Präsent
Himmelfahrt Jesu – eben noch waren seine Jünger heilfroh, ihren Herrn wiederzuhaben. Ostern war noch völlig unbegreiflich, die Freude aber riesengroß. Und nun: Jesus verabschiedet sich. Das löst bei den Jüngern Zukunftsangst aus: Was wird aus … was wird aus deiner noch so kleinen Jüngerschar, aus deiner Kirche? Sie fragen sorgenvoll und unsicher: Herr, wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für Israel? Was wird aus deinem Auftrag?
Was wird aus deiner Verheißung: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen (Mk 1,15)? Jesus antwortet: Es gebührt euch nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater in seiner Macht bestimmt hat; aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde (Apg 1,6-8).
Keine Erklärung der Zukunft. Nicht einmal eine Aussicht darauf, wie alles werden wird. Keine Garantien und kein Sorgen-Wegwischen. Keinen einzigen Trost hat Jesus für sie. Und keine Handlungsanweisung, nicht einmal einen Auftrag. Nur eine Zusage: Ihr werdet meine Zeugen sein. Vom irdischen Jesus bleibt seinen orientierungslosen Jüngerinnen und Jüngern für den Moment nur eine völlig erstaunliche Zusage.
Zuspruch, nicht Anspruch
Ein doppeltes „ihr werdet“ prägt diesen Moment. Zum einen: Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen. Das ist der Auftakt. Kein Marschbefehl. Kein strategischer Plan. Kein Motivationskick. Nur eines: Ihr werdet beschenkt! Gottes Geist werdet ihr empfangen. Ihr müsst euch nicht danach ausstrecken, euch nicht fromm mühen – ihr werdet ihn einfach empfangen. Vertraut darauf. Lasst euch beschenken mit diesem anhaltenden Immanuel: Gott mit uns! Aus seinem Geist wir dann euer Zeuge-Sein leben.
Zweimal „ihr werdet“ – ihr werdet empfangen – ihr werdet sein. Das ist die Quelle. Kein kerniger Imperativ, sondern eine doppelte Zusage. Nicht: „Ihr sollt meine Zeugen sein.“ Ebenso wenig wie früher „ihr sollt Salz der Erde und Licht der Welt sein“. Damals wie heute: „ihr seid bzw. werdet sein“. Zuspruch, nicht Anspruch. Und damit auch: Im Vordergrund steht nicht euer Tun, sondern euer Sein. Es ist der Zuspruch, der uns einlädt, in der Kraft des geschenkten Heiligen Geistes, das Wirken Jesu – des im Himmel zur Rechten Gottes sitzenden und doch in seinem Geist gegenwärtigen Christus – zu erleben und an ihm teil zu haben. Aber was macht das Sein eines Zeugen aus?
Jünger und Zeugen
Jesus kennzeichnet seine Nachfolger im Wesentlichen mit zwei Worten: Jünger und Zeugen. Der Jünger – mathetes – ist der Schüler. In seiner Nähe sollte er lernen – der Einzelne, die Zwölf und die Zweiundsiebzig und alle Frauen und Männer, die sich ihm anschlossen. Wozu? Nicht um selbst ein Meister zu werden, sondern um ein Zeuge – martys – zu sein. Ja, Jesu Leute sind nicht die Manager des Reiches Gottes. Sie sind auch nicht zum Entertainer oder gar zur Propagandaeinheit der frohen Botschaft berufen. Und auch nicht zu rein karitativen oder sozialen Seelen dieser Welt. All das braucht es auch, aber die Mitte ihrer Berufung lautet: Zeuge sein. Also solche, die selbst etwas gehört und gesehen haben. Solche, die nicht vom Hörensagen leben, sondern aus eigener Erfahrung für etwas oder jemanden einstehen können. Solche, die dabei keine eigene Agenda verfolgen, sondern allein die Agenda ihres Herrn bezeugen. Das war das Ziel der Jüngerschaft – der Lebensschule Jesu. Und das ist bis heute auch die Berufung unserer OJC-Gemeinschaft: Lebensschule für wirksames Christsein. „Schafft und schult“, so beginnt unsere unveräußerliche Grundberufung seit 1968. Ladet Jünger zu euch ein und beruft und schult sie zu Zeugen. Steht ihnen bei, damit sie zu wirksamen Nachfolgern Christi reifen können.
Botschafter der Versöhnung
„Die christliche Kirche, wie die Apostelgeschichte sie schildert, ist eine Missionskirche.“1 Mission ist in unserer Zeit ein etwas diskreditierter Begriff. Nicht wenige unserer Zeitgenossen verbinden ihn mit mehr oder weniger aggressivem Überstülpen einer eigenen Weltsicht. Oder mit dem Übertragen einer christlichen Kultur in nichtchristliche Lebenslagen. Und klar – das alles gab es. Aber das alles ist eben auch nicht Mission, wie Jesus sie sich gedacht hat. Im Alten Testament findet sich im Hebräischen der Begriff schalach – ausstrecken, schicken. Es meint die Beauftragung eines Boten, der gesandt wird. Daran knüpft Jesus an: seine Leute sind seine Boten. Im griechischen Neuen Testament findet sich das Wort apostello – senden, schicken. Die Apostel waren eben nicht die Kirchenoberhäupter, die alles bestimmten. Sie waren ganz primär Jesu Gesandte. Beide Worte finden sich im kirchenlateinischen missio. Daraus wurde dann die Volks- und Heidenmission2. Das Wesentliche dieser Sendung war und ist das, was Paulus in 2 Kor 5,20 formuliert: So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Wir spüren an allen Ecken und Enden, dass Versöhnung ein zentrales Thema auch unserer Zeit ist. Schon 1968 hielt Horst-Klaus Hofmann in dem Berufungswort der OJC fest: „Spaltung in Familien, Gruppen und Nationen, Ausbeutung von Gefühlen, Konflikten und Gütern. Hunger – Hass – und Hoffnungslosigkeit.“ Seitdem ist uns eine „helfende Antwort“ aufgetragen. Unser Leben soll dem entsprechen: „Konstruktive Realitäten lassen aufhorchen.“ Zeugen sind Botschafter Christi der Versöhnung. Wir Christen wissen, dass diese mit der Versöhnung zwischen Schöpfer und Geschöpf beginnt. Und dann weitergeht in der Versöhnung mit uns selbst und unseren Mitmenschen. Jesus spricht uns zu: Ihr seid meine Zeugen – ihr seid meine Botschafter der Versöhnung, die Taktgeber eines neuen Miteinander.
Doch wie tun wir das?
Kirche ist nicht berufen, Mission zu tun. Kirche ist berufen, Mission zu sein. D. h. Mission ist nicht ein Teil des kirchlichen Lebensvollzuges – im Gegenteil: Kirche ist Teil der göttlichen Mission. Der Sendung Jesu zu uns Menschen. Um uns Menschen für Zeit und Ewigkeit heimzuholen zu Gott. Seine Leute sind eingeladen, Teil zu werden an der „missio Dei“ – an Gottes Sehnsucht nach uns Menschen – an Gottes heilsamem Handeln in dieser Welt. Und genau von diesem seinem Handeln handelt Mission. Nicht von unserem, von Gottes Handeln! Wir sind die Zeugen dieses Handelns. Wir müssen niemanden über-zeugen, aber wir sind gefordert allen zu be-zeugen, wie sehr Gott diese Welt liebt und versöhnen möchte. Zu diesem „Sein des Be-zeugens“ sind wir alle eingeladen. Jeder an seinem Platz, jede mit ihren Gaben, alle auf ihre Weise.
Dieses Sein umfasst unser ganzes Leben. Wir nennen es darum „Lebensstilmission“. Zeugnis geben mit Wort und Tat, im Reden und Schweigen, im Handeln und Ruhen. Unser Tun wird durch unser Sein sichtbar, nicht umgekehrt. Nicht mein Dienst definiert mein Sein, sondern mein Sein definiert meinen Dienst. Das Augenmerk liegt auch bei Jesus immer wieder genau darauf: Seht, ich habe euch Macht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skorpione, und Macht über alle Gewalt des Feindes; und nichts wird euch schaden. Doch darüber freut euch nicht, dass euch die Geister untertan sind. Freut euch aber, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind (Lk 10,19f). Unser Herr will immer wieder mit uns ins Gespräch kommen. Nicht so sehr über unser Tun, sondern vor allem über unser Sein. Weil ER uns etwas zu sagen hat, Lebensentscheidendes zu sagen hat. Darum will er auch immer wieder zuerst mit uns ins Gespräch kommen, dann erst auch, wo es ihm gefällt, durch uns.
So werden wir Zeugen der Präsenz Gottes in dieser Welt. Denn Mission meint, die Präsenz und Relevanz Gottes in dieser Welt durch unser Leben aufleuchten zu lassen. Wir Christen sind die Repräsentanz Gottes in dieser Welt. „Kirche ist keine institutionell fassbare Selbstverständlichkeit, die sich in einem routinierten Programm erschöpft; sondern Kirche ist eine Erfahrung der Gegenwart Gottes, der Menschen sammelt und vereint, der eine Welt ohne Grenzen, eine Zivilisation der Geschwisterlichkeit und der Liebe möglich macht.“3 Genau darum geht es: dass Menschen den allmächtigen und barmherzigen Gott erfahren können. Vor einigen Jahren traf ich einen Freund. Er ist Priester der röm.-kath. Kirche. Ich traf ihn an in seiner Soutane. So hatte ich ihn noch nie gesehen und fragte ihn, warum er diese denn trage. Er antwortete mir: „In unserem Dorf verschwinden die Hinweiszeichen auf Gott immer mehr. Da wurde mir klar: ich muss nun dieser Hinweis sein.“ Das ist es doch: Menschen mit unserem ganzen schlichten Sein die Präsenz Gottes vor Augen führen.
Denn wir Christen sind nicht die Insolvenzverwalter einer untergehenden Geschichte – wir sind die Hüter eines unveräußerlichen Schatzes! Des Schatzes der heilsamen Menschenfreundlichkeit Gottes in dieser Welt. Wir leben als Appetitanreger Gottes hier und jetzt. In Tat und Wort – mit unserem ganzen Sein. Dazu hat Christus uns berufen. Bis zu seiner Wiederkunft ist das uns aufgetragen. In der Gewissheit, dass es nicht auf unsere großen Taten und unsere immensen Anstrengungen ankommt, sondern dass Christus durch uns in dieser Welt sein kann. Und in der Gewissheit des „Wohin wir jetzt gehn, dahin kommt nun auch der Herr.“ Schlicht und einfach durch unsere Gegenwart. Weil der auferstandene Christus in seinem Heiligen Geist in uns lebt. Dietrich Bonhoeffer hat die Frage umgetrieben: „Hat die Kirche noch ein Wort?“ Ich antworte: Wir Christen könnten sein lebendiges Wort sein. Oder, um es mit Paulus zu sagen, ein Brief Christi in dieser Welt. Darum dieser Zuspruch: „Ihr seid meine Zeugen!“ Ihr seid Gottes Präsenz in dieser Welt!
Ernst Haenchen: Die Apostelgeschichte; Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neuen Testament (Meyer); Göttingen 1956; S. 112 ↑
siehe Albert Sleumer: Kirchenlateinisches Wörterbuch; Limburg 1926; S. 524 ↑
Christian Hennecke: Kirche, die über den Jordan geht, Expeditionen ins Land der Verheißung; Münster 2011; S. 28 ↑