Mut, loszulassen – Mut, hinzustehen
Konstantin Mascher im Gespräch mit Dr. Christl R. Vonholdt
Konstantin Mascher: Christl, du gehörst zum OJC-Grundgestein und bist eine offensive junge Christin der ersten Stunde gewesen.
Christl Vonholdt: Ich habe durch meine Mutter, die mit der Evang. Marienschwesternschaft verbunden war, von der ersten OJC-Tagung erfahren. Damals war ich fünfzehn. Nach dem Abitur habe ich ein Jahr in der Bensheimer Jahresmannschaft verbracht. Viel später ging ich auf Anregung des Gründerehepaars Hofmann als Ärztin nach Kwazulu/Südafrika, wo die OJC einige Projekte unterstützte. Als nach fast sieben Jahren mein Dienst dort zu Ende ging, kehrte ich nach Reichelsheim zurück und entschied mich, in der OJC zu bleiben. Ich fand hier eine neue Berufung.****
KM: Was lag im Institut obenauf, als du 1993 dazu gerufen wurdest?
CRV: Es ging damals viel um Afrika, um die demokratische Entwicklung in Südafrika, auch um Namibia. Wir hatten verschiedene Partnerprojekte in afrikanischen Ländern und stets auch Gäste von dort: schwarze Studenten, Pfarrer, Politiker, Wissenschaftler. Ab Mitte der 90er Jahre wurden einige Projekte unabhängiger. Ralph Pechmann, der im Institut arbeitete, wurde Studienleiter in der Tagungsstätte Schloss Reichenberg. Andere Themen im wiedervereinigten Deutschland rückten in der OJC in den Blick wie Kleinkinderziehung, Familien- und Bildungspolitik.
KM: Und das kontroverse Thema Homosexualität, wie seid ihr dazu gekommen?
CRV: Bereits früher waren Menschen mit ungewünschten homosexuellen Empfindungen zu uns gekommen und baten um seelsorgerliche Unterstützung. Die OJC hatte dazu Tagungen mit einem erfahrenen niederländischen Psychotherapeuten und Psychoanalytiker angeboten. Horst-Klaus Hofmann schlug vor, dass ich mich über den Stand der Forschung im Bereich von Identität, Sexualität und Therapie informiere. Im September 1994 luden wir Fachleute zu einem internationalen Symposion ein: Forscher, Therapeuten, aber auch Betroffene, die mit ihrer ungewünschten homosexuellen Anziehung rangen oder die ihr heterosexuelles Potenzial entwickeln konnten und Familien gegründet hatten. Eingeladen waren vor allem kirchliche Mitarbeiter, aber nur wenige kamen. Dafür umso mehr engagierte Laien aus Pädagogik und Seelsorge.
KM: Wie ging es nach dem Symposion weiter?
CRV: Für uns war das Symposion ein Augenöffner. Wir verstanden, dass der Kern des inneren Konflikts bei Menschen mit ungewünschten homosexuellen Anziehungen nicht das sexuelle Begehren an sich ist, sondern tiefliegende Bindungsverletzungen und Verunsicherungen in der Identität als Mann oder Frau. Dieser Zugang, den uns damals Dr. Joseph Nicolosi nahebrachte, erwies sich auch in der seelsorgerlichen Begleitung als sehr hilfreich. Als uns wenig später die Anfrage des Oxford-Center for Mission Studies erreichte, ob wir ihnen nicht Material zum Thema christliche Sexualethik zur Verfügung stellen könnten, begannen wir im DIJG, die Kontakte zu praktizierenden Therapeuten zu vertiefen und systematisch die Forschungsliteratur zu sichten, um dann auch Information in deutscher Sprache zugänglich zu machen.
KM: Die Auseinandersetzung führte durch Höhen und Tiefen. Was waren für dich die eindrücklichsten Ereignisse?
CRV: Ein Höhepunkt war 1998 die Lambeth-Konferenz der Anglikanischen Bischöfe. Für eine kleinere Gruppe von ihnen konnten wir einen umfassenden Bericht über die Homosexualitätsforschung geben, auch über die politische Agenda, die die akademische Auseinandersetzung in einer Richtung einzuengen begann. Es war spannend, bei der Abstimmung der fast 1000 Bischöfe dieser Weltkirche dabei zu sein. Sie sprachen sich begründet gegen eine Segnung homosexueller Partnerschaften aus.
KM: Fandet ihr auch im säkularen Bereich Gehör?
CRV: Teilweise. Im Jahr 2004 wurde ich vom Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages um eine schriftliche und mündliche Stellungnahme zur Stiefkind-Adoption für gleichgeschlechtliche Partnerschaften gebeten. Schnell wurde aber klar, dass die Würfel schon gefallen waren, es lediglich noch um Detailfragen ging. Die wesentliche Frage, ob ein Kind ein Recht auf Mutter und Vater hat, stand nicht mehr im Mittelpunkt. Als das Thema dann im Bundestag debattiert wurde, konnte man unsere Studienhinweise zwar nicht widerlegen, einige Abgeordnete zogen aber sehr unsachlich und verleumderisch über die Arbeit des DIJG her.
KM: Anfeindungen gegen die Arbeit und die Person gehen an die Substanz. Wie bist du damit umgegangen?
CRV: Wesentlich war das Eingebundensein in die OJC-Gemeinschaft und die Unterstützung durch Einzelne, die sich konkret vor mich stellten. Ich war zwischendrin durchaus versucht, das Thema sein zu lassen. Aber mir war klar: Wenn ich es wie eine heiße Kartoffel fallen lasse, werden sich noch weniger der berechtigten und dringenden Fragen vieler Betroffener annehmen. Geholfen hat mir die Ermutigung durch meine Seelsorgerin und die Ergänzung durch die Geschwister in der Gemeinschaft, wenn meine Sicht zu einseitig war. Trotz aller Kontroversen machte mir die Arbeit auch Freude: Die Fragen rund um die psychosexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, um Identitätsentwicklung überhaupt, um Bindungsmuster und Bindungsverletzungen in der frühen Kindheit – das sind Phänomene, die jeden Menschen angehen. Wie wachsen wir in eine reife Persönlichkeit als Frau, als Mann? Wie geschieht Versöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte? Wie wird ein Mensch fähig, über sich hinaus zum anderen Geschlecht zu reichen und so die Voraussetzung für das Entstehen neuen Lebens zu erfüllen? Das hat mich auch persönlich sehr angeregt und dazu beigetragen, dass ich drangeblieben bin.
KM: Welche Fragestellungen haben dich außerdem beschäftigt?
CRV: Vor allen Dingen die Bindungsforschung und die Frage, was Trennung und Verlust jedweder Art für Kinder bedeuten. Kinder sind heute viel häufiger frühen Trennungen ausgesetzt, sie werden allein gelassen, wo sie Verbundenheit bräuchten. Verbundenheit ist die Grundlage jeder Identität, auch im Erwachsenenalter. Und die einmalige Verbundenheit von Frau und Mann ist die Voraussetzung für neues Leben. Verbundenheit der Geschlechter und Generationen ist wesentlich für das Überleben von Gesellschaften.
KM: Wir stellen fest, dass das Ringen um Identität immer brisanter wird, nicht nur im säkularen Bereich, auch im kirchlichen Umfeld. Was siehst du als Herausforderung für Christen heute?
CRV: Mein Eindruck ist, dass Christen heiklen Themen zunehmend ausweichen. Sei es der Schutz des ungeborenen Lebens, die Euthanasie, das Einstehen für eine fundierte christliche Sexualethik. Nach biblischem Verständnis gehört sexuelle Intimität allein in den exklusiven, klar definierten ehelichen Raum von Mann und Frau, in dem beide einander auf Augenhöhe begegnen sollen. In diesen Schutzraum ganzheitlicher Treue und Fürsorge füreinander und für die Kinder, die daraus hervorgehen. Ehe als das Ein-Fleisch-Werden von Mann und Frau. Wir wagen es aber kaum noch, hier Profil zu zeigen, obwohl es um der Orientierung willen für die nächste Generation dringend nötig wäre.
KM: Wie finden wir eine rechte Balance zwischen normativen Maßgaben und dem Umgang mit den Gebrochenheiten des Lebens?
CRV: In Bezug auf die tieferen Schichten unserer Gebrochenheit sind wir als Menschen einander alle sehr ähnlich! Dieses Wissen ist Voraussetzung für Empathie und die Arbeit mit Menschen. Das Gute ist, dass wir als Christen unser Leben an einer größeren Wahrheit als an unseren Erfahrungen ausrichten können. Wir verlieren aber zunehmend aus dem Blick, was seit 2000 Jahren für die westliche Zivilisation maßgeblich für die Gestaltung von Sexualität war und was diese Zivilisation und ein Leben auf Augenhöhe von Frau und Mann erst ermöglicht hat: dass christliches Leben nur in treuer, monogamer Ehe zwischen einem Mann und einer Frau oder in sexueller Abstinenz gelebt werden soll. Mir tut es weh, dass unsere Kirche homosexuelle Partnerschaften segnet und Ehe nennt, was nicht Ehe ist.
KM: Nach außen für Werte einstehen, ist das eine. Wie muss christliche Gemeinschaft beschaffen sein, um den Kurs auch nach innen halten zu können?
CRV: Eine Gemeinschaft, die sich nach außen klar positioniert, braucht nach innen umso mehr Barmherzigkeit und ein existenzielles Bewusstsein dafür, dass wir alle dem, was das Evangelium von uns fordert, nicht aus eigener Kraft genügen können. Wir alle gehen fehl. Gerade, wenn man sich mit Bindungsverletzungen auseinandersetzt, erkennt man, dass wohl jeder in irgendeinem Bereich seines Lebens verwundet ist – und auch andere schon verwundet hat. Die Lösung ist aber nicht, alles als gleich gut zu bewerten, sondern gemeinsam zu wachsen zu dem hin, was Gott von uns will. Gemeinsam zu lernen, einander zu stützen, zu ermutigen, zu vergeben und begründete Hoffnung zu schöpfen.
KM: In diesem Salzkorn geht es um den Erlass, und darum, wie Loslassen geht. Du lässt nun nach 20 Jahren leitender Arbeit sehr viel los – wie erlebst du das?
CRV: Ich bin 65. Ich bin sehr froh, dass jetzt ein Junger das Institut übernommen hat. Gerade befinde ich mich in einer Übergangsphase, bin ins Mehrgenerationenhaus gezogen und möchte meinen Alltag neu gestalten. Meine dreimonatige Auszeit in Schottland war wunderbar. Gerne würde ich die innere Ruhe, die ich dort fand, bewahren, und zu einem neuen kreativen Rhythmus finden. Vielleicht habe ich noch Zeit, zu einigen Themen etwas zu publizieren.
KM: Was wünschst du Jeppe Rasmussen für seine Arbeit als neuer Leiter des Instituts?
CRV: Vor allem Mut! Mut hinzustehen. Das wird nicht nur ihn etwas kosten, sondern auch uns als OJC. Ich wünsche Jeppe, dass ihm dafür immer neue Kraft und Zuversicht zuwächst. Und dass er viel Freude daran hat, die Kultur des Lebens auf seine Weise weiterzutragen.