
Schwellenzeiten Gottes
Eingefleischte Geburtstagsmuffel müssen sich in der OJC vorsehen. Das habe ich an meinem Fünfunddreißigsten, kurz nach dem Einzug ins Quellhaus, realisiert. Es gibt kein diskretes Ausweichen; entweder man lässt sich nach allen Regeln der Kunst feiern oder man trifft sorgfältig und ausdrücklich Vorkehrungen, nicht gefeiert zu werden, was nicht unbedingt weniger Aufwand bedeutet. Überhaupt kündigen sich hier „Hohe Zeiten” jedweder Art mit Pauken und Trompeten an – darin folgen wir gern dem biblischen Vorbild des alten Israel. Macht ja Sinn, denn Zeiten, Rhythmen und der rechte Kairos sind Grundelemente unseres Daseins: In ihnen gestaltet sich nicht nur Geschichte, sondern auch Identität und Charakter sowohl des Einzelnen als auch von Gemeinschaft. So war die Zeit das erste, was geschaffen war, der „Anfang”, aus dem sich der Raum im Pulsieren der Tage erst zu erweitern, zu formen und mit Leben zu füllen begann. Mit der feierlichen Markierung des siebten Tages hat der Schöpfer die Zeit dann ein für alle Mal vergemeinschaftet, und wir werden wohl eine Ewigkeit brauchen, um den Segen, der darin liegt, auszuloten.
Starker Zug nach vorn
Vorerst üben wir im Kleinen. Eine für mich sehr eindrückliche Übung dazu bot das Jahr vor dem 40-jährigen OJC-Jubiläum. Im Zugehen auf das kollektive Geburtstagsfest konnte die Gemeinschaft bereits auf eine echte Geschichte zurückschauen – auf viel Schönes, aber auch Schweres – auf große Wunder, aber auch auf manche Wunden – auf inspirierende Herausforderungen, aber auch auf heillose Überforderung.
Der „Assoziiertenkurs” zur geordneten Integration „der Jungen”, dem ich angehörte, hatte sich bereits bewährt. Wir waren zwar keine „dreißig Dreißigjährigen”, wie von Dominik Klenk visioniert, aber doch eine erkennbare Größe im Gefüge der Gemeinschaft. In dem Kurs ging es neben persönlichen Lebens- und Berufungsfragen vor allem darum, herauszufinden, was die OJC als geistliche Formation darstellt und ob und wie wir uns in ihr wiederfinden. Das war gar nicht so einfach, denn auch „die Alten” durchliefen intensive Prozesse der Klärung: Der erste Leiterwechsel war vollzogen, es gab tiefgreifende strukturelle Veränderungen, das Leitbild wurde, auch unter Beteiligung von uns Jungen, neu formuliert und die Vorarbeiten zur geistlichen Regel, die das Gründungscharisma der Gemeinschaft verbindlich beschreibt, kamen gut voran. Kurzum: die Wandlung der OJC von einer Lebensgemeinschaft auf Zeit zu einer Gemeinschaft auf Lebenszeit war voll im Gange.
Treten auf der Stelle
Die Vorfreude auf spirituelle Sesshaftigkeit nach vierzig Jahren voller Aufbruch und Ausbruch war mit Händen zu greifen. Umso irritierter nahmen wir Assoziierten wahr, dass unsere geländekundigen Geschwister sich in gewisser Hinsicht im Kreise drehten. Kein Kommunitätstag, keine Retraite und kein tiefer schürfendes Geburtstagserzählen, in dem nicht irgendwas aus der durchwachsenen Vergangenheit aufgearbeitet wurde. Aus der sicheren Distanz des Nicht-Involviertseins kam es uns so vor, als sei dieses Irgendwas im Grunde stets das Gleiche. Wie ein Knoten, der nicht platzen wollte, trotz klärender Gespräche, aufrichtig reflektierter Verfehlungen und großer Vergebungs- und Versöhnungsbereitschaft.
Eigentlich wollten wir in der Januar-Retraite 2007 in Birkenwerder durchstarten und das junge Jahr gleichsam als Zielgerade vor dem Jubiläum unter die Füße nehmen. Das taten wir auch, allerdings nicht, ohne wieder einige Ehrenrunden zur Vergangenheitsbewältigung zu drehen. Und wieder schien, bei allem redlichen Bemühen, etwas im Raum zu bleiben, was sich den eingeleiteten seelsorgerlichen Maßnahmen entzog.
Der lange Schatten der Scham
Der Durchbruch erfolgte während der Kommunitätstage im März. Auf die Sprünge half uns das schottische Seelsorger-Ehepaar Gwen und Sandy Purdie. Sie gaben uns eine Reihe von Impulsen zur Begleitung von Menschen mit tiefen Verletzungen, die unterschiedliche Formen des Missbrauchs erlebt haben. Dabei stand nicht die konkrete Schuld der Involvierten im Fokus, sondern die Scham und der adäquate Umgang mit ihr. Der Hinweis, dass Scham nicht als isoliertes Problem, als Erleben oder Haltung des Einzelnen betrachtet werden kann, war der Augenöffner: Wer beschämt wird, fühlt sich wie nackt, und Scham legt sich wie eine zweite, künstliche Haut um die betroffene Person. Allerdings nicht nur um diese, sondern um alle Beteiligten, auch um den, der beschämt, und alle anderen im Umfeld. Zunächst kann Scham eine stabilisierende Wirkung haben, weil sie tendenziell klare Regeln gebiert. Vordergründig sind das Regeln zur Vermeidung von Irritation, Unordnung und Unrecht; bei Lichte betrachtet sind sie aber sich verselbständigende Regeln der Vermeidung.
In der (Un-)Kultur der Scham werden Versagen und Schwäche zunehmend zum Tabu bzw. zum Vorwurf. Wo aber Schwäche nicht mehr wahr sein darf, wuchern doppelte Wahrheiten, doppelte Maßstäbe, diffuse Vorwürfe, Misstrauen, Selbstzweifel und eine zunehmende Entfremdung, die den inneren Zwiespalt vertieft: Man befürchtet, erkannt zu werden, wie man ist, leidet aber genau daran, nicht als derjenige erkannt zu werden, der oder die man in Wirklichkeit ist. Zu allem Übel verliert der Mensch unter der Scham das Gespür dafür, wer er eigentlich ist.
Verfangen im Gespinst einer Unkultur
„Genau das haben wir unter uns erlebt!” Diese unerwartete Rückmeldung aus dem Kreis der Gefährten veränderte die Vorzeichen. Wir waren nicht mehr das sachkundige Publikum im Fachvortrag, sondern der Klient in der Sprechstunde. Denn ja, auch in neununddreißig wundervollen OJC-Jahren gab es Situationen, in denen man beschämt wurde und andere beschämte. Besonders schlimm, wenn dem, der sich an den Pranger gestellt fühlte, niemand beisprang – unsolidarisches Schweigen und Verrat generieren Scham. Es gab auch feine atmosphärische Entladungen, die man als Lappalie zur Seite schob, die aber das gegenseitige Vertrauen kontinuierlich aushöhlten: Kultivierte, gar fromm getextete Schläge in die Magengrube, Vorwürfe und Unterstellungen, bagatellisierte Probleme à la „Hab dich nicht so!” oder gepflegte Vorurteile wie „Ist mal wieder typisch!”. Selbst wenn sie unausgesprochen blieben, haben sie die Scham genährt, so dass man lernte, sich abzuhärten. Die falsche Haut wurde dicker. Und nicht zuletzt die schlichte Tatsache, dass wir bedürftig, aufeinander angewiesen sind, und dass Geben und Nehmen nie eine saubere Nullrechnung ergeben. Da sind nun mal Stärkere und Schwächere; es gibt immer welche, die mehr zu geben haben, und andere, die sich mehr zu nehmen trauen. Diese letztlich unaufhebbaren Unterschiede empfinden wir oft als peinlich und notvoll. Auf Dauer strapazieren sie sowohl unser Gerechtigkeitsempfinden als auch unseren Stolz, je nachdem, ob wir gerade in der Position der Stärke oder der Bedürftigkeit sind. Und schon schnappt die Schamfalle zu, ohne dass sich jemand hätte was zuschulden kommen lassen.
Alles zu seiner Zeit
Was tun? Wie umgehen mit der klebrigen Scham, deren konkrete Schuldmomente zwischen den Einzelnen bereits freigelegt und bereinigt worden sind, die aber insgesamt wie ein Schatten über dem Heute hängen und den Blick auf die Zukunft trüben? Wie entledigt man sich als Gemeinschaft der Scham? Wir wollten es genau wissen, und vor allem wollten wir es offensiv angehen.
Die Antwort war ernüchternd: Gar nicht. Wir können den Mantel der Scham gar nicht ablegen. Wenn wir versuchen, sie uns oder einander vom Leib zu reißen, machen wir alles schlimmer. Nur Gott kann das. Er kennt die rechte Zeit: Wenn die unter der falschen Haut verborgenen Wunden versorgt sind, wenn Schuld bekannt und vergeben, Schwäche eingestanden, Angst der Zuversicht gewichen ist – wenn also der Mantel der Barmherzigkeit und der Ehre über die nackte Existenz des Menschen gebreitet ist, dann löst sich die falsche Haut.
Das große Stühlerücken
Am nächsten Morgen durften wir völlig unverhofft erleben, dass Gott handelt. Über dem Vormittag standen die Bibelverse aus Jesaja 54: Fürchte dich nicht, denn du sollst nicht zuschanden werden; schäme dich nicht, denn du sollst nicht zum Spott werden, sondern du wirst die Schande deiner Jugend vergessen und der Schmach deiner Witwenschaft nicht mehr gedenken. … Du Elende, über die alle Wetter gehen, die keinen Trost fand! Siehe, ich will deine Mauern auf Edelsteine stellen und will deinen Grund mit Saphiren legen und deine Zinnen aus Kristallen machen und deine Tore von Rubinen und alle deine Grenzen von erlesenen Steinen. Und alle deine Kinder sind Schüler des HERRN, und großen Frieden haben deine Kinder (54,4-5.11-13).
Gwen und Sandy Purdie erwarteten uns nicht mit einem weiteren Impuls, sondern im Gebet. Nachdem jeder Platz genommen hatte, baten sie, dass alle, die in der Vergangenheit zur Beschämung der Geschwister beigetragen haben, aufstehen, damit wir für sie beten können. Wir Assoziierten wagten nicht, den Blick von der Tischplatte zu heben, aber das massive Stühlerücken ließ darauf schließen, dass sich nahezu alle Alten erhoben hatten. Erschütterung und tiefes Eingeständnis füllten den Raum, aber auch Hoffnung auf Lösung und auf Entlassung aus der Schuld. Nach dem Gebet, zu dem wir beflissen Amen sprachen, baten die Purdies nun diejenigen, sich zu erheben, die durch die Gemeinschaft Beschämung erfahren hatten. Diesmal blieb das große Stühlerücken aus: Alle waren stehengeblieben!
Zu unserer Verblüffung wurden nun wir, die zwischen den stehenden Geschwistern sitzend hofften, unsichtbar zu sein, in die Pflicht genommen. Wir sollten an den Stehenden vorbei durch den Raum gehen, um uns dann hinter einen von ihnen zu stellen. Dort beteten wir still, dankten für das Leben und den Dienst der Person und baten um Heilung und Stärkung. Alles ganz unspektakulär, ohne Pauken und Trompeten. Aber man sah, wie sich die Rücken aufrichteten, die Schultern strafften und die Köpfe hoben.
Feste feste feiern
Ohne dieses Erleben hätten wir die immense kreative und seelische Arbeit, die im Zugehen auf die Kommunitätsgründung noch zu leisten war, vielleicht nicht bewältigen können. Der geistliche Boden für den „Bundesschluss“ der Alten und die Aufnahme der ersten Jungen im April 2008 war die lebendige Gewissheit, dass Gott auch ein ganzes Geflecht von Generationen aus gewachsenen und verwachsenen Verhältnissen entlassen kann und will, um allen miteinander den Schritt in die geöffnete Zukunft zu ermöglichen. Nun, im Zugehen auf den Fünfzigsten, haben wir unser Erlassjahr schon viel bewusster begangen und auch Weggefährten in den Blick genommen, die nicht zur Gemeinschaft gehören. Gespannt erwarten wir, was 2018 für uns bereithält.
Mich Geburtstagsmuffel entlastet es jedenfalls ungemein, dass die OJC nur wenige Tage nach mir runden Geburtstag feiert, denn das hält Pauken und Trompeten anderweitig beschäftigt. Aber gut, dass wir darin verschieden sind! Sonst wäre uns entgangen, dass jener signifikante Tag mit Purdies und dem transgenerativen Stühlerücken der kalendarische Frühlingsanfang war. Darauf hatte uns ein Bruder hingewiesen, der das jedes Jahr genau auf dem Schirm hat. Es ist nämlich sein Geburtstag – und er steht gern dazu!