Life-Changers
- Gedenket eurer Lehrer
- Die Lebens-Veränderer der MRA
- OJC – Kolonie statt Akademie
- Von Gestern im Heute lernen für Morgen
Als ich Ende der 1970er Jahre Horst-Klaus Hofmann – kurz HKH – erstmals traf, bin ich einem geistlichen Lehrer begegnet. Die Leidenschaft ebenso wie die Weite seines Denkens haben mich tief beeindruckt. Ich spürte: Da will einer mein Herz für Gott und seine große Sache in dieser Welt gewinnen. Für meinen weiteren Lebensweg war dies eine entscheidende Begegnung.
Gedenket eurer Lehrer
In Hebräer 13,7 heißt es: „Gedenket eurer Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt dem Beispiel ihres Glaubens.“ Luther schrieb zu dieser Stelle: „Zwei Dinge sind unsere Vorgesetzten uns schuldig: das Wort und das Beispiel.“ Und es gilt ihr Ende anzuschauen – wörtlich: das, was in ihrem Leben als Ertrag herausgekommen ist. Die Quintessenz ihrer Jahre.1 Wort und Beispiel – beides hat mir HKH geboten. Es gehörte zum Gewordensein seines Lebens: Gott hat ihm ein Wort für die nächste Generation anvertraut, und so wurde er mir zum Beispiel.
HKH berichtete einmal über die Begegnung mit einem Finanzminister aus Liberia. Ein Satz packte ihn: „Sind wir eigentlich verrückt geworden im CVJM? Während die Jugend unserer afrikanischen Staaten von russischen und osteuropäischen Fachleuten und Lehrern gewonnen und ideologisch begeistert wird, fällt der CVJM ab auf das Niveau eines Experten für Tischtennismeisterschaften. Die Kommunisten gewinnen das Herz und Denken der Jungen, und wir organisieren Freizeit und Sport.“ Diese Harmlosigkeit, die den lieben Gott so klein und unbedeutend macht, ließ ihn nicht mehr los. So kam es 1962 zu einer folgenreichen Begegnung mit der „Moralischen Aufrüstung“.
Die Lebens-Veränderer der MRA
Als sich Deutschland zum Krieg rüstete, entstand 1938 die „Moralische Aufrüstung“ – kurz MRA: Moral Re-Armament. Dem Amerikaner Frank Buchman wurde klar: „In Zeiten der Krise bleibt nur eines: Menschen zu ändern.“2 Denn: „Eine bessere Welt kann nur durch bessere Menschen gebaut werden.“ Darum: „Wenn du die Welt besser machen willst, fange bei dir selbst an.“3 So begann er, junge Frauen und Männer um sich zu sammeln, deren Leben sich im Angesicht Gottes veränderte. Er wusste: „Gott allein kann die menschliche Natur umwandeln. Das Geheimnis dieser Umwandlung liegt in einer großen vergessenen Wahrheit: Wenn der Mensch horcht, spricht Gott, wenn der Mensch gehorcht, handelt Gott. Und wenn Menschen sich ändern, werden Völker anders.“4
Buchman suchte und erhielt Kontakt zu Verantwortlichen und Regierenden auf nahezu allen Kontinenten der Erde. Seine Botschaft drückt sich im Namen seiner Bewegung aus: „Moral Re-Armament ist das Gegenstück zu militärischer Aufrüstung. ‚Moral‘ heißt im Englischen nicht ‚moralisch‘ sondern ‚geistig‘ als Gegenbegriff zu ‚materiell‘.“5 Und Buchmans Nachfolger Peter Howard schrieb im September 1945 seiner Frau: „Das Gegenteil von moralischer Aufrüstung ist jene Demoralisierung, die durch Europa und die Welt fegt.“6 Dabei wurden Frank Buchman und seine junge Mannschaft von vier Werten wesentlich getragen: „Absolute Ehrlichkeit, Reinheit, Selbstlosigkeit und Liebe.“7 Um dies leben zu können, war eine Quelle unerlässlich: „Die Praxis des Schweigens wurde zum Schlüssel von Frank Buchmans Wirksamkeit. Das Hören auf die innere Stimme, durch die Gott zum Menschen spricht, das Aufschreiben der Gedanken und der ‚königliche Weg des Gehorsams‘, der in immer weitere Horizonte führt (…).“8
Für Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war die Arbeit der MRA von entscheidender Bedeutung. Leider ist dies weithin in Vergessenheit geraten. Sie konzentrierte sich wesentlich auf Frankreich, Deutschland und Italien. Die damals führenden Männer dieser Länder – Schuman, Adenauer, de Gasperi – wurden ganz wesentlich durch die Inspiration und Vermittlung der MRA eben nicht zufällig zu den Architekten des neuen versöhnten Europas.9 „Als Frank Buchman 1961 starb, berichtete das Bulletin der Bundesregierung: Seit 1947 war Caux das Symbol der Arbeit Dr. Buchmans für das deutsche Volk. Durch Caux hat er Deutschland in den Kreis der zivilisierten Nationen zurückgeführt (…).“10 Caux war das europäische Zentrum der MRA. Bei der ersten Weltkonferenz 1946 blickte Buchman über die große internationale Versammlung, um dann zu fragen: „Wo sind die Deutschen?“11 Mit einer Frage – typisch für ihn – begann das große europäische Versöhnungshandeln der MRA.
In seinen letzten Lebensjahren bin ich Leif Hovelsen mehrmals begegnet. Norweger – gegen die Nazi-Besatzungsmacht im Untergrund – verraten – im KZ gelandet. Dort findet Leif zum Glauben und schreibt später: “Ich wurde nicht mehr los, was sich mir in Zelle B 24 aufgedrängt hatte: „Gerade durch die vollständige Niederlage wird Deutschland die Möglichkeit erhalten, seine wahre Bestimmung als Volk zu finden. Aber sie werden Freunde brauchen, Menschen, die ihnen dabei helfen, neue Wege zu gehen.“12 Leif wurde ein solcher. Er hat unter den kommunistischen Arbeitern im Ruhrgebiet gewirkt und den ersten Besuch eines deutschen Bundespräsidenten nach dem Krieg in Norwegen vermittelt. Auch das war typisch: Man suchte den Kontakt zu Regierenden ebenso wie zu Arbeitern. Und einer der Letzteren, Max Bladeck, Kommunist aus dem Ruhrgebiet, sagte nach einem Aufenthalt in Caux: „Hier erleben wir die einzige weltweit wirksame Ideologie, die nicht den einen Menschen mit dem anderen konfrontiert, sondern zeigt, wie man durch Liebe Feinde zu Freunden machen kann. Auf diese Weise kämpfen wir für den Weltfrieden.“13
Unter den vielen Frauen und Männern der MRA, die nach dem Krieg in unser Land kamen und um Versöhnung baten, war auch Irène Laure. Französin – Kommunistin – im Widerstand. Die Nazis nahmen ihren Sohn fest und misshandelten ihn so sehr, dass sie ihn bei seiner Heimkehr an der Haustüre für einen Fremden hielt. Voller Hass kam sie ins Konferenzzentrum nach Caux. Dort begegnete sie Deutschen und wollte sofort wieder abreisen. Und wieder entschied eine Frage Buchmans: „Denken Sie denn, dass man Europa ohne die Deutschen wird wiederaufbauen können?“ Sie blieb und bekannte später: „In Caux lernte ich, was Vergebung ist. Es ist etwas ganz Ungeheures. Am Hass kann man nämlich sterben.“ (…) „Um Vergebung zu bitten ist in ihrem Verständnis keine Geste des guten Willens; um Vergebung zu bitten ist eine kühne Tat.“14 Peter Howard erinnert daran: „Sechs Monate später verließen sie und ihr Mann ihre Heimat, um mit der Mannschaft der Moralischen Aufrüstung durch Deutschland zu reisen. Mit ihnen reiste ein junger Franzose, der fünfzehn nahe Verwandte in Hitlers Gaskammern verloren hatte, und ein anderer Franzose, aus dessen Familie zweiundzwanzig Menschen in Konzentrationslager gebracht worden waren, um nie wiederzukehren.“15
2001 hat sich die MRA unter Leitung eines Gandhi-Enkels in „Initiatives of Change“ (IofC) umbenannt.16 Noch immer ist Caux das Zentrum. Allerdings hat sich die Bewegung nach Howards frühem Tod weniger geistlich und mehr rein friedensphilosophisch entwickelt. Schon HKH hatte diese Entwicklung wahrgenommen und hat doch daran festgehalten: „Die Buchman-Leute haben uns Hofmanns den weiten Horizont der Hoffnung eröffnet, in dem Menschen und Völker zu Gott hingewendet werden können.“16
OJC – Kolonie statt Akademie
Durch die Begegnung mit den MRA-Leuten ist bei den Hofmanns etwas in Bewegung gekommen. Gemeinsam mit anderen gründeten sie inmitten der aufbrechenden Studentenunruhen die Bewegung „Sorge um Deutschland“. Aus ihr erwuchs 1968 die „Offensive Junger Christen.“
In Schüler- und Studententagungen rang man um die Jugend. Und wieder war es so: Die großen Wandlungen beginnen bei mir selbst! So war die OJC von Anfang an eine Bußbewegung. Aus der Hinwendung zu Christus kommt die Zuwendung zur Welt. Beides gehört zusammen – aber das zweite ist ohne das erste nicht zu haben. Auch das ist einer der unzähligen MRA-Einflüsse auf die werdende OJC.
Vieles trägt uns bis heute, anderes ist möglicherweise wieder neu zu entdecken. Ich denke u.a. an die morgendliche Stille – das offensive Christsein gegen alles Aggressive und Depressive der Zeit – das Hoffnungs-Verbreitende zur Erneuerung von Kirche und Gesellschaft – das große und weite Denken, weil Gott groß ist und alle Welt in Auge und Herz hat – und nicht zuletzt die bleibende Berufung zum Dienst an und mit einer jeweiligen Jahresmannschaft. So wurde die junge OJC in den folgenden Jahren von einer Tagungsbewegung zu einer Lebensgemeinschaft, von der Akademie zur Kolonie, weil ein revolutionäres Leben konkret erlernt, geübt und gelebt werden muss.
Vielleicht ist aber die stärkste Brücke zwischen MRA und OJC die, dass unser Gründer Horst-Klaus Hofmann die Berufung am Neujahrsmorgen 1968 ausgerechnet in Caux erhielt. Er schrieb einmal darüber: „Ich hatte Gott gebeten, mir zu zeigen, ob er etwas mit meinem Land vorhabe und ob ich daran einen Anteil haben würde. Da las ich nun (in meinem Stille-Zeit-Buch): „Schafft und schult eine geeinte revolutionäre Mannschaft, eine Streitmacht, die Menschen von Gott abhängig macht und in unserer Welt die brennenden Probleme anpackt. (…) Konstruktive Realitäten lassen aufhorchen“. „Der 1.1.68 ist zum Urdatum der OJC-Berufung geworden.“
Von Gestern im Heute lernen für Morgen
Unter den vielen Gaben unseres Gründers sticht die hervor: Gegner zu Freunden zu machen. Eine wahrhaft kühne Tat, um Irène Laure zu zitieren. Brückenbauen durch Vertrauen. Das ist der weit schwierigere Weg – Feinde bekämpfen ist leichter. Diese Inspiration Buchmans, über HKH zu uns gekommen, muss uns bis heute verpflichten. Es ist mühsam, die Konfrontation zu suchen und ihr standzuhalten, meist mit zunächst wenig Aussicht auf Erfolg, und doch lohnt die Mühe der Begegnung. Es ist gewinnbringend, sich nicht in gegenseitigen Verdächtigungen und Feindbildern gefangen zu halten, sondern das gemeinsame Anliegen zu suchen und zu finden. Dazu luden Buchman wie Hofmann vor allem junge Menschen ein. Ersterer schrieb im Mai 1924 auf: „Deine jungen Männer müssen die Propheten eines neuen Zeitalters sein.“ (…) „In Anlehnung an sein Lieblingskapitel – Römer 12 – sprach er dann von den Anpassern (conformers) und den Umwandlern (transformers) (…).“16 Die Quintessenz des Lebens beider ist eben dies: dass junge Menschen zu solchen werden, die sich nicht anpassen, sondern zu solchen, durch die Gott diese Welt wandeln kann. Denn: „Gott ist nicht tot. Gott ist der große Schrittmacher.“17
siehe: Michael Herbst; Gedenket eurer Lehrer; in: Theologische Beiträge, Okt. 2017, S. 295ff ↑
Peter Howard; Aufbruch zum modernen Menschen, S. 211 ↑
Peter Howard; Welt im Aufbruch; S. 62+185 ↑
Howard, Welt, S. 223 ↑
Theophil Spoerri; Dynamik aus der Stille, S. 131 ↑
Howard, Aufbruch, S. 132 ↑
Garth Lean; Der vergessene Faktor, S. 138 ↑
Spoerri a.a.O., S. 6 ↑
siehe Howard, Aufbruch, S. 148 ↑
Lean; a.a.O., S. 322 ↑
Leif Hovelsen; Durch die Mauern – Wege zur Versöhnung, S. 60 ↑
Hovelsen; a.a.O., S. 59 ↑
Hovelsen; a.a.O., S. 79 ↑
Jacqueline Piguet; Was eine Frau vermag, S. 18+102 ↑
siehe: https://www.iofc.org/de/geschichte-kurzer-ueberblick ↑
Howard, Aufbruch, S. 246 ↑