Beitragsbild zum Text: Frei für die Zukunft von Klaus Sperr

Frei für die Zukunft

50 Jahre OJC – Zeit für einen Erlass

Die 50 wird gefeiert. Ein runder Geburtstag, der fröhlich begossen wird. Oder eine goldene Hochzeit, die eines großen Festes wahrlich würdig ist. Manchmal auch ein Dienst- oder Firmenjubiläum, das Erreichtes würdigt. Jedenfalls feiert man den Fünfzigsten! So denken auch wir als Kommunität. Und haben uns auf den Weg gemacht, uns das eine und andere fürs kommende 50. OJC-Jahr für uns und unsere Freunde zu überlegen. Wir wollen dankbar sein für viel Gutes. Da ist so viel gewachsen, das uns freut. Gott und Menschen haben uns mit viel Gutem beschenkt. Der Geburt im wilden Jahr 1968 folgten die Jahre der Konsolidierung und des Reifens. Unsere Berufung wurde umfassender, unser Leben verbindlicher. Und unsere Freunde haben uns bis heute durchgetragen mit Gebet und Gaben. Wir haben wirklich viel Grund zum Danken! In all diese Vorfeststimmung mischt sich jedoch auch ein anderer Klang. Ja, es ist viel Gutes geworden. Aber es gab eben auch manch Nicht-Gewordenes, Schwieriges, gar Schlechtes. Ja, Gott hat uns immer wieder zum Segen gemacht. Aber wir haben auch Anlass zum Ärgernis gegeben. Beidem gilt es, sich zu stellen. So kam unter uns bei unseren Jubiläums-Überlegungen, auch durch Anregungen befreundeter Gemeinschaften, schon früh der Gedanke an ein „Erlassjahr“ auf. Wir haben uns damit vertraut gemacht und Schritte folgen lassen.

Das Vorbild – von Gottes Volk lernen

Gott hat seinem Volk Israel ein Gesetz mit auf den Weg gegeben. Lebensermöglichende Weisungen Gottes. Israel sollte bekunden wie es ist, wenn ein Volk mit Gott lebt. Zu diesen göttlichen Perspektiven gehört auch das Erlassjahr. Der Ausgangspunkt dazu liegt in der Schöpfung. Als deren Krönung heiligte Gott den Sabbat (Gen 2,3). Aus diesem wöchentlichen Ruhetag (sechs Tage arbeiten, am siebten ruhen) leitet sich das Sabbatjahr ab: sechs Jahre das Feld bestellen, im siebten soll es ruhen (Ex 23,10ff). Nach sieben Sabbatjahren, also 49 Jahren, sollte ein Erlassjahr folgen: Das 50. Jahr sollte alles wieder auf Anfang stellen. Nicht nur Schulden streichen und Sklaven freilassen wie in jedem Sabbatjahr, sondern zusätzlich die Rückgabe des verpfändeten Landes an die ursprüngliche Besitzerfamilie (Lev 25,1ff; Dtn 15,1ff).

Sechs Jahre sollst du dein Feld besäen und sechs Jahre deinen Weinberg beschneiden und die Früchte einsammeln, aber im siebenten Jahr soll das Land dem HERRN einen feierlichen Sabbat halten; da sollst du dein Feld nicht besäen noch deinen Weinberg beschneiden. (…) Und du sollst zählen sieben Sabbatjahre, siebenmal sieben Jahre, dass die Zeit der sieben Sabbatjahre neunundvierzig Jahre mache. Da sollst du die Posaune blasen lassen durch euer ganzes Land am zehnten Tage des siebenten Monats, am Versöhnungstag. Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt eine Freilassung ausrufen im Lande für alle, die darin wohnen; es soll ein Erlassjahr für euch sein (Lev 25,3f; 8-10).

Dieses Freilassen (hebr. schemitta) bildete ein Alleinstellungsmerkmal des jüdischen Volkes. Die gnädige Herablassung der Mächtigen zu bestimmten Zeiten kannten auch andere Völker – den regelmäßig wiederkehrenden Rechtsanspruch in Verbindung mit der Wiederherstellung der ursprünglichen Segensverhältnisse aber kannte allein Israel. Dieses Gebot erinnert an das Doppelgebot der Liebe (Mt 22,36-40 par): Es nimmt seinen Ausganspunkt im Verhältnis zu Gott und leitet davon das Verhältnis zum Nächsten ab. Zu Zeiten des Alten Testamentes wurde das Erlassjahr nur sehr löchrig durchgeführt. Bei Nehemia (5, 9-13) gibt es beispielsweise einen Schuldenschnitt. Während der Makkabäerzeit (ab ca. 150 v. Chr.) wurde dieses Gebot aber ernst genommen. Ebenso bei der Gemeinschaft von Qumran. Und Josephus überliefert uns eine Reihe von Sabbatjahren bis zur Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n.Chr. Gottes Weisung war also mitnichten eine nette utopische Theorie, die nie ins Leben fand. Allerdings ist auch viel an Umsetzung offengeblieben, bis heute.

Alles beginnt mit dem Jom Kippur – aus der Versöhnung leben

Alljährlich wird am 10. Tischri des jüdischen Kalenders der Jom Kippur (hebr. Jom-ha-Kippurim: Tag der Sühne) gefeiert. Jeder Israelit bittet Gott um Vergebung seiner Übertretungen und erbittet einen Neuanfang. Ausgerechnet mit einem „Großen Versöhnungstag“ beginnt das Erlassjahr. Zum Auftakt wird das Lärmhorn (hebr. jobel=Widderhorn) geblasen. Darum wird dieses besondere 50. Jahr auch Jobeljahr genannt. So wird die von Gott geschenkte Versöhnung zum Ausgangspunkt der Versöhnung untereinander. Denn Gnade befreit und verpflichtet gleichermaßen. Im zweiten Teil des Propheten Jesaja (61,1f) wird das Erlassjahr zur frohen Botschaft des Gottesknechtes. In seinem Handeln findet Gottes umfassendes ewiges Erlassen statt. Bei seinem ersten öffentlichen Auftreten greift Jesus Christus dieses Wort auf und macht es zur Grundlage seines Wirkens (Lk 4,16-19). Mit dem Gottessohn erfüllt sich die über den konkreten Vorgang hinaus enthaltene eschatologische Verheißung: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“ Seit seinem Kommen, Sterben und Auferstehen fußt alle Versöhnung untereinander auf seiner Versöhnung. Jedwedes Erlassen nimmt dort seinen Ausgang! Im Leben der OJC-Kommunität wird dies jedes Mal spürbar, wenn wir miteinander Abendmahl feiern. Dort ist die Mitte der Gemeinschaft. Nicht in unserem Wohlwollen zueinander, sondern in Jesu Versöhnung. Für mich besonders wahrnehmbar in dem Moment, wenn wir einander den Frieden zusprechen. Nicht unseren, sondern Gottes Frieden! Dann leben wir aus der Versöhnung!

Es geht zurück zum Anfang – die Verhältnisse ordnen

Zurück zum Modus des Erlassjahres. Alle fünfzig Jahre sollte alles zurückgebracht werden auf den Ausgang. Jede Familie sollte wieder ihre Anfangsgabe erhalten. Der Grund liegt in den tatsächlichen Verhältnissen: Alle und alles gehören Gott – er ist der Eigentümer. Des Lebens und des Landes. Wir sind immer nur die Besitzer. Wir sind Pächter, Gottes Pächter. So sind ein Sabbat, ein Sabbatjahr und ein Erlassjahr vor allem Bekenntnisakte. Der Boden, auf dem wir stehen, ist nicht unsere Leistung, unser Erwerb, unser Geschick. Der Boden, auf dem wir stehen, ist allein die Gabe Gottes. Das Erlassjahr zeigt, wem was wirklich gehört. Von wem und was wir Menschen wirklich leben. Wir und was wir sind und haben, gehört nicht uns. Und der Andere erst recht nicht! Auch nicht unseren Erwartungen, unseren Ideen und Wahrnehmungen. Mit einem Erlassen können unsere wirtschaftlichen wie persönlichen Verhältnisse wieder in Ordnung kommen. Nicht mit dem „Ich-habe-Recht-und-mir-geschieht-auch-Recht-Modus“. Allein mit einem aus der Versöhnung herrührenden Freigeben.

Vom Binden und Lösen – jesusgemäß leben

Schon der Zusammenhang zum Jom Kippur, erst recht aber das Neue Testament verdeutlichen, dass es beim Schuldenerlass nicht nur um ein soziales Moment geht. Wenngleich dieses nicht vergessen werden darf! Aber es geht in der Mitte unseres Seins eben auch um das Erlassen der Sünden- und Beziehungsschuld. Vor vielen Jahren musste ich einen Gottesdienst in einer Gemeinde halten. Es fiel mir nicht leicht. Denn dort gab es Menschen, die mir sehr übel mitgespielt hatten. Aber als ordinierter Hirte wollte ich den Beleidigungen nicht das letzte Wort überlassen. Als ich zur Predigt auf die Kanzel ging, tauchte urplötzlich ein Satz in meinem Inneren auf: Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten (Joh 20, 23). Wie immer hielt ich einen Augenblick inne. Dieses Mal aber nicht zu einem stillen Gebet. Mir war plötzlich sonnenklar: Das wollte ich nicht, dass Sünden behalten werden. Also bat ich Jesus für die, die mir tiefes Unrecht angetan hatten, ihnen ihre Sünde nicht zu behalten, und sprach in meinem Inneren die lossprechenden Worte.
Im Zusammenhang innergemeindlicher Konfliktbewältigung in Mt 18,15ff ist vom Binden und Lösen die Rede. Dem schließt sich direkt die Erzählung Jesu vom Schalksknecht an (Mt 18,21ff): Einem Schuldner wird eine riesige Schuld erlassen. Der wiederum trifft seinen eigenen Schuldner, der bei ihm allerdings eine vergleichsweise winzige Rechnung offen hat. Doch der, dem erlassen wurde, der ringt sich nicht zum Erlassen durch. Und Jesus fragt: „Hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?“ Wo wir untereinander Schuld erlassen – die böse Verstrickung lösen! – dort handeln wir jesusgemäß! Das bereinigt die Vergangenheit und öffnet die Zukunft.

Von Altlasten entbunden – frei für die Zukunft

Im Zugehen auf das fünfzigste OJC-Jahr haben wir uns immer wieder mit dem Thema des Erlassens auseinandergesetzt. In einer Einheit hatten wir Pfr. Uwe Buß zu Gast. Er hat uns in den biblischen Horizont eingeführt und uns dann überraschende Fragen gesellt: Wo braucht unter euch jemand eine neue Chance? Wo müsste begangenes Unrecht bereinigt werden? Wo steckt jemand in einer Schublade, aus der er gerne entlassen würde? Wo sind ungeklärte Beziehungen zu klären? Es geht um Altlasten in unseren Beziehungen, die über die Jahre angehäuft wurden. Land oder Geld schulden wir einander normalerweise nicht. Aber wie steht es mit Ungeklärtem, mit Respekt, mit Achtung und dergleichen? Da heißt es in Lev 25,17-19: So übervorteile nun keiner seinen Nächsten, sondern fürchte dich vor deinem Gott; denn ich bin der HERR, euer Gott. Darum tut nach meinen Satzungen und haltet meine Rechte, dass ihr danach tut, auf dass ihr im Lande sicher wohnen könnt. Denn das Land soll euch seine Früchte geben … Sicher wohnen meint hier vor allem bleibend wohnen, zukunftsfähig sein. Im jüdischen Zahlenverständnis steht die 50 für die Zeit nach der Zeit. Die vorhergehende Zehnerzahl ist die 40. Steht diese für die Zeit der Wüstenwanderung, so folgt ihr die Zeit der Landnahme. 50 steht für den Eintritt in das Land der Verheißung. Das Erlassen macht uns und alle um uns herum frei für die Zukunft und das Erlangen der Verheißung. Das Miteinander als Gemeinschaft – ob als Volk Israel oder auch in unseren heutigen Lebensbeziehungen – ist verbunden mit göttlicher Verheißung. Diese will sich nie für uns alleine, sondern immer in Verbundenheit mit unseren Nächsten erfüllen.
Die Regelung des Erlassjahres wurzelt im sogenannten Bundesbuch und steht im Heiligkeitsgesetz. Es kommt aus der Anleitung zum Leben im Bund, zu einem heiligen (zu Gott gehörenden) Leben. Dabei waren diese Ordnungen Gottes keine Frömmigkeitssteigerungsgesetze, sondern Zukunftssicherungsgesetze. Weil Gott uns Schuld erlässt, erhalten wir Zukunft. Und im gegenseitigen Erlassen gewinnen wir miteinander Zukunft. Und das führt uns nun zum unumgänglichen Schlüssel des Erlassjahres.

Der Schlüssel zu alledem – „für den Herrn“

In den alttestamentlichen Texten rund um dieses Thema findet sich eine wiederkehrende Wendung: „für den HERRN“. Also nicht einfach für die Schuldner und Armen. Die Wurzel liegt tiefer. Da gibt es keine Abkürzung. Diese kleine Bemerkung scheint mir kein frommes Anhängsel, sondern der Schlüssel zu sein. Im Letzten geht es beim Erlassjahr nicht um ein sozial-humanitäres, sondern um ein geistliches Programm. Dabei ist nicht die Wandlung der Strukturen, sondern der Menschen das Thema. Also nicht: Wenn Strukturen sich wandeln, wandeln sich auch Menschen. Sondern umgekehrt: Wenn Menschen vor Gott anders werden, werden auch Strukturen in dieser Welt anders. Dies setzt sich auch im Wirken Jesu fort. Es geht um unser Verhältnis zu Gott – das dann allerdings Folgen für unser Miteinander hat. Mit dem Erlassen dienen wir nicht einfach nur uns Menschen untereinander. Vor allem ehren wir damit Gott selbst. Als dem, dem wir alles verdanken – als dem, der allein unser Versöhner ist – als dem, in dem allein Heil und Zukunft liegen. An dem Ewigen hängt alles, nicht an unserem Sozialverhalten. Von ihm kommt alles her, auf ihn zielt alles ab. Denn seine Ebenbilder sind wir. Und in eben dem steht eine enorme Kraft: Wo wir Gott ehren, werden wir glücklich und mit Leben erfüllt.

50 Jahre OJC. Zeit zum dankbaren Feiern. Dies tun wir am besten damit, dass wir uns Zeit zum Erlassen und Loslassen nehmen. Wir wollen Erlass gewähren, wo uns jemand etwas schuldig geblieben ist. Nicht nachtragen, sondern loslassen. Nicht gefangen halten, sondern freigeben. Und wir wollen fragen: Wo sind wir jemandem etwas schuldig geblieben? Da wollen wir Erlass erbitten. Untereinander als Mitglieder unserer Gemeinschaft. Und unter all denen, die in den vergangenen 49 Jahren mit uns und unseren Verfehlungen zu tun hatten. Denn dafür wird dich der HERR, dein Gott, segnen in allen deinen Werken und in allem, was du unternimmst (Dtn 15,10).

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