Mission – Meinungen und Mythen

Ein Ethnologe unterscheidet

Lothar Käser – Als mich die Redakteurin von „Mission weltweit“ vor einigen Monaten fragte, ob ich bereit wäre, zu diesem Thema etwas zu schreiben, überlegte ich nicht lange, denn es interessierte mich, und ich war auch der Meinung, dass sich die Argumente, die ich parat hatte, in einigen wenigen Stunden zu einem lesbaren Text formen lassen würden. Ich hatte mich schwer getäuscht. Das Thema erwies sich als äußerst schwierig, aber mein Interesse hielt mich an der Arbeit. Folgen Sie mir also, liebe Leser, einem Ethnologen, der versucht, die Arbeit der Missionen von einem ganz anderen Standpunkt her zu beschreiben, als es ein Theologe oder auch ein Missiologe tun würde; ein Standpunkt übrigens, der wohl auch sehr verschieden von dem ist, den Sie selbst einnehmen.

Ethnologen sind Wissenschaftler, die sich mit den Kulturen und Gesellschaften der Menschheit beschäftigen, insbesondere aber mit den Kulturen der sogenannten schriftlosen (oder bis vor kurzem schriftlosen) Völker. Das sind meist die Stammesorganisationen Afrikas, Amerikas, Asiens und Ozeaniens. In diesem Zusammenhang ist es von einigem Interesse zu wissen, dass die Gesellschaften, die von Ethnologen erforscht werden, auch das bevorzugte Arbeitsfeld der Missionen sind. Daraus ergeben sich zahlreiche Parallelen hinsichtlich dessen, was Ethnologen und Missionare wissen wollen und müssen, aber es ergibt sich daraus auch ein erheblicher Konflikt zwischen beiden. In diesem Konflikt nimmt die Öffentlichkeit unserer Gesellschaft einseitig Partei gegen die Missionen. Daraus ist das entstanden, was uns hier beschäftigen soll: Mythen über Mission.


Sprachlich gesehen handelt es sich hier um die Mehrzahl des Wortes „Mythos“. Das Wort bedeutet im Griechischen etwa „Sage“, „Dichtung von Helden, Geistern, Göttern“. Ethnologisch definiert sind Mythen mündlich überlieferte, im Glaubensleben und in der Weltanschauung einer Kultur verankerte Erzählungen. Ihre eigentliche Funktion ist es, Sachverhalte, die nicht auf einfache Weise erklärbar sind, in eine Handlung zu kleiden, die man griffig formuliert erzählen, über die man sprechen kann. Dies ist aber nicht eigentlich die Bedeutung, die in der Formulierung „Mythen über Mission“ enthalten ist. Wie ich das Wort hier benütze, bedeutet es etwa „realitätsferne Vorstellungen und Ansichten über Mission, die in der öffentlichen Meinung kursieren und meist mündlich geäußert und weitergegeben werden“. Damit sind derartige Mythen in besonderer Weise charakterisiert. Als realitätsfernen Vorstellungen fehlt ihnen nämlich die sachliche Begründung. Folglich sind sie als Vorurteile ausgewiesen, zu denen derjenige greift, der sich zum Thema Mission äußern will oder muss, ohne genauere Kenntnis davon zu haben, oder einfach, weil er sich den Anschein von Kompetenz verleihen will.

Diese Art von Mythen zurechtzurücken, sie als falsch oder zumindest als einseitig zu entlarven, ist nicht leicht, oft kaum möglich. Vor allem ist es nicht leicht, dies mit wenigen Worten zu bewirken. Daher sind solche Mythen zählebig und wie hartnäckiges Unkraut schwer auszurotten. In Wirklichkeit stellen sie sogenannte einfache Lösungen dar, oder – anders gesagt – sie sind Versuche, das eigene Vorurteil als berechtigtes und fundiertes Urteil erscheinen zu lassen.

Unter den zahlreichen Mythen über Mission finden sich ganz platte, eher unbedarfte, bis hin zu sehr subtilen, mit intellektueller Schärfe vorgetragenen, die aber genauso wenig der Wirklichkeit entsprechen. Unter ihnen gibt es Mythen, die nur von solchen Menschen für bare Münze genommen werden, die außerhalb einer christlichen Gemeinde oder Kirche stehen und daher sehr wenig wissen darüber, was Christsein ist und noch weniger, was Mission ist. Es gibt aber auch Mythen über Mission, die innerhalb von Gemeinden und Kirchen gepflegt werden. Es ist mir nicht möglich, alle möglichen Mythen hier umfassend darzustellen. Ich habe daher eine Auswahl der wichtigsten vorgenommen, die ich im Folgenden zu widerlegen versuche, indem ich sie kommentiere.

Mission ist Vernichtung von Kulturen

Es handelt sich um denjenigen Mythos, den man am häufigsten hört. Merkwürdig daran ist, mit welcher Selbstverständlichkeit er vertreten und wie wenig darüber nachgedacht wird, was man in Wirklichkeit damit behauptet. Zwar gab es Zerstörung von Kulturen. Unerfindlich ist aber auf jeden Fall, warum es die Missionen gewesen sein sollen, die diese Zerstörung angerichtet haben.

Wir wissen, dass es Zeiten gab, in denen Missionare bei der Verbreitung des christlichen Glaubens militärische Gewalt als Mittel zum Zweck benutzten. Ich erinnere damit an die Ereignisse bei der Eroberung Amerikas durch die Spanier im 16. Jahrhundert. Dabei ist den Gesellschaften und Kulturen der Inkas, Mayas und zahlreicher anderer indianischer Ethnien schwerer Schaden zugefügt worden. Derartiges Verhalten von Seiten der Missionen gibt es schon seit langem nicht mehr. Und schon damals, so die Quellen, waren es Missionare, die sich dem üblen Treiben der Eroberer als Erste entgegenstellten und sich mit den Indianern solidarisierten. Zerstörung von Kulturen durch die Arbeit von Missionen ist eine seltene Ausnahme geblieben. Die meisten Missionen sehen sich heute unter anderem vor die schwierige Aufgabe gestellt, die traurigen Reste von Kulturen davor zu bewahren, völlig unterzugehen. Zahlreiche Kulturen und Sprachen gäbe es gar nicht mehr, wenn sich Missionen nicht um ihre Träger, d. h. die betreffenden Menschen, und damit um ihre Erhaltung gekümmert hätten.

Im Übrigen herrschen etwas naive Vorstellungen von den Möglichkeiten, die Missionen haben, Kulturen zu ruinieren. Kulturen lassen sich nicht zerstören in einem Sinne, wie man sich das landläufig vorstellt, schon gar nicht durch Missionare. Da überschätzt die öffentliche Meinung die Fähigkeiten von Missionaren doch wohl erheblich.

Was Missionen allerdings bewirken, ist Veränderung von Kulturen. Darin unterscheiden sich Missionen nicht von Entwicklungshilfeorganisationen, nicht von medizinischen Programmen zur Eindämmung von Seuchen oder zur Aufklärung der Bevölkerung über Maßnahmen zur Kontrolle von Bevölkerungswachstum. Sie alle verändern. Schulunterricht ist zum Beispiel ein ganz massiver Faktor bei der Veränderung von Kulturen. Wenn solche Veränderung, auch durch Mission, von den Betroffenen gewollt ist und in Zusammenarbeit mit ihnen geschieht, dann kann eine solche Veränderung ja wohl kaum als Vernichtung zu verleumden sein.

Völlig vergessen wird bei dieser Argumentationsweise, dass es ein Missionar war, dem wir Europäer unsere eigene Kultur mit verdanken, dem Apostel Paulus nämlich. Er hat mit dem Evangelium etwas ganz Neues in die antike Kultur und Gesellschaft hineingebracht, mit enormen Folgen. Dabei ist manches in die Brüche gegangen, wie wir aus der Geschichte wissen. Aber kaputt liegengeblieben sind die antiken Kulturen danach doch wohl nicht. Was ist da alles entstanden?! Die gotischen Kathedralen, die H-moll-Messe Johann Sebastian Bachs, unsere europäischen Rechtsordnungen – alles kulturelle Höchstleistungen, die letztlich darauf zurückgehen, dass sich ein Missionar wie Paulus und zahllose nach ihm auf den Weg machten. War das Vernichtung von Kulturen? Doch wohl nicht. Im übrigen unterscheiden sich die Missionen als Veränderer von Kulturen erheblich von den anderen Veränderern wie zum Beispiel die Entwicklungshilfe. Entwicklungshelfer treten immer auf in der erklärten Absicht, Veränderungen herbeizuführen. Diesen Anspruch erheben die Missionen keineswegs mit der gleichen Selbstverständlichkeit und Lautstärke.

Mission ist Missachtung traditioneller Werte

Wie es zu diesem Mythos gekommen ist, lässt sich nur schwer erklären. Sicher ist, dass das Evangelium, das in einer Gesellschaft Fuß fasst, Veränderungen auch im Bereich der Wertvorstellungen hervorruft. Diese Folge als missachtenden Eingriff von Seiten der Missionen zu verunglimpfen ist falsch, denn die entsprechenden Veränderungen werden von den Missionen nicht erzwungen, sondern in aller Regel von den Betroffenen selbst vorgenommen. Von Missachtung ihrer Werte kann also keine Rede sein. Im Übrigen können Missionare gegen traditionelle Werte von Menschen nichts ausrichten, wenn die Betreffenden es nicht selbst wollen.

Jede Gesellschaft braucht Werte, um zu existieren. Es gibt aber in jeder Gesellschaft auch Werte, die nicht dem Wohl der Gesellschaft dienen, sondern schwere Belastungen zumindest für den Einzelnen und seine Familie bedeuten können. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele.

Es gab Gesellschaften, in denen die Ehefrau(en) eines Mannes bei dessen Tod vor der unausweichlichen Tatsache standen, ihm ins Jenseits folgen zu müssen, z. B. durch die sogenannte Witwenverbrennung. Die Staaten, in denen dies früher geschah, haben es inzwischen per Gesetz verboten. Wo Witwenverbrennung in Gesellschaften üblich war, galt sie als hoher Wert. Witwen konnten sich ihm nicht entziehen, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten. Hätten sie sich verweigert, dann hätten sie sich gegen die Tradition ihrer Gesellschaft gestellt und wären gezwungen gewesen, als Ausgestoßene weiterzuleben, eine Unmöglichkeit unter den Bedingungen schriftloser Kulturen. Was uns hier interessieren muss, ist die Tatsache, dass die betroffenen Frauen durch die Wertvorstellungen ihrer eigenen Tradition traumatische Gewalt erleben. Ist es wirklich Missachtung traditioneller Werte, wenn sich Missionen gegen diese Praxis äußern?

Ein zweites Beispiel. In vielen Teilen Afrikas gilt es unter Frauen als hoher Wert, beschnitten zu sein. Unbeschnittene Frauen gelten als unsauber, im schlimmsten Fall als nicht heiratsfähig. Nur Prostituierte sind unbeschnitten. Dieses körperliche Merkmal aufzuweisen bringt also hohes Prestige, indem es den Frauen ihren eigentlichen Status als Ehefrauen ermöglicht. Also werden jedes Jahr Zehntausenden von kleinen Mädchen im Alter zwischen acht und zwölf Jahren die Genitalien beschnitten, mit der Rasierklinge oder einer Glasscherbe, ohne Betäubung, unter schlimmsten hygienischen Bedingungen. Der Wert dieser Prozedur erhöht sich unter Umständen noch dadurch, dass sie im Namen einer Religion vorgenommen wird. Die körperlichen und psychischen Folgen für die Opfer sind haarsträubend. Hier wendet sich Tradition massiv gegen den Menschen. So etwas kann Gott nicht gewollt haben und nicht wollen, denn er hat den Menschen anders erschaffen. Wenn dem aber so ist, dann machen wir uns schuldig, wenn wir nicht dazu beitragen, dass solche traditionellen Werte verschwinden.

Tun wir es nicht, machen wir uns unter Umständen sogar der unterlassenen Hilfeleistung schuldig! Und nun noch einmal die Frage: Ist es Missachtung traditioneller Werte, wenn sich Missionen gegen diese Praxis äußern?

Mission fördert den Entfremdungs- und Entwurzelungsprozess

Dieser Mythos bedarf einer Erklärung. Unter Entfremdungs- und Entwurzelungsprozessen versteht man einen Vorgang, in dessen Verlauf eine Gesellschaft ihre Kultur, d. h. ihre bisherige Lebensweise in einem umfassenden Sinn nach und nach aufgibt oder verliert, weil sie in Kontakt mit einer anderen, übermächtigen Kultur gerät. Dieser Prozess kann sogar bedeuten, dass die betreffenden Menschen ihre Sprache aufgeben. Wie das konkret aussieht, mache ich am besten wieder an einem Beispiel klar.

Die Aka-Pygmäen in der Zentralafrikanischen Republik sind Wildbeuter, d. h. sie leben vom Jagen und Sammeln. Um mit dieser Wirtschaftsform ihre Existenz zu sichern, haben sie im Lauf der Jahrhunderte eine Fülle von Ritualen entwickelt, z. B. solche für die Jagd auf Waldelefanten. Diese Rituale regeln unter anderem die Rollen der Jäger in ihrer Gruppe, die Autoritätsstrukturen zwischen den Alten und Jungen, und sie weisen jedem Mitglied seinen Platz in der Aka-Gesellschaft entsprechend seiner Begabung zu.

Seit einiger Zeit gibt es in ihrem Gebiet ein Sägewerk, in dem die großen Urwaldbäume zu Bau- und Möbelholz verarbeitet werden. Die Männer der Aka finden hier Arbeit, für die sie bezahlt werden. Ein Sägewerk, Lohnarbeit und die damit verbundene Geldwirtschaft sind Elemente einer ganz anderen, schon rein technologisch übermächtigen Kultur. Um in einem Sägewerk seinen Lebensunterhalt zu verdienen braucht man keine Jagdrituale. Sie werden von heute auf morgen sinnlos, und sinnlose Dinge werden von Menschen sehr schnell aufgegeben. Dies ist ein Aspekt dessen, was man unter Entfremdungs- und Entwurzelungsprozessen versteht. Seltsam ist nun, dass man den Missionen die Förderung dieses Prozesses vorwirft. Sicher ist, dass auch die Missionen Elemente in eine bestehende Kultur hineinbringen, die Veränderungen bei den Menschen bewirken. Aber kein Missionar würde versuchen, in die Art und Weise einzugreifen, mit der die Menschen ihre Nahrung gewinnen, oder Veranlassung zu geben, ihren Lebensraum zu verlassen, um auf diese Weise massive Entfremdungs- und Entwurzelungsprozesse zu erzeugen. Im Gegenteil!

Missionen sind verkappte Wirtschaftsunternehmen

Hier handelt es sich um eine besonders platte Unterstellung. Vielleicht kam der Mythos zustande, weil Missionen manchmal Dinge an die Menschen ihres Arbeitsbereichs verkaufen, die sie ohne die Missionen selbst nicht bekommen könnten, z.B. Medikamente. In einem solchen Fall ergibt sich eine weitere Unterstellung: Warum verschenken Missionen so etwas nicht? Die Antwort ist ganz einfach. Was nichts kostet, wird leicht verschwendet, in der Dritten Welt genauso wie bei uns in Europa. Und aus dem Verschenken entstünde mit Sicherheit ein neuer Mythos: Missionen „kaufen“ einheimische Christen damit, dass sie ihnen Dinge gratis liefern, die sie anders nicht bekommen könnten. Aus solchen Behauptungen lässt sich ein weiterer Mythos konstruieren.

Missionen nützen die wirtschaftliche Unterlegenheit und Not der Menschen ihres Arbeitsgebiets für ihre Zwecke

Dieser Mythos hat eine interessante Dimension. Man kommt der Wirklichkeit recht nahe, wenn man ihn umkehrt: Die Menschen greifen auf die Missionen zurück, um in ihrer wirtschaftlichen Unterlegenheit und Not der Ausbeutung durch andere nicht hilflos ausgesetzt zu sein. Ein Beispiel: In den Achtzigerjahren hatte ich Gelegenheit, eine Zeit lang bei Asheninka-Indianern am Pauti-Fluss in Peru zu verbringen. Sie pflanzen unter anderem Kaffee an. Wenn sie nun ihren Rohkaffee an einen peruanischen Händler verkaufen, wiegt der zunächst ihren Sack. Die Indianer kennen aber weder eine Waage noch Zahlen. Der Händler kann sie betrügen, wie er will, und die Erfahrung hat sie gelehrt, dass sie ständig übers Ohr gehauen werden. Was machen sie? Sie bitten einen ihrer Missionare, sie zum Händler zu begleiten. Der Missionar kann lesen, schreiben und eine Waage bedienen. Er kann also nicht betrogen werden. Und die Indianer wissen, dass der Missionar seinerseits sie nicht betrügt. Sie wissen, dass sie ihm vertrauen können. Einfach so.

In den Anfangszeiten der Tätigkeit von Missionen allerdings waren sie auch eine Art Wirtschaftsunternehmen. Missionare bekamen damals in der Regel keine finanziellen Mittel für ihre Arbeit aus Europa. Das Geld musste erwirtschaftet werden, indem beispielsweise landwirtschaftliche Produkte vermarktet wurden. Ohne diese Mittel wäre Mission nicht möglich gewesen. Das hat sich inzwischen vollständig gewandelt. Missionen und karitative Organisationen sind heute praktisch die einzigen Fremden in den Riesenstädten der Dritten Welt oder den Dörfern der Ureinwohner auf den Philippinen, die keine wirtschaftlichen, keine touristischen (und keine sexuellen!) Interessen verfolgen.

Missionen missachten den Wunsch einheimischer Organisationen, keine Missionen in ihr Gebiet zu lassen

Es ist unerfindlich, wie es zu diesem Mythos gekommen ist. Kein Missionar bricht irgendwo mit selbstverliehener Machtfülle in den Bereich einer fremden Kultur ein. Er hätte kaum eine Chance, denn es gibt gesetzliche Regelungen dafür. Missionen müssen heutzutage strikt darauf achten, nicht in Konflikt mit den Bestimmungen des Landes zu geraten, in dem sie tätig sind. Es gibt Regierungen, die sehr kritisch darüber wachen. Das ist gut so. Im Übrigen sind einheimische Organisationen den Missionen gegenüber in Wirklichkeit gar nicht so ablehnend, wie der Mythos dies glauben macht. Im Gegenteil. Viele sind geradezu interessiert daran, Missionen in ihr Gebiet zu bekommen. Der Grund dafür ist recht einfach, und er ist im nächsten Mythos enthalten.

Missionen bringen die Bibel anstelle von Wissen, Bildung und medizinischer Versorgung

Ein besonders interessanter Mythos. Auch er kommt der Wirklichkeit erst nahe, wenn man ihn umkehrt. Wirft man einen Blick in die Geschichte der (evangelischen) Missionen, so stellt man fest, dass die Bibel den Menschen in den allermeisten Fällen erst verhältnismäßig spät zugänglich gemacht wurde. Aus einem einfachen Grund: Die Sprachen der Missionsgebiete waren nicht verschriftet, und die Menschen konnten alle nicht lesen und schreiben. Daher war regelmäßiger Schulunterricht etwas vom ersten, was die Missionen einrichten mussten. Schulgebäude und Kirche waren folglich am Anfang meist identisch, Wissen und Bildung also ein Element der ersten Stunde.

Diejenigen, die diesen Mythos verbreiten, machen sich keine Vorstellung davon, was dieser Unterricht bedeutete. Nur so viel: Warum weiß eigentlich niemand, dass so bedeutende afrikanische Politiker wie Kwame Nkrumah (Ghana) und Kenneth Kaunda (Sambia) ihre Ausbildung in Missionsschulen erhielten und nur dadurch in die Lage versetzt wurden, für die Befreiung ihrer Länder und der dort lebenden Menschen vom europäischen Kolonialismus und Imperialismus zu kämpfen und diesen Kampf auch zu gewinnen? Ich selbst habe Anfang der Siebzigerjahre in Mikronesien erlebt, dass der Congress of Micronesia, die Volksvertretung der mikronesischen Inselgruppen, einen Antrag an das amerikanische Innenministerium stellte, wonach die kirchlichen Schulen in gleicher Weise finanziell unterstützt werden sollten wie die öffentlichen. (In den Vereinigten Staaten sind Kirche und Staat nach der Verfassung strikt getrennt.) Die Begründung für diese Sonderregelung lautete, ausnahmslos jeder Volksvertreter Mikronesiens habe seine Ausbildung auf einer kirchlichen Schule erhalten, die von den jeweiligen Missionen seiner Inselgruppe ins Leben gerufen worden war. Ohne die Missionen hätte es in der Tat keinen Congress of Micronesia gegeben.

Was die medizinische Versorgung angeht, ist der Mythos ebenfalls falsch. Überall stießen die Missionen auf Gesundheitsverhältnisse und hygienische Problemsituationen, die z.B. die Kindersterblichkeit enorm hoch sein ließ, mit entsprechendem Leid für die Mütter und Familien. Diesem Leid konnten sie sich nicht verschließen und leisteten daher schon gleich am Anfang ihrer Tätigkeit umfassende medizinische Hilfe, soweit dies unter den gegebenen Umständen möglich war.

Bevor die Missionen kamen, waren indigene (einheimische) Gesellschaften friedlich, spannungsfrei und ethisch hochstehend

Ein Mythos, der sich zählebig hält, vielleicht deswegen, weil er einem besonders tief empfundenen Wunschtraum der Menschen entspricht. Esoteriker in der westlichen Welt fallen auffallend leicht darauf herein.

Da werden Behauptungen aufgestellt, die bei näherem Zusehen keine Grundlage besitzen. Beliebt als besonders ethisch hochstehend sind die nordamerikanischen Indianer in der Rolle von Umweltschützern. Ihre wildbeuterische Lebensweise machte es erforderlich, dass sie sich der Natur so weit wie möglich anpassten, und ihre ursprüngliche Lebensweise hat gewiss der Natur die geringstmögliche Belastung und Veränderung zugemutet, die von Menschen überhaupt zu erwarten ist.

Das bedeutet aber nicht, dass Mensch und Natur mit dieser Wirtschaftsform bewusst in Harmonie zusammengelebt hätten. So schonend, wie ihnen das leichtfertig unterstellt wird, gingen die Indianer freiwillig mit der Natur nicht um. Für einen Festschmaus brauchten sie bisweilen nur die Zungen von Büffeln. Bei großen Gelagen tötete man so viele Tiere, dass man genug Zungenfleisch zur Verfügung hatte. Das übrige ließ man verrotten.

Dass es nicht zum Raubbau an der Natur kam und bei heute noch lebenden Wildbeutern nicht kommt, lag und liegt nicht so sehr an einer moralisch hochstehenden wildbeuterischen Ethik (die es sicher bei einzelnen Individuen auch gab und gibt!), sondern an der geringen Bevölkerungszahl und -dichte, die es erlaubte und auch heute noch manchmal erlaubt, mit natürlichen Ressourcen in dieser Weise umzugehen, ohne die Natur merklich zu belasten.

Manchmal wird argumentiert, die Indianer hätten vor ihrem Kontakt mit Europäern nie etwas abgeschlossen, weil niemand gestohlen habe. Das Stehlen hätten ihnen die Fremden beigebracht, und daher müssten sie heute Schlösser benützen, um ihren Besitz zu sichern. Nichts ist naiver als eine solche Sicht der Dinge. Wenn Indianer vor ihrem Kontakt mit Europäern das Stehlen nicht gekannt hätten, dann hätte es das Wort „Dieb“ in ihren Sprachen nicht geben können. Das gab es aber! Besitz, sofern man ihn überhaupt hatte, sicherte man dadurch, dass immer jemand zu Hause war, der Zeuge eines Diebstahls werden konnte, oder man verhängte einen Fluch über einen möglichen Dieb. Dieser Fluch wurde gefürchtet. Potenzielle Diebe mussten damit rechnen, dass sie krank wurden, wenn sie sich an fremdem Eigentum vergriffen. Wenn Indianer dies heute nicht mehr glauben, dann müssen sie vernünftigerweise Schlösser anbringen, um Dieben ihr Handwerk zu erschweren.

Erstaunlich ist, mit welcher Fraglosigkeit in diesem Mythos angenommen und behauptet wird, in fremden Kulturen, zumal in schriftlosen, lebten die Menschen in spannungsfreien Sozialstrukturen und unter nahezu paradiesischen Bedingungen. Wie wenig diese Ansicht berechtigt ist, hat Robert Edgerton in seinem Buch „Sick societies. Challenging the myth of primitive harmony“ (etwa: Kranke Gesellschaften. Eine kritische Untersuchung des Mythos von der Harmonie und Friedfertigkeit der Naturvölker. New York 1992) nachgewiesen. Der Mythos beruht auf der irrigen Unterstellung, fremde Gesellschaften und ihre Strukturen seien ausnahmslos positiv und vorteilhaft für die Betreffenden, lösten deren Daseinsprobleme in idealer Weise, viel besser jedenfalls als alles, was Europäer dazu zu sagen hätten. Aus dieser unbewiesenen Annahme wird geschlossen, dass die Betroffenen diese Verhältnisse und Strukturen auch so wollen, wie sie sind. Um zu erkennen, wie hohl so eine Ansicht sein kann, braucht man nur einmal zu schauen, wie in solchen Gesellschaften mit Tieren und erst recht mit Frauen umgegangen wird!

Missionen exportieren die Lebenseinstellung ihrer Herkunftsgesellschaften

Hier handelt es sich um eine Behauptung, die eine gewisse Berechtigung hat. Dass dies so ist, beruht auf einem einfachen Grund. Alles, was Menschen tun und denken, ist von ihrer Kultur überformt. Kein Mensch kann sich davon frei machen, auch Missionare nicht. Das Problem des Einzelnen liegt darin, dass er seine Art zu denken, seine Art der Problemlösung, seine Art der Weltsicht für die beste, für die richtige schlechthin hält. So ist es im Menschen angelegt, ein anthropologisches Grundfaktum, gegen das er nur schwer ankommt und das dazu führt, dass er die Tendenz hat, die Lebenseinstellung seiner Herkunftsgesellschaft zu exportieren. Missionare stammten früher und stammen heute noch vorwiegend aus der sogenannten Mittelschicht. Ihre Berufsausbildung ist eher praktischer Natur. Theoretiker unter ihnen sind die Ausnahme. Das Problem trat in der Vergangenheit besonders scharf hervor, weil (evangelische) Missionare in der Regel Handwerksberufe erlernt haben mussten, um unter den häufig schwierigen Umweltbedingungen ihrer Arbeitsgebiete überleben zu können. Mit ihrem Handwerksberuf waren sie Vertreter eines bestimmten sozialen Umfelds, eben der Mittelschicht, und mit dem Christentum, das sie lehrten, gaben sie deren Normen und Werte weiter, ohne sich dessen besonders bewusst zu sein. Heute ist das etwas anders geworden, selbstkritischer in einem positiven Sinn, wie mir scheint, aber nicht grundsätzlich anders. Das sollten die Missionen bei ihrer Vorbereitung von Missionaren auf ihre Tätigkeit bedenken.

Missionen sind politisch konservativ, rechtslastig und vertreten nie politisch progressive Absichten

Ebenfalls ein interessanter Mythos, den ich aber nur kurz behandeln will. Er enthält zunächst einen Denkfehler: konservativ zu sein, bedeutet weder rückständig noch rechtslastig zu sein, und linksorientiert zu sein, ist nicht identisch mit progressiver Einstellung. Ein Paradebeispiel für das Letztere sind kommunistisch regierte Länder. Sie nennen sich zwar lautstark progressiv. Gleichzeitig versuchen sie, ihre Volkswirtschaften mit Hilfe einer theoretischen Grundlage aus dem 19. Jahrhundert, dem Marxismus nämlich, in Gang zu halten. Etwas Konservativeres, ja Rückschrittlicheres kann ich mir kaum denken. Der Vorwurf an die Missionen, sie seien konservativ, taugt also nicht viel. Ich sehe darin eigentlich einen vernünftigen Normalfall.

Im Übrigen halte ich es nicht für wichtig, ob man progressiv oder konservativ ist. Wichtig erscheint mir, dass man handelt. Und das ist es, was Missionen tun. Verkünder sogenannter progressiver politischer Ideen habe ich noch nie in den Urwäldern Südamerikas, in den Savannen Afrikas oder auf den einsamen Atollen Ozeaniens bei der Arbeit angetroffen. Sie kommen eigentlich nur schriftlich vor, in entsprechenden Presseorganen und ihren Verlautbarungen gegen die Missionen oder auch einmal in meinem Universitätsseminar; und auch da nur dann, wenn es um Südamerika geht. Missionare dagegen treffe ich dort, auch unter den schwierigsten Lebensbedingungen, solidarisch mit den Menschen, für die sie sich verantwortlich fühlen.

Missionen sind Wegbereiter der Ausbeutung: Ölgesellschaften und Holzfirmen folgen ihnen auf dem Fuß

Auch ein Mythos, bei dem ich mich frage, wie er sich erhalten kann. Es gibt eine ganze Reihe von ernst zu nehmenden Untersuchungen, die ihn mühelos widerlegen.

Es ist merkwürdig. Viele Missionare und kirchliche Mitarbeiter sind heutzutage Dozenten, Berater, Bibelübersetzer, europäische Partner einheimischer Organisationen und Interessensgruppen. Die öffentliche Meinung aber zeichnet immer noch ein Bild zumindest des Missionars, das den Eindruck erweckt, als ob nur er die Greuel europäischer Eroberer und deren Kolonialismus zu verantworten habe, einen Kolonialismus, dem die Missionen den Weg in fremde Welten erst freigemacht hätten, um sich anschließend bereitwillig den kolonialen Unterdrückern als Handlanger für ihre politisch-militärisch-wirtschaftlichen Ziele zur Verfügung zu stellen. Kaum jemand nimmt zur Kenntnis, dass Missionare nur in seltenen Fällen die ersten waren, die bei den Ureinwohnern neu entdeckter Gebiete auftauchten, sondern ganz anders orientierte Fremde mit ganz anderen Wirkungen und Hinterlassenschaften.

Als die Neuendettelsauer Missionare Johann Georg Reuther und Carl Strehlow Ende des 19. Jahrhunderts in das Gebiet der australischen Aranda kamen, fanden sie eine ganze Reihe von europäischen Viehfarmen vor, deren Existenz von erheblicher Wirkung auf die Kultur der Ethnie gewesen war. Die sogenannten Ausbeuter waren also längst da, als die Missionare kamen. Entgegen verbreiteter Ansicht waren auch auf den Inseln der Südsee die Missionare keineswegs die ersten Weißen, sondern Walfänger und Sandelholzhändler, deren übles Treiben dazu führte, dass die Insulaner immer mehr nach Missionaren auf ihren Inseln verlangten, weil sich herumsprach, dass sie dann vor den Übergriffen der Schiffsbesatzungen sicherer waren. Missionare stellten sich nämlich gegen ihre verbrecherischen Landsleute und machten deren Machenschaften in ihren Heimatländern bekannt. Erst dadurch konnten sie durch die Justiz verfolgt werden. Dokumentiert hat es Reiner Jaspers in seinem Buch „Die missionarische Erschließung Ozeaniens“, Münster 1972.

Missionen versuchen, glückliche Menschen völlig unbegründet zu beeinflussen, anders zu werden

Ein letzter, aber sehr verbreiteter und populärer Mythos, einer, der wohl besonders wenig der Wirklichkeit entspricht. Wo Menschen leben, gibt es nie ungetrübtes Glück. Überall ist das Leben mit Unannehmlichkeiten, Leid und Not gemischt. Das vermeintliche Glück, in dem die Menschen in fremden Welten angeblich leben, lässt sich auf sehr subtile Art und Weise entlarven. Es hat seine Spuren nämlich überall in den Sprachen der betreffenden ethnischen Gruppen hinterlassen. Man kann es mit den Methoden der Ethnologie und der allgemeinen Sprachwissenschaft sicher nachweisen. Ich selbst habe eine Zeitlang die Sprache der Insulaner von Chuuk in der Südsee daraufhin untersucht und Interessantes dabei festgestellt. In der Chuuksprache gibt es etwa 600 Wörter für seelische Erlebnisse bzw. Empfindungen. Von diesen dienen 30 Prozent dem Ausdruck von Freude, Hoffnung, Befriedigung usw., 60 Prozent dagegen drücken Gefühle der Angst, Trauer, des Zorns und des Unbefriedigtseins aus! (Der Rest drückt Vorgänge aus, die Europäer eher mit dem Intellekt in Verbindung bringen.) Das heißt, dass diese Menschen, von denen bei uns gängige Meinung ist, sie lebten in paradiesischem Glück, in Wirklichkeit doppelt so viele Wörter zum Ausdruck von Unglück haben als zum Ausdruck von Glück. Daraus lässt sich ablesen, dass diese Menschen ein Bedürfnis empfinden, sich über die unangenehmen Seiten des Lebens doppelt so deutlich und differenziert auszudrücken als über die angenehmen. Das ist wahrlich kein Hinweis auf paradiesische Glückszustände, in denen die Missionen angeblich als Unruhestifter wirken!

Zieht man Bilanz in Bezug auf das, was die behandelten Mythen über Mission an Wahrheit enthalten, so stellt man fest, dass sie sich von Mythen im eigentlichen Sinne kaum unterscheiden. Sie alle enthalten höchstens einige Körnchen Wahrheit. Die meisten verzeichnen die Wirklichkeit in grober Weise oder behaupten das Gegenteil von dem, was ist.

Wenn Missionen und ihre Tätigkeit beurteilt und die Veränderungen, die sie bewirkten, heute rückblickend bewertet werden, kommt man anscheinend besonders leicht zu einer Fehlbeurteilung. Die Öffentlichkeit neigt offenbar dazu, sie als Veränderungen eines Idealzustandes zu sehen, in dem sich die betreffenden Kulturen ursprünglich befunden haben sollen. Diese Ansicht lässt den Eindruck entstehen, hier sei nicht nur verändert, sondern zerstört worden und dies sogar überwiegend oder ausschließlich. So einfach aber ist die Sache keineswegs. Zwar wurde den Menschen fremder Kulturen durch die fremden Missionare manches genommen. Gleichzeitig wurde ihnen aber auch vieles gegeben. Das erfährt man eindrucksvoll durch die Betroffenen selbst. Nirgendwo auf der Welt bin ich Menschen begegnet, die durch die Arbeit der Missionen Christen geworden waren, die auch nur das geringste Interesse daran geäußert hätten, in den vorherigen Zustand zurückkehren zu wollen.

Vielleicht zum Schluss noch ein Rat an diejenigen, die in Diskussionen über solche Mythen Rede und Antwort stehen müssen: Man kann schnell in Argumentationsschwierigkeiten geraten, weil man sich nicht im Klaren darüber ist, dass zwar der Mythos in einen griffigen Satz gefasst und in Sekunden ausgesprochen werden kann, die Gegenrede aber ohne eine gewisse Ausführlichkeit nicht auskommt. Daher lasse ich mich niemals darauf ein, das Thema in fünf Minuten abhandeln zu wollen.

Wenn man sich aber darauf einlassen kann, weil man genügend Raum zur Verfügung hat, um ausführlich zu werden, dann muss man gut vorbereitet sein und seine Gedanken konsequent vortragen können. Argumente findet man nicht nur in meinen obigen Ausführungen, sondern auch in den beiden Büchern, die ich schon genannt habe. Wer sehr gezielt ethnologisch argumentieren will, findet Anregungen auch in einem Buch von mir selbst.


Für die Printausgabe des „Salzkorn“ haben wir mit Genehmigung des Autors diesen Text gekürzt, hier lesen Sie das Original, das 1999 für die Zeitschrift „Mission weltweit“ verfasst wurde.

Eine gesprochene Version des Artikels findet sich hier

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