Gemälde - Jesus bei der Reinigung des Tempels

Ungezähmt

Annäherungen an einen aggressiven Christus

Manchmal verspüre ich bei Gottesdiensten ein Unbehagen, wenn über Jesus gepredigt wird. Zuweilen wundert mich, welch einseitiges Bild vom Sohn Gottes in Lobpreisliedern, die ich an sich gerne mag, gezeichnet wird. Am meisten irritiert mich aber das zunehmende Bemühen, Jesus dem Kirchenvolk als einen woken, genderneutralen und gezähmten Influencer zu vermitteln. Soll der wirklich so gewesen sein, frage ich mich dann als männliches Wesen?
Eines ist richtig: Jesus ist barmherzig, wendet sich in einzigartiger und empathischer Weise den Schwachen, den Witwen und Ausgegrenzten zu. Seine Liebe ist hingebungsvoll und selbstlos, seelsorgerlich zugewandt und solidarisch mitleidend – das gehört zu seinen herausragenden Eigenschaften, und diesen Jesus möchte ich nicht missen. Doch tun wir ihm recht, wenn wir unser Jesusbild auf diese Qualitäten reduzieren? Er ist so viel mehr und zeigt ebenso eine aggressive Seite, die gewollt oder ungewollt unterbelichtet bleibt.

Der abgelöschte Mann

Warum ist diese andere Seite Jesu so wichtig? In Gesprächen mit anderen Männern fällt häufig einer der folgenden Sätze: „Als Mann funktioniere ich nur noch“, „Mein Beruf macht mir schon lange keine Freude mehr“ oder „In meiner Ehe läuft kaum noch etwas. Alles irgendwie Routine. Erotik – was ist das?“ Der Ist-Zustand ist zur Norm geworden: ein braves Abstrampeln der beruflichen Anforderungen, der To-do-Listen und der gemeindlichen Pflichten im Hamsterrad des Alltags, dazu ein allmähliches Versumpfen vor dem Bildschirm. Ein Leben im abgelöschten Dauerzustand – äußerlich zwar noch lebendig, innerlich aber schon längst wie tot. Dabei ist Jesus der lebendige Mann par excellence, mit einer aggressiv-vollmächtigen Seite, die uns Männern oft abhanden kommt.

Aggression – ein Zugang

„Aggression und Mann-Sein“ hinterlassen als Begriffe oft einen bitter-ambivalenten Geschmack auf unserer Zunge. Entweder weil wir selbst Opfer von Gewalt waren. Oder weil wir unsere Aggression nicht im Griff haben. Und weil unsere Kultur aggressives Handeln streng ahndet und unterbindet. Das gebetsmühlenartig vorgetragene feministische Mantra „Mann = Macht, Gewalt, Herrschaft“ haben viele Männer verinnerlicht und schämen sich dafür: Der Mann ist also per se ein Täter und grundsätzlich gewalttätig. Ohne dieses toxisch Männliche wäre die Welt eine friedlichere und bessere.
Egal welcher kirchliche Hintergrund: Wenn ich frage, ob Mann einen positiven Zugang zu seiner Aggression hat, schrecken viele zurück, blicken mich irritiert an oder hauen gleich mal ein defensiv-prophylaktisches Bekenntnis raus: „Ich bin doch gegen Gewalt!“ – Außer in Filmen oder Videospielen, da feiern wir die Helden, schießen, schlagen und morden, was das Zeug hält.

Ein ambivalentes Thema?

Aggression ist ein ambivalentes Thema. Hier hilft das lateinische Verb „aggredi“ weiter, den positiven Gehalt zu entdecken. Es bedeutet so viel wie: herangehen, Dinge in Angriff nehmen, etwas sichern und beschützen, Ziele hartnäckig verteidigen. Daran ist erst einmal nichts auszusetzen. Was wäre das für eine Welt, in der wir die Ziele nicht mehr hartnäckig verfolgen und verteidigen, auch wenn sie uns herausfordern, vielleicht sogar überfordern?
Aus Aggression wird dann Gewalt, wenn die eigene Kontrolle versagt bzw. eine beabsichtigte Verletzung der anderen Person angestrebt wird.

Zielgerichtete Abgrenzung

Jesus ist der Prototyp eines Mannes, der eine vollmächtige und integrierte Form der Aggression lebte. Bei aller Barmherzigkeit und Liebe konnte er sich unbeugsam vom Bösen abgrenzen oder sich auch mal heftig anlegen mit Menschen und Mächten: Die Abweisung des Widersachers in der Wüste ( Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: ‚Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.‘ ), die zahlreichen Auseinandersetzungen mit den Pharisäern ( Ihr Heuchler! ), die Zurechtweisung seines engsten Jüngers Petrus ( Weiche von mir, Satan! ) oder der Rausschmiss der Händler aus dem Tempel in Jerusalem mit Geißel und Drohworten sind zweifelsfrei Ausprägungen seiner aggressiven Seite. Nie blinde Wut, sondern begründete Vehemenz, auf das größere Ziel seines himmlischen Vaters ausgerichtet. Sogar seinen bejahten Gang nach Golgatha zur Kreuzigung kann man als aggressives Streben bezeichnen, wenn man sich die lateinische Definition dieses Begriffes vor Augen hält.

Gute Aggressivität als zärtliche Beständigkeit

Die spanische Familienärztin, Sexual- und Psychotherapeutin Dr. Teresa Suárez del Villar schreibt über die „gute Aggressivität“: „Die Aggressivität ist ein tertiäres Geschlechtsmerkmal. Wenn sie erzogen wird, schenkt sie Männern die Kraft, die Welt zu verändern. Sie hängt offenbar mit dem Testosteronspiegel zusammen, und es ist schön, wenn ein Elternteil hilft, diese Tugend zu modulieren, zu bearbeiten, vor allem bei den Söhnen, damit sie zu einer Tugend wird. Die Aggressivität kann von der äußersten Zärtlichkeit bis hin zur Gewalt gehen, aber der gute Weg wandelt sie in eine zärtliche Beständigkeit. Männer lernen, nicht gewalttätig zu sein, sondern beständig, mit einer zärtlichen Beständigkeit zu leben. Man kann die Aggressivität als Gewalt verstehen, aber es ist nicht das, worüber wir hier reden. Vielmehr reden wir von der Aggressivität als einer Energie, die den Menschen innewohnt, vorwiegend den Männern. Man kann eine solche Energie steuern und sie in eine Fähigkeit verwandeln, zu begegnen, zu helfen, Mut zu haben. Es stimmt aber, dass es im Extremfall die andere, gefährlichere Möglichkeit gibt, nämlich, dass sie sich als Gewalt ausdrückt und Leiden verursacht.“1

Hartnäckig wirkungsvoll

Unzählige weitere Vorbilder zeigen, wie Aggression ohne Gewalt fruchtbar werden kann: Dietrich Bonhoeffer, Viktor E. Frankl, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, die Geschwister Scholl und viele andere. Gewaltfrei, aber klar, unablässig und wirkmächtig verfolgten sie ihr Ziel. Hingabe, Güte, Barmherzigkeit sowie Klarheit, Zielstrebigkeit und Hartnäckigkeit sind hier keine Gegensätze, sondern bilden die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Beide gilt es zu kultivieren und zu fördern. Ein gesundes aggressives Potential hilft uns als Männer, aus dem Möglichen in das konkrete JA des Lebens hineinzufinden.


  1. Teresa Suárez del Villar, Ausgewählte Aspekte der Theologie des Leibes, in: Surzykiewicz, Janusz u. a. (Hg.), Liebe, Leib und Leidenschaft. Personsein aus der Sicht der Theologie des Leibes, Sankt Ottilien 2016, S.167. 

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