Eine Armlänge Abstand
Dieser Mann – merkwürdig vertraut und doch so fremd.
Ist es der Gärtner?
Jesus kann es nicht sein, denn den würde sie erkennen, oder?
Sie war doch immer in seiner Nähe gewesen – als er im Land umherzog, mit Armen sprach und mit Kindern spielte. Als er Brot verteilte, Tote aufweckte, mit den Pharisäern stritt… Sie war dabei. Sie gehörte zu ihm. Sie wusste, wie er tickte, war vertraut mit seinen Ansichten, konnte seine Stimme unter tausenden erkennen. Alles hatte sie auf diese Karte gesetzt, ihr ganzes Leben ihm gewidmet. Und war sich sicher gewesen, damit Gottes Willen für ihr Leben zu erfüllen. Doch dann war das Unvorstellbare geschehen: Verrat, Verhaftung, ein verlogener Schauprozess und ein grauenhaftes Sterben.
Jesus, der Garant ihres Lebens, war tot.
Was er ihnen von Gott, dem Allmächtigen erzählt hatte, machte nun keinen Sinn mehr.
Wie er sie angestachelt hatte, sich auf den Vater im Himmel zu verlassen, wirkte naiv angesichts dieser zerstörerischen Gewalt.
Was sie hoffnungsvoll eingeübt hatte an Vertrauen und Hingabe, war lächerlich vor der Kulisse des übermächtigen Todes.
Die drei Tage nach Jesu Tod müs sen die dunkelsten im Leben der Maria Magdalena gewesen sein.
Noch viel schlimmer als die Zeiten, bevor Jesus sie gefunden und von ihren Dämonien geheilt hatte. Denn jetzt hatte sie das Leben gekostet. Jetzt hatte sie geliebt. Jetzt hatte sie die Entscheidung getroffen, alles dran zu geben, um dieser Liebe zu folgen.
Die Krise, in der Maria Magdalena und die anderen Jünger sich befanden, war total.
Nichts in ihrem Denken, Fühlen und Glauben war übriggeblieben, das nicht erschüttert worden war.
Ich kann verstehen, dass sie Jesus nicht mehr (er)kennt, obwohl sie es doch so sehr möchte.
Denn eine Krise verändert –
Welten stürzen ein, Abgründe reißen auf, Gewissheiten werden zermalmt.
Maria Magdalena ist nicht mehr dieselbe wie vor diesen dramatischen Tagen.
Und Jesus? Ist er „ganz der Alte“?
Offensichtlich nicht.
Es sind nicht nur die verstörenden Wunden an seinen Händen und Füßen.
Es ist, wie er Abstand gebietet, sie auf Distanz hält, den früheren vertrauten Umgang unterbindet.
Kann Jesus sich verändern,
wenn ich durch eine Krise gehe?
Ich erlebe es so.
„Rabbuni“ nannte Maria ihn.
„Freund“ und „Vertrauter“ waren meine Worte für ihn.
Aber das passt so nicht mehr. Diese Worte können den Riss nicht übertünchen, den die Mächte der Krise in meinen Glauben gerissen haben.
Ich finde nicht zurück zu dem vertrauten Umgang mit dem Jesus, den ich zu kennen geglaubt hatte.
Das ist ein tiefer Schmerz und eine große Verunsicherung.
Jesus erspart sie mir nicht.
Indem er Abstand gebietet, zwingt er mich zur Wahrhaftigkeit und verwehrt mir die ersehnte Rückkehr in vertraute Worte und Bilder.
Denn der Gott, den ich in Chaos und Dunkelheit meiner einstürzenden Welt erlebt habe, ist anders.
Irgendwie unabhängiger, wilder, nicht berechenbar.
Mit diesem Gott muss ich leben lernen.
Das ist mühsam.
Ich schweige und lausche, ob neue Worte in mir wachsen.
Ich trauere und widerspreche, wo mir Gewissheiten über Gott und das Leben zu glatt sind.
Ich warte und setze tastend meine Schritte.
Es ist ein Wagnis, in diese neu-erschaffene Welt hineinzugehen.
Ein Wagnis wie für Noah nach der Flut, wie für Hagar nach der Engelbegegnung am Brunnen.
Wie für Petrus nach dem Hahnenschrei, wie für Maria Magdalena, die gesandt wird, um den Brüdern und Schwestern zu bezeugen:
Jesus lebt.