Beitragsbild zum Text: Schuldenschnitt einkalkuliert von Jürgen Kaiser und Adele Webb

Schuldenschnitt einkalkuliert

Ein 3000 Jahre altes, erstaunlich aktuelles Konzept

Die Texte zum Jubeljahr und zum Sabbatjahr in 3. Mose 25 bzw. 5. Mose 15, auf die Jesus sich in seiner Antrittsrede in Nazareth (Lukas 4) bezieht, haben eine erstaunliche Aktualität im Zusammenhang mit den Schuldenkrisen des Spätkapitalismus im 21. Jahrhundert. Beide Texte schränken das Recht von Gläubigern ein, ihre legitimen Ansprüche an ihre Schuldner in der Agrargesellschaft des frühen Israel einzutreiben.

Im Jahr 2017 nach Christus befinden wir uns am Ende einer langen Phase der Liberalisierung des Kapitalverkehrs. Die Freiheit, Profit zu suchen und der vorrangige Schutz von Gläubigerrechten waren leitende Prinzipien dieser Phase. Das Versprechen dieses sog. neo-liberalen Modells, das von den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts bis zum Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008 das Denken von Ökonomen und Entscheidungsträgern beherrscht hat, war ein breit angelegtes Wachstum der Volkswirtschaften und ein „Durchsickern“ seiner Früchte bis zu den ärmsten Schichten der Gesellschaft. Im Blick auf beide Verheißungen kann dem neo-liberalen Modell ein gewisser Erfolg durchaus bescheinigt werden. Die gegenwärtige Krise hat allerdings auch schonungslos offen­gelegt, in welchem Ausmaß dieses Modell zur wirtschaftlichen und sozialen Polarisierung innerhalb einzelner Gesellschaften, wie auch zwischen ihnen beigetragen hat.

Die Sabbatjahr- und Jubeljahr-Bestimmungen gehörten zu den wichtigsten Regeln, mit denen Gott die Beziehungen zwischen den Familien und Stämmen innerhalb des Volkes Israel vor genau solchen Polarisierungsprozessen schützte. Die leitende Maxime dabei war, dass eine zwischenzeitliche Überschuldung sich nicht in eine dauerhafte Abhängigkeit des Schuldners von seinen Gläubigern verwandeln darf. Der ärmere Teil der israelitischen Gesellschaft sollte niemals dauerhaft von dem reicheren abhängig werden. Dem dienten die Beschränkungen des mosaischen Gesetzes:

  • Jeder siebte Tag war ein Sabbat. An diesem durfte weder gearbeitet werden, noch durften andere – seien es Sklaven oder nicht-jüdische Ausländer – zur Arbeit gezwungen werden (2. Mose 20,8-11).

  • Jedes siebte Jahr war ein Sabbatjahr, in dem das Land zur Ruhe kommen und es weder Saat noch Ernte geben sollte. Schulden sollten gestrichen werden, und wer selbst durch Armut oder Überschuldung zum Sklaven geworden war, sollte frei gelassen werden (5. Mose 15,1-11 und 3. Mose 25,1-7).

  • Jedes siebte Sabbatjahr (genau genommen jedes 7 x 7 +1 = 50.) Jahr war ein Erlassjahr. Darin sollten nicht nur die Schulden gestrichen und die Sklaven frei gelassen werden. Es sollte vielmehr alles verpfändete Land an seine ursprünglichen Besitzer zurückfallen, so dass die ursprüngliche, von Gott bei der Landnahme angeordnete Verteilung wiederhergestellt wurde. Das heißt: Einmal pro Generation sollten Familien, die das Land ihrer Vorfahren verloren hatten, es zurückbekommen können. Dabei muss berücksichtigt werden, dass das Land damals das wichtigste Produktionsmittel in der Agrargesellschaft war – in seiner Bedeutung vergleichbar mit der des Finanzkapitals in unseren spätkapitalistischen Gesellschaften.

Sabbat- und Erlassjahr waren somit starke Umverteilungsmechanismen, welche eine dauerhafte Konzentration produktiven Kapitals in wenigen Händen und die folgende wirtschaftliche Abhängigkeit des größeren Teils der Gesellschaft zu verhindern suchten.

Aber auch über die grundsätzliche Intention hinaus enthalten die Bestimmungen der beiden Gesetze Elemente, die im Blick auf den Umgang mit Schulden in unserer eigenen Gesellschaft von hoher Bedeutung sind:

  • Die Durchsetzung der Umverteilung in einem festen Rhythmus machte sie grundsätzlich unabhängig von der politischen oder wirtschaftlichen Konjunktur. Entscheidend war nicht die Bereitschaft der Reichen und Herrschenden, sondern das Gesetz Jahwes als des letztlichen Eigentümers des Landes.

  • Mit den genannten Bestimmungen erhielt das Überleben des Schuldners in Würde eine grundsätzliche Priorität vor den berechtigten Ansprüchen der Gläubiger.

  • Die Umverteilung des Landes und der Schuldenerlass waren nicht abhängig vom Wohlverhalten des Schuldners. Eine eventuelle Verschwendung der in Rede stehenden Ressourcen war kein Grund, den Einzelnen von der Umverteilung auszuschließen.

Für uns heute zeigen diese dem Gottesvolk gegebenen Regeln einen Weg, wie Beziehungen zwischen Schuldnern und Gläubigern zivilisiert werden können. Dabei muss betont werden, dass beide Gesetze keinesfalls die Vergabe oder Aufnahme von Krediten ausschlossen. Im Gegenteil: die Reichen wurden aufgefordert, den bedürftigen Landsleuten, so weit sie es konnten, auch mit Krediten beizustehen. Das 3. Buch Mose enthält sogar genaue Bestimmungen, wie der Gläubiger für die Gewährung eines Kredits entlohnt wurde, wenn Land als Sicherheit genommen wurde und nur noch wenige Jahre bis zum Sabbatjahr ausstanden. Diese Regeln sind auch ganz und gar unabhängig von dem Aufruf an die Israeliten, die Armen durch Wohltätigkeit zu unterstützen (z. B. in Esther 9,22).

Leider scheinen die Sabbat- und Erlassjahr-Regeln nur selten – wenn überhaupt – befolgt worden zu sein. Es gibt einige Hinweise auf tatsächliche Landbrachen, aber keine verlässlichen Quellen für die Umsetzung des Erlassjahrs. Jeremia beklagt vielmehr (Jeremia 34,8-17), dass die Israeliten das Erlassjahr missachteten, und Jesaja klagte diejenigen an, die Haus an Haus und Acker an Acker reihen (Jesaja 5,8).

Auch in den jüdisch-christlich geprägten Kulturen des mittelalterlichen Europa haben die Prinzipien der Umverteilung keine sonderliche Beachtung gefunden. Im Gegenteil: Das Römische Recht erlaubte die Eliminierung des Schuldners, und im mittelalterlichen Europa war die Beugehaft in Form des Schuldturms gang und gäbe. Beides – ganz abgesehen von allen menschenrechtlichen Erwägungen – keine besonders effizienten Maßnahmen, um von einem insolventen Schuldner einen Kredit zurückzuerhalten. Selbstredend waren solche Instrumente weit entfernt von der Absicht des mosaischen Gesetzes, eine dauerhafte Spaltung der Gesellschaft in reiche Gläubiger und arme Schuldner zu verhindern.

Aus Gründen der wirtschaftlichen Effizienz und der bürgerlichen Staatlichkeit mussten die in der frühen Neuzeit entstehenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften solche archaischen Formen der Schulden-(Nicht-)Eintreibung überwinden. Die modernen Insolvenzgesetze für Personen wie für Unternehmen, die sie dazu schufen, nehmen in erstaunlichem Maße Elemente der alttestamentlichen Erlassjahr-Gesetzgebung auf:

  • Das Privatinsolvenzrecht begrenzt die Ansprüche des Gläubigers da, wo das Überleben des Schuldners in Würde gefährdet ist; ein Existenzminimum wird im Prinzip unabhängig von der Höhe der Gläubigeransprüche pfändungsfrei gestellt.

  • Insolvente Unternehmen werden prioritär so behandelt, dass das weitere Funktionieren, sofern irgend möglich, gewährleistet wird.

  • Schuldenerlass wird gewährt, wann immer er notwendig ist; so wird die „einmal-pro-Generation“-Regel der israelitischen Agrargesellschaft in die Wirklichkeit einer dynamischen kapitalistischen Volkswirtschaft übersetzt.

  • Insolvenz hat eine gesetzliche Grundlage. Weder die reichen Gläubiger noch Regierungen können die Anwendung von Insolvenzgesetzen verhindern.

  • Wie die religiösen Autoritäten in Israel gehalten waren, die weltlichen Herrscher zur Anwendung des mosaischen Gesetzes anzuhalten, ist heute die Rechtsprechung damit betraut. Der Zugang zu einem fairen Verfahren hat weder mit Mildtätigkeit gegenüber einem armen Menschen noch mit dessen eventuellem Wohlverhalten etwas zu tun. Er ist ein Recht. Und damit ist die Bewältigung einer möglichen Krise schon im Moment der Kreditaufnahme für beide Seiten berechenbar.

Die Anwendung dieser sehr alten Prinzipien seit den Zeiten der Französischen Revolution hat wesentlich zur Zivilisierung eines ansonsten rücksichtslosen Kapitalismus beigetragen. Solcherart rechtsstaatliche Verhältnisse können in ihrer Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaften kaum überschätzt werden.

Allerdings decken Insolvenzverfahren nicht alle Schuldner-Gläubiger-Beziehungen ab. Die gravierendsten Schuldner außerhalb rechtsstaatlicher Regeln und Verfahren sind so genannte „souveräne Schuldner“, d. h. verschuldete Staaten. Die Verfahren, denen diese sich im Falle von Zahlungsun­fähigkeit unterwerfen müssen, haben deutlich mehr Ähnlichkeit mit den genannten mittelalterlichen Praktiken der Schuldeneintreibung:

  • Gläubiger behalten sich das Recht auf die Entscheidung über Gewährung oder Nicht-Gewährung von Schuldenerlass vor. Dort handelt es sich auch nicht um ein unparteiisches Verfahren. Schuldenerlasse wurden z. B. gewährt, wenn absolut nichts mehr zu holen war, oder wenn es sich bei dem Schuldner um einen wichtigen Verbündeten eines Club-Mitglieds handelte.

  • Von den Kanonenbooten des 19. Jahrhunderts bis zu den Strukturanpassungsprogrammen von IWF/Weltbank seit den Achtzigerjahren holen die Gläubiger aus den Schuldnern heraus, was irgend zu holen ist; Menschenrechte spielen dabei keine Rolle.

  • Die Gläubiger treffen ihre Entscheidungen auf der Grundlage von Analysen der Weltbank und des IWF – beides in der Regel selbst wichtige Gläubiger des Schuldnerlandes. Da ihre eigenen Rückzahlungen von ihren Analysen abhängen, unterliegen sie einem Interessenkonflikt, der sie in jedem rechtsstaatlichen Verfahren für eine Gutachterrolle disqualifizieren würde.

Solche Praktiken werden von den Gläubigern regelmäßig damit gerechtfertigt, dass es international – anders als im alten Israel oder einem modernen Staatswesen – keine Gerichtsbarkeit für Insolvenzfälle gibt. Dabei gibt es seit vielen Jahren von führenden Wissenschaftlern, Internationalen Organisationen wie der UNO und Nichtregierungsorganisationen Vorschläge, wie nationale Insolvenzverfahren auch auf überschuldete Staaten angewendet werden können.

Mit dem Ziel, die Prinzipien des biblischen Erlassjahres – den Schutz vor dauerhafter Überschuldung und Abhängigkeit – in die Welt moderner Finanzbeziehungen zu übertragen, fordern Kirchen und Entschuldungsbewegungen eine grundlegende Reform des globalen Schuldenmanagements. Die Schaffung eines fairen und transparenten Staateninsolvenzverfahrens ist die zentrale Forderung der globalen Erlassjahr-Bewegung geworden. Damit ergänzt sie die nach wie vor aktuelle Forderung nach der Streichung untragbarer und illegitimer Schulden durch einen fairen und transparenten Verfahrensweg.

Wo steht dieser Prozess zu Beginn der zweiten Jahreshälfte 2017? Die ganze moderne Wirtschaftsgeschichte hindurch hat es immer wieder Staatsinsolvenzen gegeben. Manch lateinamerikanische Staaten waren mehr Jahre im Zahlungsverzug als dass sie pünktlich gezahlt hätten. Diese Schuldenkrisen sind auf unterschiedliche Weise chaotisch und ineffizient „gelöst“ worden, meist ohne Rücksicht auf die Menschenrechte der ärmsten Bevölkerungsschichten im Schuldnerland.

Die globale Finanzkrise hat die wirtschaftspolitische Landkarte grundlegend verändert: Viel mehr Länder als in der Phase hohen Wachstums, als zudem die begrenzten Schulderlassprogramme der Gläubiger (HIPC/MDRI) umgesetzt wurden, sind nun in der Gefahr eines Staatsbankrotts. Heute stehen so unterschiedliche Länder wie Gambia und Griechenland, Jamaika und die Ukraine am Rande der Zahlungsunfähigkeit.

Deshalb stellt die für viele Menschen wirklich lebensbedrohliche Krise zugleich einen Kairos für eine globale Reform im Sinne des biblischen Erlassjahr-Konzepts dar. Große Reformen sind in einem globalen Rahmen nur sehr schwer zu erreichen. Fast immer geschieht dies nur in den kurzen Krisenmomenten, wenn der politische Wille zu Veränderungen bei einigen Entscheidungsträgern und eine Strömung in breiteren Kreisen der Bevölkerung zusammenkommen. Jahre hindurch war die Forderung nach einem Internationalen Insolvenzverfahren das einsame Privileg von Kirchen und Entwicklungsorganisationen. In jüngster Zeit gibt es aber verstärkt Bemühungen um umsetzbare Vorschläge in den Vereinten Nationen, z. B. im Zusammenhang mit dem Financing for Development Prozess und auf der Ebene der Generalversammlung vonseiten der Entwicklungs- und Schwellenländer. Aber wir wissen auch, dass ein solches window of opportunity nicht ewig offen bleibt.

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