
Loslassen macht Angst
Als ich 1989 in die OJC gerufen wurde, ging es um den Auftrag, ein Europäisches Jugendzentrum aufzubauen. Auf die Frage, ob meine Frau und ich auch in die Gemeinschaft kommen wollten, sagten wir fröhlichen Herzens Ja. Es sprach nichts gegen das Leben in der OJC-Gemeinschaft, aber der Auftrag war uns wichtiger. Mich faszinierte die große Vision von einem Reichelsheimer Europäischen Jugendzentrum (REZ) mit örtlicher Jugendarbeit, mit internationalen Begegnungen und einem pädagogischen Seminar. Nicht alles, aber vieles ist unter dem Segen Gottes tatsächlich ins Leben gekommen. 1992 (vor 25 Jahren) war die Grundsteinlegung in der alten Hofreite. In den kommenden Jahren halfen 300 Jugendliche aus allen Teilen der Erde bei den Bauarbeiten. Aus dem völlig verfallenen Hof entstand im Ortskern ein architektonisches Schmuckstück. 1995 wurde die Jugendkneipe JIG mit einem Open-Air-Konzert mit 1000 Besuchern eröffnet. In der Jugendgruppenarbeit kamen Teenies zum Glauben und erhielten entscheidende Prägungen für ihr Leben. In zahlreichen internationalen Begegnungen entstanden Freundschaften mit jungen Menschen, insbesondere aus Osteuropa und Israel.
Nach zwei Jahrzehnten gab es einen Einschnitt. Einige Mitarbeiter suchten neue Orientierung außerhalb oder sie wechselten in andere Aufgaben innerhalb der Kommunität. Das Finden von Jugendleitern war schwierig, drei geplante Berufungen scheiterten – die Gemeinschaft war schlichtweg überfordert. Wie sollte es weitergehen? Diese Frage kam – für mich völlig unerwartet – in unserer Retraite 2013 zur Sprache.
Rückschau
Am Tag zuvor hatten wir aus Zeitgründen nicht alle unsere Programmpunkte besprechen können. Ich ging davon aus, dass wir jetzt an den Themen weiterarbeiteten. Stattdessen wurde das Thema „REZ“ aufgerufen. Meine Gedanken gingen zu dem vergangenen Freitag, als meine Frau und ich zu einem fürstlichen Abendessen eingeladen waren. Eine Verantwortliche des Priorats berichtete uns, sie wolle in der Retraite Raum geben für eine Dankrunde für die vielen segensreichen Erfahrungen im und mit dem REZ. Aber das geschah nicht. Stattdessen bat sie uns, unsere verschiedenen persönlichen Erwartungen, Wünsche und Vorstellungen, was mit dem REZ in Zukunft geschehen soll, aufzuschreiben und am Kreuz abzulegen und loszulassen.
Verwirrung
Zu solchen Symbolhandlungen habe ich nur bedingt einen Zugang. Ich habe sie immer wieder in der OJC erlebt und auch mitgemacht. Aber ich hätte auch gern darauf verzichten können. Sie sagte, wenn diese Wünsche und Erwartungen wieder aufkämen, sollten wir uns gegenseitig erinnern, dass wir sie an Gott abgegeben haben. Hatte dieses „Ablegen“ etwa den Charakter eines Eides oder einer Vereidigung, die mich lebenslang verpflichtet? Ich verstand es nicht. Ich sah in dem, was geschah, keinen Sinn. Ich fühlte mich überfahren, fand aber keinen Raum und auch keine Worte zu einer Nachfrage. In mir entstand eine starke Erregung. Unter Erwartungen, die ich mit dem REZ verband, verstand ich mein Warten, dass das Handeln Gottes weiterhin sichtbar werde. Hieß das, dass ich nie wieder beten durfte, dass Gott im REZ handelt? Das konnte nicht sein, dass ich diese Hoffnung abgebe. Ich hörte auch, dass das nicht gemeint war. Aber was war dann gemeint? Ich verstand es einfach nicht. In der folgenden Nacht fand ich weitere Gründe für meine innere Erregung. Wir hatten uns in der Kommunität verabredet, feinhörig zu sein, mündig zu leben und auf Augenhöhe miteinander zu kommunizieren. Das Gefühl, überfahren zu werden, weckte in mir nun das Bedürfnis, für die ganze Gemeinschaft einstehen zu müssen.
Wende
Aus diesen Bausteinen entstand in meinem Herzen die Überzeugung, dieses Ablegen der Erwartungen sei falsch. Ich musste die Leitung auf diesen Fehler hinweisen, um die Gemeinschaft vor schlimmen Folgen zu bewahren. Ich formulierte schwere Vorwürfe gegen sie, die ich unserem Leiter vortrug und dem Priorat schriftlich unterbreitete. Am Freitagmorgen ging ich nicht zum Abendmahl.
Am Abend sagte mir meine Frau, dass keiner in der Kommunität dies so sähe wie ich. Einige hätten sich sogar bedankt für die erfahrene Entlastung vom Erwartungsdruck. Dabei benutzte Sieglinde die Worte „eigene Vorstellungen“. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich erkannte den Unterschied zwischen „eigenen Vorstellungen“ vom REZ und „berechtigten Erwartungen an Gott“. Mir war sofort klar: Ich habe mit meinem Handeln schwere Schuld auf mich geladen. Kann ich überhaupt noch in der Kommunität bleiben?
Befreiung
Am Samstagmorgen schrieb ich einen Brief an die Leitung, den ich unter die Zimmertür schob. Darin stand ungefähr: „Es ist meine Schuld, dass ich den Unterschied zwischen eigenen Vorstellungen und Erwartungen an Gott nicht gesehen habe; dass ich Euch schwere Vorwürfe gemacht habe, die völlig unberechtigt waren; dass ich Unfrieden in die Gemeinschaft getragen habe. Ich bekenne meine Schuld vor Gott, vor Euch und auch vor der Gemeinschaft. Ich bereue sehr, was ich getan habe, und bitte Euch herzlich um Vergebung. Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte. War es Misstrauen? Ich möchte Euch sagen, dass ich Euch vertraue. Ich lasse das ganze REZ und den REZ-Auftrag mit allen Bereichen los und gebe alles an Gott zurück. Sein Wille geschehe. Ich kämpfe nicht mehr um den Fortbestand des REZ nach meinem Verständnis. Könnt Ihr mir vergeben? Können wir zusammen Abendmahl feiern?“
Die Verursacherin meiner Verwirrung kam auf mich zu, umarmte mich, und meinte: „Sag nichts mehr. Es ist alles gesagt. Natürlich feiern wir Abendmahl zusammen.“ Vor dem Gottesdienst benannte ich meine Schuld auch vor der Gemeinschaft und bat um Vergebung.
Am Sonntagmorgen erkannte ich noch etwas: Wenn mich am Donnerstag jemand gefragt hätte, ob ich bereit wäre, den REZ-Auftrag loszulassen, wäre mir diese Entscheidung sehr schwer gefallen. Aber die Frage hatte niemand gestellt. Erst in der Nacht zum Samstag, als ich den Entschuldigungsbrief formulierte, war dieser Anstoß plötzlich da und die Antwort war ganz leicht und sonnenklar. Da wurde mir bewusst, dass mir heute das Leben in der Kommunität bei weitem kostbarer ist als der Fortbestand „meines“ REZ.