Bild von Horst-Klaus Hoffmann währen einer Konferenz

Verräter herzlich eingeladen

Vom Hitlerjungen zum Jesusjünger

Im letzten Jahrzehnt seines Lebens erinnerte sich Horst-Klaus Hofmann noch einmal, „wie Jesus Christus mit dem Evangelium in mein Leben eingebrochen ist. Seitdem gehöre ich zur Schar seiner Jünger. Damit gebe ich Hoffnung weiter. Sie hat mich durch alle Höhen und Niederlagen meiner Nachfolge getragen.“
Ein Leben voller Wunder und Überraschungen, Abenteuer, aber auch Versagenserlebnisse.

Anfang September 1945, nach nur vier Monaten an der Front, verließ ich zusammen mit dreißig weiteren ehemaligen Soldaten den großen Gefangenentransport Richtung Westen. Mein Entlassungsschein war auf den Wohnsitz meiner Mutter im württembergischen Schorndorf ausgestellt. Er war in russischer Sprache abgefasst, mit Bleistift auf einem grauen A5-Papier. Plötzlich, nahe der sächsischen Stadt Hoyerswerda, holte uns eine russische Streife ein. Sollte sie uns wieder ins Lager zurückholen? Endlich auf deutschem Boden – und jetzt wieder zurück? Nun hieß es: In einer Reihe aufstellen! Hemden ausziehen! Arme hoch über den Kopf! Zwei Russen stehen im Abstand von wenigen Metern mit schussbereiter Waffe. Der Offizier und ein Soldat gehen von Mann zu Mann. Mehrere haben in der linken Achselhöhle Verletzungen. Einer trägt noch seine Blutgruppen-Tätowierung. Sie werden zur Seite genommen, denn die Tätowierung der Blutgruppe war damals ein eindeutiges Zeichen für die SS-Zugehörigkeit. Aber auch alle anderen werden der Reihe nach gefragt: „Du SS?“ Ich dachte: „Alles, nur kein Rücktransport ins Lager. Ich kann nicht mehr.“ Ich antwortete: „Nein.“ Nun konnte ich weitergehen. Aber mein Gewissen schrie auf. Ich hatte gelogen. Tatsächlich fehlte mir diese SS-typische Tätowierung, weil ich an dem Morgen, als unser „Zug“ im Fronteinsatz die Kennzeichnung unterm Arm erhielt, „zufällig“ außerhalb meiner Einheit Dienst als vorgeschobener Gefechtsfeldbeobachter gehabt hatte.

Ein Verräter

Seitdem ist Hoyerswerda für mich verbunden mit Verrat aus Angst und Feigheit, um mein Leben zu retten. Für dieses Nein hatte ich einen hohen Preis bezahlt: In dieser Stunde verlor ich meine Selbstachtung, meine Ehre, das Letzte, was mir noch Halt gegeben hatte. Damit zerbrach meine Identität. Mein Nein von Hoyerswerda konnte ich mir nicht verzeihen. Monatelang versuchte ich mühsam mit der Tatsache fertig zu werden, ein Verräter und Deutscher zu sein. Ich wollte kein Deutscher mehr sein. Die politischen Nachrichten in der Heimat, z. B. die Berichte aus dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, hatten mir die Augen geöffnet über das Ausmaß unserer Schuld und der Schande unserer Verbrechen an den Juden und den Völkern des Ostens. Persönliches Versagen und politische Verzweiflung trafen zusammen. Für das politische Ende des Dritten Reiches bin ich im Lauf meines langen Lebens immer dankbarer geworden. Aber damals war es der Zusammenbruch meiner Welt und aller meiner Hoffnung.

Ein Grenzgänger

Es war der 6. September 1945. Meine Lungen schmerzten. Immer wieder Blutauswurf. Anstrengung und Aufregung, ich bekam Fieber. Ich ging in ein Haus an der Straße, wo eine Frau stand, und bat um etwas zu essen. Sie schaute mich an, gab mir die Hand und lud mich an ihren Küchentisch. Während ich das Vorgesetzte aß, fragte sie mich aus. Als sie erfuhr, dass ich 16 Jahre alt sei, sagte sie plötzlich: „Dann bist du ja so alt wie mein Junge, der ist auch in den Kriegswirren irgendwo verschollen. Ach, ich wünschte, dass ihm jemand Gutes täte. Jetzt brauchst du neue Wäsche. Lass doch mal sehen. Seine Sachen könnten dir passen.“ Kurz darauf hatte ich ein schönes warmes Hemd und neue Kleider lagen bereit. Die Wohltat, einmal geschützt auszuruhen und wieder auf die Beine zu kommen, bleibt unvergessen… Nach ein paar Tagen holte sie vom Dorf einen alten Förster namens Martin Luther. Der nahm sich in der nächsten Nacht meiner an und brachte mich an allen Grenzposten der sowjetischen Besatzungszone vorbei, bis er mich drüben im Westen in Richtung Coburg ungefährdet weiterschicken konnte. So hat ein Martin Luther mir schon geholfen, als ich von dem noch nichts wusste, der im 16. Jahrhundert unserem Volk und der Kirche Jesu Christi geholfen hat. In Coburg gab es auf dem Entlassungsschein den ersten amerikanischen Meldestempel.

Unterwegs im Nirgendwo

Im Sommer 1946 kam ich in ein kleines, katholisch geführtes Lungensanatorium nach Rosenharz am Bodensee. In diesem Lazarett lag ich in einer Abteilung mit einigen jungen, engagierten Katholiken. Am Kopfende unserer Betten hing bei jedem eine Art Tafel, auf der groß der Name und die Konfession aufgeschrieben standen. Die Größe und die Beschriftung der Tafeln erinnerten mich an einen Pferdestall. Wir wurden von Nonnen gepflegt. Da war die Konfession schon wichtig. Ich war der Einzige in der Klinik, auf dessen Tafel stand: Konfession gottgläubig. Manchmal fand ich, dass mir diese Ausnahme verstärkte Zuwendung verschaffte. (Die wollten mich ja bekehren.) Aber mit dem Christsein meiner Umgebung konnte ich nichts anfangen.

Einmal, an Weihnachten, hatte Karl, mein Bettnachbar, einen heftigen Blutsturz, der das nahe Ende ankündigte. Vor der halboffenen Tür sangen drei Schwestern für uns, die wir nicht zu der Weihnachtsfeier in den Festsaal gebracht werden konnten, von der Heiligen Nacht. Und während wir dem Weihnachtslied lauschten, richtete sich Karl auf. Er schien zu horchen. Im Lichtschein unserer Tischkerze sah ich, wie seine hagere rechte Hand sich hob, als wollte er sagen: „Hört ihr‘s?“ Über seine trockenen Lippen kam ein langgezogenes, staunendes „Da“. Dann kroch ein seufzender, schrecklich tiefer Laut aus seiner Brust, und im gleichen Atemzug sank sein Kopf zurück, dann wurde es still. In den nächsten Wochen war ich sehr gereizt und stritt mich viel mit den Christen in meinem Zimmer. Als einer von ihnen das Neue Testament erwähnte, hatte ich keine Ahnung, wovon er sprach. Ich hielt es für eine Art Vermächtnis dieses mir unbekannten Religionsstifters Jesus, der, so dachte ich, seinen Anhängern Bücher und Kleidung als Testament hinterlassen hatte.

Dann kam ich zur Kur nach Bad Mergentheim in ein kleines evangelisches Hilfskrankenhaus mit ungefähr fünfzig Betten. Alle waren belegt mit Kriegsversehrten oder erkrankten kirchlichen Mitarbeitern. Zur täglichen Hausordnung gehörte eine kurze Andacht nach dem Abendessen. Es war Anwesenheitspflicht. Dann kam die Passionszeit, und die Andachten wurden allmählich spannend. Die Jüngergestalten aus den Evangelien wurden eine nach der anderen vorgestellt. Mich beeindruckten diese Männer. Der junge Heimkehrerpfarrer Hans Rieckhof verknüpfte alle diese Erzählungen mit dem Leiden und Sterben von Jesus. Bei der Schilderung von Petrus und Judas erschrak ich: Verrat im engsten Freundeskreis, Verleugnung in der Stunde der Bewährung – das war auch mein Versagen. Ständig musste ich daran denken, wie ich meine Ideale verleugnet hatte, um bei der letzten Grenzkontrolle meinen Kopf zu retten. Was ich getan hatte, konnte ich mir nicht verzeihen. Seitdem hielt ich mein Leben für verwirkt und verpfuscht, sinnlos und ohne Zukunft.

Bei den Mahlzeiten im Speisesaal saßen die Patienten an kleinen Tischen. Überall wurde diskutiert. In unserer Runde waren wir zu dritt: Helmut, ein schwäbischer Medizinstudent, Mitte zwanzig – er war im Krieg Offizier in einer SS-Einheit gewesen –, ich als 19jähriger Invalide. Zwischen uns wurde eine 22jährige Apothekengehilfin, Irmela Eberlein, gesetzt. Sie war in der Jugendarbeit tätig und erholte sich von einer Diphterie-Erkrankung. Die Andachten entwickelten sich zum heißen Thema unserer Tischgespräche. Wir Männer behaupteten, mit Gott und Glauben nichts anfangen zu können: „Was helfen mir die Geschichten von damals?“ Ich argumentierte: „Wenn vor 2000 Jahren ein Jesus mit so einer Überzeugung gelebt hat, dann aber gescheitert ist und hingerichtet wurde, was hilft mir das heute?“

Mitten ins Herz

Eines Morgens fand ich zum Frühstück auf meinem Platz ein schmales schwarzes Büchlein, die Seiten mit Rotschnitt umrandet: ein Neues Testament. Meine Tischnachbarin hatte mir ihre eigene Jubiläumsausgabe geschenkt. Heute kann man sich das kaum mehr vorstellen, dass es 1947 fast keine neuen Bücher gab. Jedes einzelne war eine Kostbarkeit. Irmela hatte ihr Exemplar als kirchliche Mitarbeiterin erhalten – und es nun weitergeschenkt. Im Vorsatz des Buchs fand ich in steiler Blockschrift eine persönliche Widmung. Es war die Antwort auf meine brennende Frage, was die Kreuzigung von Jesus bedeuten soll: „Niemand kann das Geheimnis des Sterbens Jesu fassen, der nichts von eigener Schuld weiß“ (Friedrich von Bodelschwingh). Ich fing an, darin zu lesen, grübelte über den Anfang des Matthäusevangeliums, bestaunte die Bergpredigt und bewunderte die Heilungen in den ersten Kapiteln. Ich wünschte mir, mit diesem Christus zusammen zu kommen, wie das Evangelium von ihm erzählte. Ich wollte aus meiner inneren Zerrissenheit herausfinden, aus Schein und Schuld und aus dem Strudel von Schwermut, in dem ich damals so oft steckte. Nachts versuchte ich zu beten.

Die kleine Hausgemeinde aus unserem Krankenhaus rüstete sich an Gründonnerstag zum Abendmahlsgottesdienst. Man lud mich ein, mitzukommen. Ich sagte mir: „Du gehörst nicht dazu! Wir sind aus der Kirche ausgetreten. Du bist kein Christ, du bist gottgläubig.“ Als gottgläubig bezeichneten sich damals alle die, die nicht zur Kirche gehören wollten. Im Flur traf ich die Hausdame, eine alte schlesische Diakonisse, Schwester Pauline. Ich fragte sie, wozu das Abendmahl gut sei. Diese stille kluge Frau spürte, dass in mir eine Sehnsucht brannte. „Wenn Sie mit Ihrem Leben neu anfangen wollen, dann kommen Sie mit. Jesus selbst hat dazu eingeladen.“ – Etwas Ähnliches stand doch im Matthäusevangelium, ging es mir durch den Sinn: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Mein Joch drückt nicht. Ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen.“ Diese Sätze hatte ich eben erst gelesen. Dort stand tatsächlich „alle“ … Ich erwiderte, ich gehöre aber gar nicht zur Kirche. Ihre lächelnde Antwort beendete unser kurzes Gespräch im Treppenhaus: „Das mit der Kirchenzugehörigkeit, das können Sie später in Ordnung bringen, wenn Sie gefunden haben, was Sie suchen.“

Ein begnadigter Sünder

Die hell-heitere Barockkirche von Bad Mergentheim war voll von Menschen. Das Singen dieser großen Gemeinde überwältigte mich. Die Predigt war vorüber und ich erwartete mit großer Neugierde, wie wohl ein Abendmahl vor sich gehe. Da erschreckte mich die Anweisung des Pfarrers. Er lud dazu ein, jeweils in Zwölfergruppen zum Altar zu treten. Einer von zwölf, Judas, hatte damals Jesus verraten – am Ende meiner Kriegsgefangenschaft war ich selber zu einem Judas geworden. War ich jetzt auf dem Weg zu meinem nächsten Verrat? Bedrückt und verzagt ging ich mit meinem Banknachbarn nach vorne. Die Warteminuten am Altar wurden mir wie ein Jüngstes Gericht. Es war schrecklich. Dazu kam eine echte Heidenangst mit all ihren magisch-archaischen Vorstellungen: Was würde in dem Augenblick geschehen, wenn mir Brot und Wein als Fleisch und Blut in den Mund geschoben würden? Würden sie sich in meinem Mund verwandeln wie Brausepulver? Dann hörte ich und erlebte zum ersten Mal: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist. Christi Blut, vergossen zur Vergebung eurer Sünden, stärke und bewahre euch zum ewigen Leben. – Gehet hin in Frieden.“

Zur Vergebung der Sünden! Während unsere Zwölfergruppe mit Spruch und Segen in die Kirchenbank zurückgeschickt wurde, durchströmten mich tiefe Freude und die Gewissheit: „Das Wort am Altar hat mir gegolten! Gott lebt! Jetzt hat er mir Glauben geschenkt. Er hat mir mein Leben wiedergegeben.“ Mir – dessen Leben doch verpfuscht, verwirkt und sinnlos geworden war. Aber eben hatte ich gehört, dass ein verpfuschtes Leben noch einmal neu anfangen kann. Schon einmal, als 15-Jähriger, war ich eine lebenslängliche Verpflichtung eingegangen. Ich hatte mich für eine Offizierslaufbahn entschieden, weil ich Arzt werden wollte. Mit dem Kriegsende war dieser persönliche Eid hinfällig geworden. In meinem Herzen klaffte seitdem ein Loch. Jetzt hatte mein Leben jedoch neu angefangen. Ich musste mich, wie ich heute sagen würde, nicht länger für eine fremde Sache opfern, sondern gab mich dem hin, der sich für mich geopfert hatte.

Beim Schritt aus der Kirche übertönte der Jubel in mir das Brausen der Orgel. Freude durchpulste mich so sehr, dass ich jetzt kein Dach über mir wollte, sondern nur hohen hellen Himmel. In dem großen Park an der Tauber konnte ich aus meinem übervollen Herzen Gott danken, zu ihm sprechen und ihn für die bitten, die zu mir gehörten, aber noch nichts von Gottes Erbarmen und meinem Glück ahnten. Mein Herz jubelte und weinte gleichzeitig. Als ich spät in der Nacht allein in mein Krankenzimmer kam, hatte ich Gott mein ganzes Leben übereignet und wusste, zu wem ich von nun an gehörte. Ich war erfüllt von dem Glück, endlich ganz befreit zu sein. Dieses Geschenk des Glaubendürfens hatte mich hineingerissen in eine neue Welt jenseits meines Selbst.

Dieses überwältigende Ereignis erschien mir damals als der Höhepunkt meines Lebens. Aber dann musste ich lernen, dass die Nachfolge Jesu Höhen- und Tiefenerlebnisse, Scheitern und Wiederaufstehen mit sich bringt. Die erste Bekehrung blieb nicht die einzige.

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