Beitragsbild zum Text: Europa hat etwas zu verlieren von Thomas Sören Hoffmann

Europa hat etwas zu verlieren

Ein Blick auf das Erbe und die aktuelle Kriese der Wissenschaftsfreiheit

Das Element, in dem Wissenschaft alleine gedeihen kann, ist die Freiheit. Europa, dessen eigentliche Geschichte man als ein mehr als 2500jähriges Ringen um Freiheit – ihre Bedeutung und Implikationen – auffassen kann, ist darum nicht zufällig auch der Kontinent, der die Wissenschaftsidee in beispielloser Weise entfaltet und einen ganzen Kosmos von Wissenschaften eben als Frucht der Freiheit hervorgebracht hat.

Europäisches Erbe – die Emanzipation des Denkens

Wenn man will, mag man Freiheit und Wissenschaft auch die zwei Königskinder nennen, die der europäische Geist gezeugt hat und um deren standesgemäße Ausstattung es ihm in allen seinen Unternehmungen ging. Um hier nur einige Stationen zu nennen: Den Griechen verdanken wir das erste konsequente Nachdenken über das, was „Wissenschaft“ im Unterschied zu „Meinung“ und „Erfahrungswissen“ ist – wir verdanken ihnen die ersten systematisch verfahrenden Beweis- und Methodenlehren, die ersten Untersuchungen zu den Formen des Denkens und Erkenntnistheorien, hinter deren Niveau bis heute niemand ungestraft zurückfallen kann. Den Römern verdanken wir dann die erste wissenschaftliche Bearbeitung des Rechts, welche ebenfalls bis heute Maßstäbe setzt – in Europa war damit der „Kadi-Justiz“, wie wir sie aus dem islamischen und dem ostasiatischen Bereich kennen, von vornherein der Boden entzogen – die Willkür im Recht war, wo sie auftrat, als Problem immer schon kenntlich gemacht.
Das geistig so regsame europäische Mittelalter dann hat neben dem Kampf von Kaiser und Papst vor allem den Kampf von Glauben und Wissen ausgefochten – einen Kampf, an dessen Ende nicht zuletzt der ausdrückliche Verzicht der Hüter des Glaubens stand, sich in den Gang der nicht-theologischen Wissenschaften einzumischen. Statt anderer sei hier Albertus Magnus genannt, der als Leiter des „Studium generale“ der Dominikaner in Köln Philosophie und Naturwissenschaften der Fuchtel der Theologen entzog und dem freien Vernunftgebrauch überließ. Die Neuzeit schließlich entdeckte zunächst die kreative Funktion der Meinungsfreiheit auch für die Wissenschaft: Sie entdeckte den Sinn der noch gar nicht bewiesenen Hypothese, des Gedankenexperiments, des abstrakten Modells – Kopernikus verdankte seine neue Kosmologie einem mathematischen Gedankenspiel, Galilei sein Fallgesetz der Bereitschaft, einer Berechnung auch gegen den Augenschein zu glauben. Außerdem aber justiert die Neuzeit das Verhältnis der zunehmend an Institutionen gebundenen Wissenschaft zu dem neu entstandenen souveränen Staat neu. Es scheint dabei auf den ersten Blick, dass man hier so etwas wie die Quadratur des Kreises versucht: Man will auf der einen Seite den Staat dafür gewinnen, Träger der Wissenschaftsinstitutionen zu sein; auf der anderen Seite aber will man ihn daran hindern, diese Institutionen im Kurzschluss seinen eigenen Interessen dienstbar zu machen. Dass diese „Quadratur“ für eine geraume Zeit gelang, kann man getrost als eine der hellsten Sternstunden des Abendlands ansehen. Das eigentliche Symbol dieser Sternstunde ist noch immer die Humboldtsche Universitätsidee, und ihr kompaktester Ausdruck im Recht findet sich in der Frankfurter Reichsverfassung von 1849, in der es hieß: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.“ Wir wissen zwar, dass die sogenannte „Paulskirchenverfassung“ niemals wirklich in Kraft getreten ist. Dem österreichischen Kaiser Franz Joseph aber gebührt der Ruhm, den Frankfurter Satz zur Wissenschaftsfreiheit im Wortlaut in das „Staatsgrundgesetz“ seines Reiches aufgenommen zu haben, das er 1867 in Kraft setzte.

Freilich: Inzwischen ist Europa älter, wenn nicht überhaupt alt geworden, und es besteht ernster Anlass zu der Frage, ob der Kontinent die alte Geschichte von den zwei Königskindern Freiheit und Wissenschaft noch lebendig fortzuschreiben vermag.
Dagegen spricht einiges; wir verfolgen den Gang der Dinge an drei Etappen.

20.Jahrhundert – im Griff totalitärer Ideologien

Im Lande Humboldts hat die Universität im 20. Jahrhundert eine Gleichschaltung durch zwei Ideologien erlebt, deren Folgen eindeutig über das Ende der betreffenden Ideologien – des Nationalsozialismus und des real existierenden Sozialismus – hinaus wirksam waren. Von Karl Michaelis, dem bedeutenden Zivilrechtler, der das ganze letzte Jahrhundert in seinem Auf und Ab erlebt hat, ist das Wort überliefert, dass, „wer nicht vor 1918 gelebt hat, auch nicht weiß, was Freiheit ist“. In der Tat kommt niemand an der Beobachtung vorbei, dass im deutschen Kaiserreich ein – gemessen an den heutigen Spielräumen – nahezu unbeschränktes Meinungsspektrum öffentlich entfaltet werden konnte, wie denn die damals gedruckten Schriften von sagen wir Nietzsche und Marx Passagen enthalten, für die sich heute kein Verleger mehr fände, wenn es sich um Gegenwartsautoren handelte. Der Bruch mit der europäischen Idee der Wissenschaftsfreiheit ereignete sich aus mehreren Gründen. Sie ereignete sich zunächst deshalb, weil die beiden genannten Ideologien behaupteten, eine „wissenschaftliche“ Basis zu haben und schon darum die Hand auf die Wissenschaftsinstitutionen legten, die dieser Behauptung nur allzu leicht hätten gefährlich werden können. Zugleich sah man jetzt die Möglichkeit, die Universitäten in Kaderschmieden zu verwandeln, und allenfalls in technischen Wissenschaften ließ man Spielraum für Neues, hoffte man doch, die Ergebnisse „nutzen“ zu können. Was dabei „reine“ NS- oder DDR-„Wissenschaft“ war, erwies sich rasch als des Papiers nicht wert, worauf es gedruckt war, und die betreffenden Hinterlassenschaften verströmen noch immer jene unverwechselbare Stickluft, wie sie nur die schlechteste aller Parodien auf die Erkenntnis, das ideologische Auftragswissen, auszudünsten vermag.

„1968“ – die Instrumentalisierung der Wissenschaft

Für die zweite Etappe mag hier als Kürzel „1968“ stehen. Uns geht es hier darum, daran zu erinnern, dass diese „Revolte“ tatsächlich ein gezielter Angriff auf die nach dem Zweiten Weltkrieg wiederher­gestellte Verbindung von Wissenschaft und Freiheit im Sinne der Humboldtschen Universitätsidee war. Immerhin hatte das deutsche Grundgesetz in Artikel 5 an den Paulskirchenparagrafen zur Wissenschaftsfreiheit angeschlossen und damit klargestellt, dass der Staat die Wissenschaft und ihre Lehre als genuine Freiheitstätigkeit anerkennt und sie deshalb auch vor jeder Inanspruchnahme von außen schützt. Dagegen beriefen sich die „Akteure“ von 1968 auf die elfte Feuerbachthese von Karl Marx: auf jenen nicht eben übermäßig intelligenten Satz also, den die SED unmittelbar vor dem Aufstand vom 17. Juni 1953 im Foyer der Berliner Humboldt-Universität hatte in Marmor meißeln lassen und der da lautet: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern“. Marxisten aller Grade haben diesen Satz immer als Fanal für die Abkehr von der angeblich „bürgerlichen“ Theorie und als Beginn einer „Philosophie der Tat“ verstanden. Mit ihm im Rücken wollte man vor allem Ballast loswerden: den Ballast des Begründenmüssens eigener Thesen etwa, die Belästigung aber auch durch die Tatsache, dass es von vielen Dingen eben verschiedene „Interpretationen“ gibt, am Ende gar die Last einer Verpflichtung auf Wahrheit, die insbesondere dann so viel Stress verursacht, wenn man den Besitz eines Megafons schon für den hinreichenden Ersatz für Geist und Argumente hält.
Näher besehen betrieben die 68er zwei Projekte: Das eine war der Versuch, die Wissenschaft gegen die Freiheitsgarantie des Grundgesetzes „gesellschaftlich“ in Anspruch zu nehmen, was in der Regel bedeutete: ihr eine Parteilichkeit für den eigenen Standpunkt aufzunötigen und sie dabei „sozialtechnologisch“ umzufunktionieren. Dieser Versuch erstreckte sich wie im Nationalsozialismus und in der DDR primär auf die „geisteswissenschaftlichen“ Fächer (die jetzt nur nicht mehr so heißen sollten) und allenfalls die Psychiatrie, während Übergriffe auf die Natur- und Ingenieurwissenschaften eher ausblieben. Das andere Projekt betraf das Zum-Schweigen-Bringen all derer, die sich weiterhin auf ihre Freiheit als Forscher und akademische Lehrer beriefen, wobei das „Bestreiken“ und Stören von Vorlesungen noch zu den sanfteren Mitteln zählte. Besonders perfide war das systematische In-die-Enge-Treiben einzelner, und zwar gerade dann, wenn diese guten Willens waren, mit den „Rebellen“ ins Gespräch zu kommen. Ein bedrückendes Beispiel hierfür ist der Heidelberger Philosoph und Mediziner Jan van der Meulen, ein hochbegabter „konservativer“ Kopf aus den Niederlanden, den die selbsternannte Spitze des Fortschritts systematisch in den Selbstmord getrieben hat. Van der Meulen hat die „Jagdinstinkte“ der 68er schon dadurch geweckt, dass er erkennbar keiner Schule oder Fraktion angehörte, sondern ein Denker auf eigene Rechnung, deshalb aber auch ohne größeren Rückhalt bei den Kollegen war. Hans-Georg Gadamer hat in seinem Nachruf auf van der Meulen festgehalten, was dessen Verbrechen war: Er hatte „sich unerschrocken für die unantastbare Würde des Katheders eingesetzt“ – eben deshalb musste er weg. Dazu ein kleiner Nachtrag: Als ich vor vielen Jahren einmal meinen Doktorvater, der Ende der 60er Jahre am Philosophischen Institut in Frankfurt wirkte, danach fragte, wie groß der Anteil der aktiven „68er“ an der Studentenschaft eigentlich gewesen sei, antwortete er ohne langes Überlegen: „Zehn Prozent“. Auf meine nächste Frage, wie sich denn die anderen neunzig Prozent zu dem, was geschah, verhalten hätten, war die Antwort: „Die duckten sich weg!“ Die Auskunft ist aufschlussreich auch für die bleibenden Folgen, die die massive Attacke von 1968 auf Freiheit und Wissenschaft hinterlassen hat. Auch hier haben sich diejenigen, die hätten einschreiten können, weggeduckt, während die damals Aktiven in bildungspolitische Schlüsselpositionen einrückten. Der geistige Mehltau, der heute über weiten Teilen unserer Wissenschaft liegt, hat vielleicht mehr als mit den Ideologen mit den gelernten Wegduckern zu tun.

Die dritte Etappe schließlich kann man als die Etappe der Ökonomisierung und „Europäisierung“ der Wissenschaft und ihrer Institutionen bezeichnen, wobei beide Prozesse auch zusammenhängen – das Wort „Europäisierung“ erscheint hier übrigens in Anführungszeichen, weil die Institutionen der EU gemeint sind, also gerade nicht Europa als Kulturraum und Geistesmacht. Die Ökonomisierung umfasst dabei verschiedene Aspekte, von denen wir drei herausgreifen.

… effizient

Der erste Aspekt ist, dass man sukzessiv „lernte“, die Hochschulen nicht mehr nach der Eigenlogik der Wissenschaft, sondern zunehmend unter rein betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten und sie so auch zu führen. Vorbilder dafür gab es im angelsächsischen Bereich schon länger, in Ländern also, in denen Universitäten vielfach im Wettbewerb um eine Studiengebühren zahlende „Kundschaft“ stehen und ein zu geringer „Prüfungs-Output“, eine zu hohe Durchfall-Quote oder zu häufige Beschwerden über einen Dozenten aus beliebigen Gründen auch rasch zu dessen Entlassung führen können. Wenn man in Deutschland dank der grundrechtlich verankerten Wissenschaftsfreiheit noch immer irgendwie am Gedanken des Selbstzwecks wissenschaftlicher Erkenntnis orientiert ist (weshalb britische Kollegen die deutschen Verhältnisse auch heute noch als „Paradies“ bezeichnen können), heißt dies freilich nicht, dass sich nicht auch bei uns Veränderungen vollzogen hätten, die mit der Zurückdrängung der akademischen Selbstverwaltung beginnen und bei politischen Kosten-Nutzen-Überlegungen bezüglich ganzer Fächerfamilien enden. Ich erinnere mich, dass bereits Ende der 90er Jahre ein Philosophisches Institut in Nordrhein-Westfalen im Gespräch mit dem Ministerium um Mittel- und Stellenabbau die Frage gestellt bekam, „welchen Beitrag denn das Fach Philosophie zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts NRW leiste“. Wenn in Nordrhein-Westfalen, aber auch anderen Ländern inzwischen nicht nur die sogenannten Orchideen-Fächer, sondern gut etablierte Disziplinen wie die Byzantinistik von der Dezimierung, wenn nicht der Ausrottung bedroht sind, hat dies ökonomische Gründe – und verrät zugleich sehr viel über den kulturellen „Anspruch“, den geistigen Horizont, den die Bildungsbürokratie noch vertritt.

… stromlinienförmig

Der zweite Aspekt der aktuellen Ökonomisierung der Wissenschaft besteht in der Schaffung von Anreizsystemen, mit denen man vor allem die Forschung in bestimmte Richtungen zu lenken versucht. „Forschung auf Zuruf“ hat der Deutsche Hochschulverband schon vor Jahren ein System genannt, in dem Drittmitteleinwerbungen für Professoren bis hin zur Höhe ihres Gehalts immer wichtiger werden, zugleich aber die einwerbbaren Drittmittel von vornherein an bestimmte Themen und Programme gebunden sind. Es erfordert heute keinerlei intellektuellen Aufwand, sondern eher das Gegenteil, um zu Themen wie „Digitalisierung“, „Nachhaltigkeit“ oder „Gender Studies“ hohe Geldbeträge einwerben zu können. Anders würde es aussehen, wenn der Antrag dem Embryonenschutz, der kritischen Koranforschung oder den Gründen für die beachtlichen Erfolge der Donald Trumpschen Wirtschaftspolitik gewidmet wäre. Die Beispiele zeigen, wie es inzwischen möglich ist, ohne das Prinzip der Wissenschaftsfreiheit eigentlich anzutasten, dennoch die Wissenschaft in eine politisch gewünschte Richtung zu treiben.
Ein Schelm, der Böses dabei denkt oder sich gar an totalitäre Zeiten erinnert fühlt!

… enthemmt

Der dritte Aspekt schließlich, der hier genannt sei, betrifft eine „Enthemmung“ der Forschung vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich, die wir seit längerem erleben und zu der der Streit um die verbrauchende Embryonenforschung vor etwa zwanzig Jahren nur ein kleines Präludium war. Wenn heute in molekularbiologischen Labors wie selbstverständlich mit der Zusammenführung von menschlichem und tierischem Genmaterial operiert und damit Chimären – also Tier-Mensch-Mischwesen – erzeugt werden, ist der leitende Zweck die Erkundung von Möglichkeiten, menschliche Organe eines Tages in Tieren züchten zu können. Ebenso sollen synthetische Embryonen erzeugt werden, die in keinem echten Abstammungszusammenhang mit existierenden Menschen stehen und die deshalb scheinbar unproblematisch als Ersatzteillager für natürliche Menschen bereitstehen sollen. Der immense Aufwand, der hier betrieben wird und für dessen Ausweitung inzwischen auch prominente deutsche Wissenschaftsinstitutionen kämpfen, ist in letzter Instanz durch die hohen Gewinnerwartungen der Nutznießer oder Finanziers dieser Forschungen „gerechtfertigt“. Einsprüche, die sich auf die Menschenwürde, die Nicht-Instrumentalisierung und das Verdinglichungsverbot des Menschen beziehen – Einsprüche also, die die Freiheitsnatur des Menschen gegen seine biotechnologische Vernutzung ins Spiel zu bringen versuchen – werden in diesem Kontext selten überhaupt wahrgenommen. Sie sind in der Perspektive einer technisch einsetzbaren Wissenschaft, die sich in vielfacher Hinsicht „auszahlt“, schon herausgerechnet.

„Europäisierung“ – eine forcierte Nivellierung?

Wie erwähnt hängt der Prozess der Ökonomisierung mit dem der „Europäisierung“ der Wissenschaft zusammen. In der Tat kann man zum Beispiel ohne große Mühe feststellen, dass die Institutionen der EU über das Anreizsystem auf Forschungsthemen Einfluss zu nehmen versuchen – was mit den enormen Budgets, die hier zu verteilen sind, auch leicht von Erfolg gekrönt ist. Die „Europäisierung“ betrifft aber nicht nur die Forschung, sondern auch die Lehre. Was diesen Punkt angeht, konnten wache Geister schon im Jahre 2000 bei der Proklamation der sogenannten „Charta der Grundrechte der EU“ bemerken, dass die Reise jedenfalls nicht im Sinne der Humboldtschen Universitätsidee und des Paulskirchensatzes „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei“ weitergehen sollte. Der Artikel 13 der Charta lautet: „Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet.“

Unverzweckt und unverschult – Freiheit der Lehre

Auffällig ist hier sofort, dass die Forschung, deren Freiheit anerkannt wird, von der akademischen Sphäre abgelöst wird – was man so deuten kann, dass es nicht zuletzt um neue „Freiheiten“ der Forschung in den Laboratorien der Chemie- und Pharmakonzerne geht. Auffällig ist zweitens, dass von einer wesentlichen „Freiheit der Lehre“ nicht mehr die Rede ist. Diese „Freiheit“ verschwindet vielmehr in der eher nebulösen „akademischen Freiheit“, welche die EU nur „achtet“. Mit diesem Achtungsversprechen tritt hier ein Souverän auf den Plan, der diese Achtung auch unterlassen könnte, wenn er wollte – anders als der deutsche Gesetzgeber, der eine in sich freie Forschung und Lehre voraussetzt und sich selbst durch diese begrenzt. Ist es nun aber ein Zufall, dass diese ziemlich deutliche Rücknahme der Freiheit der Lehre just zu dem Zeitpunkt erfolgt, zu dem auch der so verheerende sogenannte „Bologna-Prozess“ angestoßen wird? Dieser Prozess wurde bekanntlich weder in Rücksprache mit den Hochschulen noch mit Begründungen, die aus der Idee der Wissenschaft folgten, alleine von der Bildungsbürokratie initiiert und den durchaus heterogenen Wissenschaftslandschaften in den EU-Ländern mehr oder weniger brutal übergestülpt. Das Ergebnis ist längst ein vor allem in den wissenschaftsstarken Ländern deutlich schlechteres Bildungsniveau der Hochschulabsolventen, ist eine Verschulung des Studiums, das vielfach kaum noch „wissenschaftlich“ genannt werden kann, oder auch eine bis dato unerhörte Gängelung der Lehre, die etwa dadurch ermöglicht wird, dass für die Teilnahme an Lehrveranstaltungen, die das Curriculum nicht vorsieht, keine „Kreditpunkte“ vergeben werden. Ich illustriere dies am Beispiel meiner eigenen ersten Vorlesung an der Ruhr-Universität in Bochum, die ich der Philosophie der Renaissance widmen wollte, über die ich kurz zuvor intensiv geforscht hatte. Mir wurde von der Verwaltung mitgeteilt, dass ich diese Vorlesung nicht halten könne, da das Curriculum den Studieninhalt „Philosophie der Renaissance“ nicht vorsehe. Ich berief mich auf meine Venia legendi, die mir erlaubt, in Wahrnehmung meiner Lehrfreiheit über alles zu lesen, wozu ich meinte, einen wissenschaftlichen Beitrag leisten zu können. An diesem Punkt kam die Verwaltung nicht vorbei, woran man übrigens etwas über den Sinn des von Bildungsbürokraten so gerne verpönten „deutschen Sonderweges“ der Habilitation lernen kann: Die Habilitation verleiht dem einzelnen nämlich gerade das Recht, ohne Rückfrage bei der Bürokratie oder auch nur den Kollegen alles zur Sprache zu bringen, was er im Interesse der Wissenschaft zur Sprache bringen will. Gleichwohl hat auch die Verwaltung ihre Mittel, und so wurde mir mitgeteilt, dass die von mir gewünschte Vorlesung zwar gehalten, aber nicht zum Erwerb von „Kreditpunkten“ genutzt werden könne, für die Studenten also „wertlos“ sei.
Ich habe mich umso mehr gefreut, im Ergebnis vor etwa 40 Personen zu lesen, für die der Besuch der Vorlesung offenbar auch ohne „europäische Kreditpunkte“ keineswegs wertlos war. Das Beispiel zeigt in jedem Fall etwas von dem Würgegriff, in dem sich die europäischen Hochschulen heute vielfach befinden.

Wissenschaft – freier Austausch der Erkennenden

Das Problem steigert sich dadurch, dass das aktuelle System die Studenten als wesentlich passive Wesen voraussetzt, die an die Hand genommen und von Regal zu Regal, von Prüfung zu Prüfung geführt werden wollen, um am Ende doch nicht wirklich „wissend“ zu sein, sondern höchstens „kompetent“ und mit dem Linsengericht dieser „Kompetenz“ dem „lebenslangen Lernen“ überantwortet zu werden, in dessen Mühlen der „flexible Mensch“ (Richard Sennett) unserer Zeit vergessen soll, was er eigentlich ist: nämlich zur Freiheit und zur Erkenntnis bestimmt, wie nur er als Gottes Ebenbild sie auf dieser Erde besitzen kann.
Kommen wir zum Schluss noch einmal auf den Gedanken zurück, dass die eigentlich europäische Geschichte eine Geschichte des Ringens um Freiheit und dass Wissenschaft stets eine Frucht dieser Freiheit ist. Freiheit, ohne welche Wissenschaft so wenig sein kann wie der Fisch ohne Wasser, hat hier verschiedene Dimensionen. Sie meint zunächst den Freimut, den jemand schon mitbringen und dann entfalten muss, der in der Wissenschaft Fuß fassen will. Sie meint sodann die von keiner Nebenabsicht geleitete Bereitschaft, Gedanken sich im freien Austausch der Erkennenden freisetzen und bewähren zu lassen. Sie meint zuletzt die Freiheit der Institutionen der Wissenschaft, die niemals äußeren Interessen wie denen der Politik, der Wirtschaft und Weltanschauung dienstbar gemacht werden können. Wenn wir hier über eine Krise der Wissenschaftsfreiheit gesprochen haben, dann betrifft diese Krise alle drei der genannten Aspekte: den individuellen, den kommunikativen und den institutionellen Aspekt.
Ein erster Schritt aus der Krise ist dann aber umso mehr der Freimut und die biblische parrhesia (griech: Redefreiheit) des einzelnen, der aus den Gehäusen der Geistlosigkeit, den Sprachgefängnissen und „politisch korrekten“ Gängelungen aufbricht, um zu sagen, was zu sagen ist.
Auch das gehört zu Europas Freiheitsgeschichte, dass immer wieder einzelne in die Freiheit geführt haben und das Wort fanden, das die Ketten löst. So alt Europa auch ist, ist diese Geschichte der „begeisterten Einzelnen“ sicher noch nicht zu Ende. Sie wird, mit Gottes Hilfe, weitergehen.

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