Ein voller Freudentank
Die letzten Treppenstufen hinauf, einmal nach links und ich stehe in der Küche des Tannenhof-Gästestocks, in der die wöchentlichen Treffen unserer OJC-Einheit stattfinden. Bevor ich den Sitzungsraum betrete, nehme ich bei mir einen leichten Verdruss über eine weitere Sitzung wahr. Muss dieses Treffen wirklich jede Woche sein? Wir werden ja vor allem eins tun: uns beim Reden zuschauen. Wäre es nicht viel einfacher, die zu vermittelnden Fakten und Daten per Mail zugeschickt zu bekommen? Dann könnte sie sich jeder zu Gemüte führen, wenn es in seinen Kram passt. Als ich mich auf den Stuhl hingesetzt habe und überlege, was ich in der Austauschrunde sagen kann, schaue ich in die Gesichter der versammelten Gefährten und entdecke ihre Freude darüber, meine Frau und mich in der Einheit willkommen zu heißen. Ihr Lächeln ist ansteckend, das Funkeln in ihren Augen lässt die verdrießlichen Gedanken zurücktreten. Und plötzlich spüre ich zu meiner Überraschung, worüber ich in den Tagen zuvor gelesen hatte: mein innerer Freudentank füllt sich.
Dass ich innerlich auf Effizienz geeicht bin, ist kaum überraschend. Das westliche Bildungssystem fördert vor allem Fächer (Sprachen und Mathematik) und Fähigkeiten (Logik, Problemlösung, rhetorische Fähigkeiten, bewusstes Denken), die überwiegend in der linken Gehirnhälfte verarbeitet werden. Die rechte Hälfte dagegen nimmt wahr und verarbeitet, was mit persönlicher Identität, Gruppenzugehörigkeit, emotionaler Einstimmung auf andere sowie dem Geflecht von Beziehungen, in das man verwoben ist, zu tun hat. Neue Experimente und Untersuchungen der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass alles, was man wahrnimmt und erfährt, sowohl das Unbewusste als auch das Bewusste, immer denselben Pfad durch das Gehirn nimmt: zuerst durch die rechte Hälfte und dann in die linke. Dabei verarbeiten die Strukturen in der rechten Hälfte schneller als die in der linken. Das bedeutet, dass wir oftmals etwas wissen oder spüren, bevor wir uns dessen bewusst sind. Was die Studien auch gezeigt haben: Das menschliche Gehirn entwickelt sich und arbeitet dann besonders gut, wenn der innere Bindungs- und der Freudentank gefüllt sind. Allan Shore, einer der führenden Wissenschaftler auf diesem Gebiet, definiert Freude als das Wahrnehmen, dass sich jemand freut, mit mir zusammen zu sein, und das Erleben, die Augen von jemandem zum Strahlen zu bringen, weil ich da bin.1 Das Wichtigste dabei ist das Gesicht. Bereits Babys schauen gezielt auf das Gesicht eines anderen Menschen, um Freude zu finden.
Auch ich nehme Freude in den Gesichtern der anderen und das Funkeln in ihren Augen wahr, als sie uns mit erhobenen Gläsern „L’chaim“ zusprechen. Und spüre, wie meine Freude wächst. Staunend wird mir bewusst, dass der Höhepunkt der Thora das aufleuchtende Gesicht Gottes ist, das sich über seine Kinder freut.
Im Aaronitischen Segen heißt es:
Der Herr segne dich und behüte dich! Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig! Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden! (4 Mose 6,24-26)
Gottes Angesicht leuchtet auf, wenn er mich anblickt.
Als ich die Treppe wieder hinabsteige, nehme ich wahr, wie mir ein Lächeln auf den Lippen liegt und ich muss zugeben: Das Treffen hat mich überaus erfreut.
Vgl. Jim Wilder, Miachael Hendriks: The Other Half of Church. Christian Commumnity, Brian Science, and Overcoming Spiritual Stagnation. Chicago 2020, S. 19. ↑