Europa seine beste Zeit noch vor sich. Das hängt auch mit dem nun folgenden Punkt zusammen.
Individuelle Entscheidung ist näher am Evangelium
Zweitens: Individuell gewählte Religiosität (der zweite Megatrend) ist viel näher dran am Neuen Testament und an dem Leben und der Verkündigung der frühen Kirche.
Denn das Christentum ist original eine Konversionsreligion. „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ lautet die Zusammenfassung der Verkündigung Jesu. Und Paulus bringt seine apostolische Botschaft auf den Punkt mit den Worten: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Der Aufschwung gewählter Religion hat durchaus etwas Positives und Gottgewolltes: nämlich, dass das eigentliche Wesen der Kirche als Gegenüber und Alternative zur säkularen Bürgergesellschaft, als „Salz und Licht der Welt“, besser verleiblicht und damit auch sichtbarer wird.
„Weil man das so macht“ funktioniert nicht mehr
Im volkskirchlichen System sind Menschen Kirchenmitglieder, weil das irgendwie dazu gehört, weil das halt so Tradition ist. Die Selbstreproduktion der Kirche lief ausschließlich über die Weitergabe des Glaubens in den christlichen Familien und in der pastoralen Versorgung der Mitglieder, falls sie das wünschten. Missionarisches Gemeindewachstum außerhalb dieses Settings? Fehlanzeige! Heute funktioniert die Selbstreproduktion nicht mehr. Immer weniger Eltern lassen ihre Kinder taufen. Auch die christliche Erziehung in den Familien ist fast vollständig weggebrochen.
Die gewaltige Aufgabe heißt also, dass Menschen zu der großen Entdeckung finden, dass es Gott gibt und dass der Glaube erfahrbar ist als Quelle von großer Freude, Geborgenheit und Lebenskraft.
Wenn das Umfeld bremst statt zu bestärken
Was den Weg vieler zu einer Entscheidung für den Glauben enorm erschwert, ist ihr Umfeld. Daher brauchen die Menschen heute handfeste Gründe, warum sie an Gott glauben sollen und warum sie dazu die Kirche brauchen. Es genügt nicht mehr, irgendwie mit der Kirche zu glauben. Die Menschen brauchen ihren persönlichen Zugang, ihr eigenes Erweckungserlebnis. Und das bedeutet nicht weniger, als dass die Kirche einen Paradigmenwechsel vor sich hat von institutioneller Religion zu gewählter Religion, eine umfassende Neuformatierung von religiöser Grundversorgung hin zur Sendung in die Welt.
Die Neuformatierung geht in Richtung missionarische Kirche: Ortsgemeinden, die Menschen für den Glauben begeistern können, die das Evangelium hinein kommunizieren in die Kultur der konkreten gesellschaftlichen Milieus. Kirchen, in der die Menschen die dreifache christliche Grunderfahrung machen: Gott nimmt mich an um Jesu willen, er vergibt mir meine Schuld und erfüllt mich mit dem Heiligen Geist.
Das liberale Denkraster
Und da sind wir beim zweiten Sterbeprozess: Unter den Bedingungen einer Staats- oder Volkskirche, in der man Mission nicht nötig hatte, weil alle dazu gehörten, konnte sich ein theologisches Denkmodell entwickeln, das den missionarischen Aufbruch des Glaubens behindert und verhindert: das liberale Denkraster. Die sogenannte liberale Theologie des Westens hat mit ihrem Erkenntnisreduktionismus, der einem materialistischen Weltbild verpflichtet ist, das Fundament des christlichen Glaubens in einen Sumpf verwandelt und die missionarische Kraft der Kirchen beschädigt. Das ist das geistliche Drama des Westens mit der Folge einer desaströsen geistlichen Frucht- und Vollmachtslosigkeit.
Beschädigte Christologie
Der Schaden, den diese reduktive Religion anrichtet, wird am deutlichsten sichtbar an der Christologie, dem Zentrum christlichen Glaubens. Die Christologie stellt sich der Frage „Wer ist Jesus Christus, und was hat er für alle Welt vollbracht?“ Das liberale reduktive Denkraster hat eine beschädigte Christologie hervorgebracht. Die Neuformatierung von einer Volkskirche zu einer missionarischen Kirche benötigt eine gesunde, biblische und gemäß den altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnissen geformte Christologie. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Christologie und der Dynamik eines missionarischen Aufbruchs. Dieser Sachverhalt wird von den Ergebnissen der weltweiten religionssoziologischen Forschung bestätigt und entspricht neutestamentlicher Theologie. Liberales reduktives Christentum ist in einer offenen Gesellschaft, in welcher der christliche Glaube gewählt wird, nicht zukunftsfähig.
Die Vision einer Kontrastgesellschaft
Ich sehe in dem Niedergang des Systems Volkskirche, der sicher ein schmerzhafter Prozess ist, die enorme Chance, dass Kirche wieder das werden kann, wozu sie berufen ist: eine Kontrastgesellschaft zur Bürgergesellschaft, ein göttlicher Gegenentwurf zur Welt, eine Einladung Christi, Gottes Alternative zu leben. Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., drückte diese Hoffnung folgendermaßen aus:
„Aus der Krise von heute wird … eine Kirche von morgen hervorgehen, die viel verloren hat. Sie wird kleiner werden, weithin ganz von vorne anfangen müssen. Sie wird viele der Bauten nicht mehr füllen können, die in der Hochkonjunktur geschaffen wurden. Sie wird mit der Zahl der Anhänger viele ihrer Privilegien in der Gesellschaft verlieren. Sie wird sich sehr viel stärker als Freiwilligkeitsgemeinschaft darstellen, die nur durch Entscheidung zugänglich wird. Aus einer verinnerlichten und vereinfachten Kirche wird eine große Kraft strömen. Denn die Menschen einer ganz und gar geplanten Welt werden unsagbar einsam sein. Sie werden, wenn ihnen Gott ganz entschwunden ist, ihre volle, schreckliche Armut erfahren. Aber ich bin auch ganz sicher darüber, was am Ende bleiben wird: Nicht die Kirche des politischen Kultes, sondern die Kirche des Glaubens. Sie wird wohl nie mehr in dem Maß die gesellschaftsbeherrschende Kraft sein, wie sie es bis vor kurzem war. Aber sie wird von neuem blühen und den Menschen als Heimat sichtbar werden, die ihnen Leben gibt und Hoffnung über den Tod hinaus.“ (Radioansprache im Hessischen Rundfunk über die Zukunft der Kirche, 25. Dezember 1969)
Mehr dazu in A. Garth: Warum der christliche Glaube seine beste Zeit noch vor sich hat, Ev. Verlagsanstalt: Leipzig 2021