Hüben oder drüben?

Meine Zugänge zur Mission

Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. So geht nun hin und macht zu Jüngern alle Völker, und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie alles halten, was ich euch befohlen habe. (Mt 28, 18-20, Schlachter)

Mission ist ein Thema, das mich mein ganzes Leben lang begleitet. Als Kind war ich fasziniert von den Berichten der Missionare und später selbst einige Jahre als Missionarin in Asien tätig. Als wir in der Redaktion beschlossen, ein Heft über Mission zu machen, habe ich mich gerne bereit erklärt, das Thema vorzubereiten.
Eigentlich dachte ich, das sei ganz einfach, denn was unter Mission zu verstehen ist, ist doch jedem Christen klar. Aber das ist nicht so. Die Antwort auf die Frage, was die Mission der Kirche ist, ist nicht so eindeutig und war in der Geschichte der Kirche Gegenstand vieler theologischer Auseinandersetzungen.

Auftrag und Sendung

Den Begriff Mission findet man nicht in der Bibel. Er bedeutet so viel wie Sendung mit einem Auftrag.
Gott sendet seine Jünger, darüber besteht Einigkeit, weniger aber über den Inhalt dieses Auftrags. Gehören sozialethische Dienste und die Verkündigung des Evangeliums gemeinsam und gleichwertig zum Missionsauftrag? Für manche ist das nicht der Fall, für sie steht die Verkündigung des Evangeliums an erster Stelle: „Gott rettet Sünder. Wovor rettet er sie? Vor der gerechten und verdienten Strafe. Das ist die Essenz und steht im Fokus unseres Dienstes. Was darüber hinaus im Zusammenhang mit Evangelium genannt und getan wird, ist […] Peripherie, aber nicht der Kern.“1 Jüngermachen besteht also darin, Bekehrte zu lehren, wie auch sie die frohe Botschaft weitersagen und selbst den Missionsauftrag weiterführen können.
Für andere ist eben diese Peripherie der Kern des Auftrags. Für sie steht soziales Engagement an erster Stelle. Ein Jünger nimmt sein Kreuz auf sich, indem er seine Privilegien aufgibt und dorthin geht, wo er den Menschen dienen kann. Ziel ist es, die Welt von den Rändern her zu verändern.2
Viele Christen halten sowohl die Verkündigung wie den Dienst am Nächsten für wichtig. Vor allem seit dem Lausanner Kongress für Weltevangelisation 1974, auf dem südamerikanische Leiter wie René Padilla forderten, die Kirche müsse auch ihre soziale Verantwortung wahrnehmen, wird das soziale Engagement wieder als Teil des Missionsauftrags anerkannt. Nach wie vor gibt es aber die Befürchtung, dass man sich zu sehr auf die Verbesserung dieser Welt konzentriert und die Notwendigkeit von Buße und Umkehr vernachlässigt. Andere erheben den Vorwurf, sich zu sehr auf das Himmelreich zu konzentrieren.

Athen und Jerusalem

Wieso sind wir uns gerade in dem Auftrag, den Jesus uns als seinen Jüngern gab, nicht einig?
Wir sind in der Auslegung der Bibel von verschiedenen Denkrichtungen beeinflusst und lesen die Bibel durch eine weltanschauliche Brille. Im Rückblick ist mir selbst bewusst geworden, wie mein eigener Glaube eine Zeit lang bestimmt war von einer Sicht, in der das Leben im Hier und Jetzt nicht so wichtig war. Man ging in die Mission, um den Menschen zum ewigen Leben zu verhelfen und damit vielleicht sogar die Wiederkunft Jesu zu beschleunigen.
Der Anfang meiner Missionarskarriere fiel in eine Zeit, in der man darauf bedacht war, das sogenannte 10/40-Fenster (das Gebiet zwischen dem 10. und 40. nördlichen Breitengrad) mit dem Evangelium zu erreichen. Viele Christen glaubten, wenn das Evangelium den letzten Winkel der Erde erreicht hätte, würde das Ende kommen, wie es in Mt 24,14 geschrieben steht. Wichtig war es daher, Menschen zur Bekehrung zu führen, damit sie bereit seien für die kommende Welt. In den Kreisen, in denen ich mich damals bewegte, war es verpönt, sich in weltliche Dinge einzumischen. Also versuchte auch ich, mich der Evangelisation zu widmen, obwohl mir die diakonische und sozialethische Arbeit näher lag. Doch mit der Zeit begann ich mich zu fragen: Fordert Jesus uns nicht auch dazu auf, unserem Nächsten zu dienen und uns für Gerechtigkeit einzusetzen? Und steht nicht schon in der Schöpfungsgeschichte, dass wir uns um Gottes Schöpfung kümmern sollen?
Auf der Suche nach dem, was unseren Auftrag und unser Leben als Christen ausmacht, habe ich mich dann entschieden, der Frage nachzugehen, die schon Tertullian gestellt hat: „Was hat Athen mit Jerusalem zu tun?“ Dabei wurde mir das Hören auf unsere älteren Geschwister, die Juden, immer wichtiger. Für sie hatte der Glaube immer etwas mit dem Hier und Jetzt zu tun. Deshalb geht es bei vielen Geboten nicht um das richtige Glaubensbekenntnis, sondern um das Leben selbst, um den Umgang mit der Schöpfung und mit dem Nächsten. Den Propheten ging es weniger um versäumte Regeln im Gottesdienst, als um Ungerechtigkeit. Bis heute ist Religion für das Judentum „nicht ein Gefühl für etwas, das da ist, sondern eine Antwort an Ihn, der eine bestimmte Lebensweise von uns fordert. Von ihrem Ursprung her ist Religion die Gewissheit, dass das ganze Leben die Interessensphäre sowohl des Menschen als auch Gottes ist.“3 Sich für Gerechtigkeit und sozial-ethische Dienste einzusetzen, ist also keineswegs eine Aufgabe an der Peripherie, sondern es entspricht dem, was Jesus meinte, als er sagte: Wer meine Gebote hat und sie hält, ist es, der mich liebt (Joh 14,21). Im zweiten Teil der Bergpredigt sagt Jesus selber, dass er nicht gekommen ist, das Gesetz aufzulösen, und fährt dann fort mit seiner Auslegung.

Kreuz und Bund

Wem das nach zu viel Werkgerechtigkeit klingt und meint, im neuen Bund seien die Werke unwichtig, hat auch Recht. Auch im alten Bund gilt, dass Werke den Menschen nicht gerecht machen können. Dies erkennt der Mensch, der „geistlich arm“ ist, und der daher von Jesus seliggepriesen wird, denn „in den rabbinischen Schriften und in den Qumranschriften sind ‚geistlich Arme‘ Menschen, die demütig auf den Tag des Herrn warten und ständig auf das Kommen des Messias harren.“4 Es sind Menschen, die wissen, dass sie vor Gott nicht bestehen können, die selig sind, weil sie um ihre Schuld wissen, sich zu Gott bekehren und von ihm Barmherzigkeit erfahren.
Seine Barmherzigkeit erweist Jesus uns nicht nur dadurch, dass er für unsere Sünden gestorben ist, sondern auch, indem er uns immer wieder offenbart, wie ein Leben nach dem Willen des Vaters aussehen soll. Nicht, weil er gute Werke fordert, sondern weil er am Wohl des Menschen interessiert ist. Das Kreuz bleibt die Mitte. Es gibt ein Leben vor und nach der Bekehrung, und weil Jesus selbst weiß, dass wir immer wieder an unseren Nächsten schuldig werden und unsere erste Liebe vergessen, ist es das Kreuz, an dem der Bund mit ihm immer wieder erneuert werden kann.
Zum Missionsauftrag gehören also zwei Seiten: Menschen das Evangelium zu verkünden, und zwar aus allen Schichten der Gesellschaft. Und sie zu lehren, wie sie ihr Leben in der Nachfolge Jesu gestalten sollen. Das kann je nach Berufung sehr unterschiedlich sein. Manche wohnen unter den Armen und dienen ihnen, andere arbeiten in der Politik oder in der Wirtschaft und suchen so der Stadt Bestes. Durch die Erfüllung des Missionsauftrags, so zeigt die Geschichte, haben sich Gesellschaften zum Wohle ihrer Bürger verändert. Aber die völlige Erneuerung wird erst bei Jesu Wiederkunft geschehen.
Eines ist mir beim Nachdenken über das Thema wichtig geworden: Selig sind die geistlich Armen. „Um dem Messias nachzufolgen muss unser Geist arm sein. Das ist der Anfang unserer Jüngerschaft. Wenn wir geistlich reich sind, denken wir, wir müssen nichts mehr lernen.“5 So lasst uns voneinander lernen und nicht gegeneinander streiten, gemeinsam versuchen, die Frage nach unserem Auftrag zu beantworten, auch in dem Wissen, dass unsere Erkenntnis Stückwerk ist (1 Kor 13,12). Und dann lasst uns einander ermutigen, den Platz einzunehmen, den Jesus für den einen und den anderen in der Erfüllung des Missionsauftrages vorgesehen hat.


  1. Felix Aeschlimann: Mission zwischen Wortverkündigung und Tatbeweis, in SEA Fokus 2021, Schweizerische Evangelische Allianz, S. 10 

  2. Siehe Converting Discipleship: Dissidence and Metanoia, Study paper produced by the Working Group on Transforming Discipleship, https://www.oikoumene.org/resources/documents/study-paper-converting-discipleship-dissidence-and-metanoia, Nov. 2020 

  3. Abraham J. Heschel: Gott sucht den Menschen: Eine Philosophie des Judentums. Neukirchener Verlag 1992 

  4. Anatoli Uschomirski: Die Bergpredigt aus jüdischer Sicht: Was Juden und Christen gemeinsam von Jesus lernen können, SCM Hänssler Verlag, 2021, S. 23 

  5. Ebd. S. 25 

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