Belonging comes before Believing

Schritt für Schritt ins Evangelium

Im senfkorn.-Laden schauen wir gemeinsam mit zwei Handvoll Menschen gebannt auf die Leinwand. Da spricht Jesus mit einem seiner Schüler in der Serie „The Chosen“. Jesus wendet viel Geduld auf, um diesen „Auserwählten“ für den neuen Weg zu gewinnen. Herzerweiterung ist gefragt, auf allen Ebenen. Zu sich selbst hin, zu den anderen hin, zu den anderen Völkern hin – weil Gott, der Vater, nicht zuerst Wohlverhalten, sondern Vertrauen und Hingabe sucht. Dazu erzählt Jesus seinen Schülern Geschichten. Dazu nimmt er sie mit auf seinen Wegen durchs Land. Dazu mutet er ihnen die anstrengende Gemeinschaft im Jüngerkreis zu. Er lässt sie mitmachen. Alles, damit sie sich diesen Paradigmenwechsel des Herzens allmählich zu eigen machen. In der senfkorn.STADTteilMISSION in Gotha-West lernen wir von Jesus. Wir sehnen uns danach, dass unsere Nachbarinnen und Nachbarn Heil und Heilung in Jesus finden. Dass sie von innen verwandelt werden durch die Gute Nachricht – und das dann Kreise des Friedens um sie zieht. Aber so schnell geht das nicht mit dem „Bekehren“. Es sind sehr persönliche Zugänge und Meilensteine auf dem Weg hinein ins Evangelium. Diese Meilensteine dürfen wir mitgestalten und zugleich staunend und demütig Gottes maßgeschneidertes Handeln an den Menschen erleben.

Es sieht ganz so aus, dass alles ganz schlicht mit Zugehörigkeit (belonging) beginnt. Vor drei Jahren stand in der Karwoche der senfkorn.-Laden jeden Tag offen. Auf den Tischen Stationen zum Betrachten und Gestalten. Durch die Glasscheibe von außen zu erkennen. Michael ist da. Eine Frau tritt ein, schaut sich um. Bringt ihr Leben mit, ihre Einsamkeit. Erzählt davon. Die offenen Ohren sind weit wichtiger als die Inhalte auf den Tischen. Hier hört man zu, erlebt die Frau. Sie kommt wieder. Immer wieder. Sie beginnt, sich in der kleinen Küche nützlich zu machen. Geht umher und bedient die anderen. Längst sprechen wir sie mit ihrem Vornamen an, wissen, wo sie wohnt, durften sie besuchen, kennen einige der Schrecknisse ihres Lebens. Gott? Jesus? Irgendwie schon. Getauft, konfirmiert vor über 50 Jahren. Aber „toi, toi, toi“ und „Hauptsache Gesundheit“ weiterhin als Lebensphilosophie. Als die Ladentür demoliert und ein neues Schloss eingebaut werden muss, gehört sie zu denen, die einen eigenen Schlüssel erhalten. „Ich werde gebraucht!“ sagt sie und strahlt. Aus der Bibelentdeckergruppe jeden Dienstag ist sie nicht mehr wegzudenken. Sie gewöhnt sich daran, Anteil zu geben an dem, was sie erlebt, steckt eine Kerze an. Viele Monate später wird sie einmal dienstags von ihren Nachbarinnen gefragt, wo sie denn hinginge. „Zur Bibelstunde“, antwortet sie zum ersten Mal. „Sie haben mich groß angeschaut“, erzählt sie, „was ich denn da wolle, haben sie gesagt. Ich habe gesagt, es sei schön dort und wir halten alle zusammen.“ Manchmal spricht sie mittlerweile kleine eigene Gebete: „Guter Gott, hilf uns, dass wir alle gut miteinander auskommen.“ Was braucht unser Stadtviertel Besseres?

Jemandem ist Silvester die ganze Wohnung ausgebrannt. Auf ihrem täglichen Gang zum Einkaufen lässt sie sich vor dem Laden zum Kaffeetrinken einladen. Wir sind ihre Klagemauer, immer wieder. Sie erfährt Willkommensein und Fürsorge – und bringt ihrerseits für alle etwas zum Essen mit. Ein netter Handwerker befreit ihren Fernseher von den Schäden des Löschwassers und installiert ihr Bibel-TV, das wird ihr täglicher Begleiter. Gemeinsames Singen, biblische Geschichten, Ladengottesdienste – frisches Wasser dringt in ihren ausgetrockneten Boden. In ihrer neuen Wohnung dekoriert sie die Wände mit Mitbringseln von unseren senfkorn.-Treffen. Als ich sie besuche, zeigt sie mir sehr stolz ihre „Gebetsecke“: Karten, Bilder, Fotos. Sogar das Foto einer Frau, die ihr Unrecht getan hat. „Immer wenn ich daran vorbeigehe, bete ich für sie“, erzählt sie mir. Und am Sonntag hätte sie sich mit anderen Frauen vom senfkorn. im Döner verabredet, denn jetzt habe sie ja Freundinnen. „Gott hat mich da rausgehauen aus der alten Wohnung, damit ich das hier noch erleben darf.“

„Jesus für alle Völker“ nannten wir unsere letzte Adventsaktion auf dem zentralen Platz in unserem Stadtviertel. Vier Wochen lang draußen bei den Leuten. Wie sonst soll man merken, dass es hier Christen gibt? Wer von unseren vielen internationalen Freundinnen und Freunden würde sich trauen, in der eigenen Sprache den täglichen kleinen Abschnitt aus den biblischen Erzählungen zu sprechen? Eine Jugendliche aus Polen! „Wir brauchen dich!“, so unsere Botschaft. Keinen Tag ließ sie aus, eifrig bei der Sprechprobe dabei zu sein, um dann laut und deutlich ihre Stimme erschallen zu lassen. Am letzten Tag konnte sie nicht dabei sein, bat mich aber, ihre Audioaufnahme abzuspielen. „Polnisch darf nicht fehlen!“, war ihre Überzeugung. Sie könnte noch einen weiten Weg haben, bis das „euch ist heute der Retter geboren“ in ihrem Leben Fuß fasst. Ein Meilenstein könnte dabei die Erfahrung auf dem Platz werden.

„Wenn die geladenen Gäste in dem Gleichnis nicht zum Fest kommen wollen, dann könnte es ja auch am Gastgeber liegen“, reagiert jemand in der Bibelentdeckergruppe. „Ich kann verstehen, wenn Leute mit Gott nichts zu tun haben wollen. Er macht ja auch viel zu wenig. Warum ist denn immer noch dieser Krieg?“ Betroffen gehe ich nach Hause, suche nach einer Antwort. Ich will Gott in Schutz nehmen, für ihn streiten, diesen Vorwurf nicht auf ihm sitzen lassen. Dabei sind wir Stadtteilmissionare es doch, die wir uns öffnen wollen für den Dialog, für uns ungewohnte Perspektiven, wir wollen Authentisches nicht nur zulassen, sondern fördern. Ist es vielleicht gar kein Vorwurf, sondern eher eine Not, eine Suche, eine Klage? Klagen vor Gott ist ja unbedingt erlaubt, sogar unabdingbar, wenn man sich nicht furchtsam ducken, sondern allmählich Gott anvertrauen möchte. Es muss durch die bohrenden Fragen hindurchgehen. Und so merke ich, dass ich selbst verändert werde in der echten Begegnung mit den Menschen, die auf dem Weg ins Evangelium hinein sind.

Zugleich gilt es wohl, die Frage hinter der Frage zu erspüren. Heißt dann vielleicht „Gott macht ja nichts!“ auch so etwas wie: „Ich würde so gerne persönlich erleben, dass Gott eingreift. Ich finde es so schwer, ihm zu glauben angesichts der vielen Not.“ Alexander Garth, Beauftragter der Evangelischen Allianz für Evangelisation und Gemeindegründung, sagt, es geht zunächst darum, dass die Menschen überhaupt spüren, dass sie sich nach Gott sehnen. Dass sie ahnen, dass da mehr ist. Vielleicht Trost, Hoffnung, Sinn.

Da hört ein Mann das Singen auf dem Platz in der Adventszeit und es zieht ihn an. Die freundliche Begrüßung erstaunt ihn. Er tritt ein in den warmen Laden, erzählt seine Lebensgeschichte voller Verletzungen. Lässt sich einladen an den Weihnachtstisch bei Weinmanns gemeinsam mit 20 anderen. Sitzt da verwundert, begeistert. Silvester kommt, im Januar der erste Ladengottesdienst, bei den Liedern weint er, klatscht, ruft „Wahnsinn“. Er gewöhnt sich an den Wochenrhythmus im senfkorn., es wird auch sein Rhythmus. Freitagmittags gemeinsam danken, auf die Woche zurückschauen. „Ute, ich werde da nie etwas sagen!“, verrät er mir. Bis ihm das Herz überläuft, als er Teil einer Renovieraktion wird – da steht er feierlich auf, zündet eine Kerze an und spricht vor allen. Ende März feiern wir seinen Geburtstag. Die Zutaten hat er selbst mitgebracht. Es gibt Geschenke, Lieder. „Du bist kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur, … du bist ein Gedanke Gottes“. Sein Weg wird weiterführen auf Jesus zu, bis dieser Mann Ja sagt. Geduldige Begleitung braucht es, Zuversicht und Vertrauen in Gottes Geist, der sanft an lange verschlossene Türen klopft.

Sieben Tage lang öffnen wir vor Ostern den Laden. „… Als wären wir dabei gewesen“ nennen wir die Nachmittage, zu denen neben Zeit zur Begegnung eine kleine Liturgie gehört und danach kreative Gestaltung. Zugänge mit allen Sinnen wollen wir ermöglichen. Drei Frauen und drei Männer lesen Erzählungen von Personen, die in den letzten Tagen von Jesus dabei waren. Für die Identifikation sind die Texte in der Ich-Form. Jeden Tag fügen wir eine biblische Erzählfigur hinzu – mit einer Farbe, die die Stimmung aufgreift: Jubel, Reue, Angst, Hingabe. Voll Aufmerksamkeit lauschen die mehr als zwei Dutzend Menschen aus unserem Stadtviertel. Was aber fangen sie mit dem Gehörten an? Wir laden ein: Tränenwasser schmecken, Nardenöl riechen, einen Knoten im kurzen Seil lösen lassen, einen Stoffstreifen an ein Kreuz binden, das Gewicht eines Steins spüren, die Umrisse in ihr Heft zeichnen. Jeder findet sein Element, sein Bild, sein inneres Thema. Tränen fließen, Gebete werden gesprochen. Schritte auf dem Weg ins Evangelium werden beschritten.

In erlebter Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft – mein Name, meine Meinung, meine Geschichte, meine Mitarbeit, sogar meine Macken und meine Schmerzen dürfen ihren Platz haben – keimt die Ahnung, dass da ein Gott ist, der mich hört und sieht. Das Vertrauen untereinander ist fruchtbarer Boden, dass auch das Vertrauen zu Gott wächst. Braucht es, damit Menschen mit innerer oder äußerer Distanz zum christlichen Glauben wieder Sehnsucht nach Gott fühlen, nicht viel weniger Programme oder Veranstaltungen, sondern solche Orte der Zugehörigkeit und Annahme?

Eine gesprochene Version des Artikels findet sich hier

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