Christen sind keine Stachelschweine
Wir verwechseln Religion und Moral. Das ist so in Volkskirchen der Aufklärung, in denen man sich im Anschluss an Kants Kritik der praktischen Vernunft ein Bild gemacht hat, in dem nur noch gelten darf, was vernünftigem moralischen Handeln und dem daraus resultierenden gesellschaftlichen Minimalkonsens entspricht. Da wird alles und jedes nur noch moralisch verstanden. Und auch das Christentum wird über diesen Leisten gebügelt, wird auf Vernunft und Moral verkürzt.
Aus den Bildern des Neuen Testaments jedoch spricht zum allerwenigsten Vernunft und Moral, sondern eben der lebendige, nicht einmal moralisch vereinnahmbare Gott. Wir halten etwas nur für erbaulich und religiös, wenn es moralisch nachzuahmen ist. Und wenn nicht, dann entrüsten wir uns. Unsere Verkürzung der Religion auf Moral erlaubt es uns, als die dazustehen, die Steine werfen und ansonsten rundherum in Ordnung sind. Doch unsere Moral bringt es nicht weiter als bis zu einem ärmlichen Mäntelchen aus correctness.
Lassen wir die Finger davon, alle Bilder von Gott bloß moralisch zu verstehen. Wir möchten Gott gerne moralisch domestizieren und ihm vorschreiben, was er zu tun hat und was er nicht tun darf. Er darf nur der liebe Gott sein und nicht etwa auch der Abgründige. Er darf immer nur das Gute tun und nicht auf dem Weg über radikale Liebe, radikale Raffinesse, ja vielleicht auch radikale Verzweiflung zum Ziel kommen. Er muss immer nur wohlanständiges Vorbild sein.
Das ist auch nicht falsch, aber es entspricht nicht dem jeweils und immer auch ganz anderen Gott, von dem jede Rede analog bleiben muss, will man sich nicht der Gefahr aussetzen, ein menschliches Bild an die Stelle des Geheimnisses zu setzen. Es gibt eine Stunde, von Gott als Vorbild zu reden. Und es gibt eine Stunde, in der er vor allem auch der Große, Unfassbare, der Heilige und Eigenwillige ist, von uns nicht zu richten und keinem Urteil zu unterstellen.
Wir verstehen die schrägen Bilder des Neuen Testaments nicht mehr. Deshalb gibt es auch den Konflikt zwischen der Religion, die auf Menschenrechte verkürzt ist, und der Bibel. Wir schätzen Autonomie und Freiheit – der Gott der Bibel ist aber selbst und allein souverän, und er erwählt, wen er will, und er verstockt, wen er will. Wir haben eine Ahnung davon, dass es Gottes Ziel ist, sich aller zu erbarmen. Aber das ist doch keine Sache des Anstands und der Moral, sondern da spricht Gottes Herz, seine unfassbare Liebe.
Was ist der Unterschied von Religion und Moral?
In der Moral geht es um das Maß, den Minimalkonsens vernünftigen Zusammenlebens für alle. Arthur Schopenhauer bringt dies ins Bild von den Stachelschweinen, die gerade so nahe beieinander sind, dass sie sich in der Herde noch wärmen, aber weit genug voneinander Abstand halten, dass sie sich nicht verletzen.
Nichts ist über das Maß hinaus zu tun; niemand ist zum Äußersten verpflichtet. Niemand ist verpflichtet, aus Bananenkisten zu leben und den Rest den Armen zu geben. Und doch: wenn es einer tut, beispielsweise aus „religiösen Gründen“, ist es ein Zeichen für Gott – erst dann. In der Moral gilt der kategorische Imperativ: Handle so, dass der Grundsatz deines Handelns jederzeit für alle gelten könnte. Aber in der Religion ist Kant am Ende.
Das muss man dreimal sagen in einem Land, in dem evangelische Christen seit 200 Jahren, aber neuerdings auch viele Katholiken ihr Weltbild eher auf Kant als auf Jesus bauen. Gott hat sich nicht geschont, er hat auch Jesus nicht geschont. Und was Menschen, die lieben, oft vermögen, dazu kann sie niemand (und schon gar keine Moral) verpflichten, oft ist es schier übermenschlich. Moralisch gesehen müsste man immer wieder sagen: Denk auch mal an dich dabei, überfordere dich nicht! Unsere Moral geht davon aus, dass niemand über seine Kräfte hinaus in Anspruch genommen wird. Und das hat einen guten Sinn. Niemand ist zu überfordern, niemand muss mehr geben, als er kann.
Wenn ich im Folgenden Moral sage, meine ich nicht christliche Moraltheologie, sondern aufklärerische Vulgärmoral. Moralisch ist, wenn jeder zu seinem Recht kommt. Christlich ist, wenn einer auch auf sein Recht verzichten kann. Moralisch ist, dass jeder unveräußerliche Rechte hat. Christlich ist, dass man mutig auch Unangenehmes fordert. Moralisch sind angemessene Bezahlung, Urlaub, Freizeit und Eigenheim. Christlich ist, ohne alles das auszukommen, wenn es denn nötig sein sollte. Moralisch sind Menschenrechte und freie Gewissensentscheidung. Christlich ist ein Gott, der ruft und überfällt, der verstockt und Menschen als seine Instrumente einfordert und gebraucht. Moralisch ist Toleranz. Christlich ist werbende, erfindungsreiche Liebe.
Was die Liebe tut
Moralisch ist: Mein Bauch gehört mir. Christlich ist: Ich gehöre Gott, inklusive meines Bauches. Auch ein behindertes Kind tragen wir Eltern gemeinsam. Moralisch ist: Bloß keine Opfer! Christlich ist: Durch Leiden wurde die Welt erlöst. Der gesamte Versuch, das Evangelium der Bergpredigt in Ethik umzuformen, ist das im Grunde atheistische Bemühen gewesen, die Überforderung abzustellen. Aber was dabei herauskommt, ist dann eben etwas anderes als das, was Jesus wollte. Und das wollte Jesus: Nicht auf sich selbst sehen, radikal von sich absehen, nicht auf das Maß achten, sich auf den maßlosen, übermoralischen Gott einlassen.
Eine ehelos lebende Ordensfrau von den „Barmherzigen Schwestern“ verzichtet auf Ehe und Familie, auf Kinder und auch sonst fast alles, worauf Menschen ein gutes Recht haben. Niemand ist gezwungen, „Barmherzige Schwester“ zu sein. Aber eine Kirche, in der Schwestern aussterben, in der Pfarrer Prozesse gegen die Kirchenleitung führen, weil das Weihnachtsgeld halbiert wird, da herrscht zwar Moral, aber eben nicht mehr Religion. Eine von der Radikalität Gottes purgierte Kirche macht sich zum Abklatsch einer humanen Allerweltsmoral und eliminiert ihr Herzstück, den lebendig anwesenden, immer wieder auch maßlos einfordernden Gott.
Ehelosigkeit um des Evangeliums willen, Martyrium, aufopfernde, selbstlose Liebe über das Maß hinaus – das alles sind Markenzeichen des Christlichen. Es kommt dort abhanden, wo die allgemeine Moral vor die Religion gestellt wird, sodass die Religion völlig verdeckt wird. Ein bloß moralisches Christentum muss immerfort andere Menschen im Sinn kleinbürgerlicher Anstandsregeln verurteilen. Sind wir zu Richtern über Rocklängen und Loveparades bestellt? Nein, sondern dazu, unser Herz zu öffnen und zu staunen über Gottes Wege.
Aber es ist gut, dass es beides gibt, begrenzende Moral und Gottes Grenzenlosigkeit. Dass es Moral gibt, ist besonders nützlich für Leute, denen man sagen muss: Denk auch mal an dich. Denn es heißt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Wie dich selbst – du darfst also auch dich selbst lieben, musst es sogar. Moral schützt uns auch, schützt die Opfer, schützt sogar die Täter.
Allerdings haben wir mittlerweile genug an solchen Schutzmaßnahmen ergriffen. Vielleicht denken wir einmal wieder an das andere, dass es auch Gottes Grenzenlosigkeit gibt. Wie peinlich, wenn ein junger Geistlicher sagt: Ich muss jeden Tag etwas Gutes für mich tun. – Ich bin Theologe geworden, weil ich das gerade nicht wollte. Ich wäre nie Theologe geworden, hätte es nicht einen Pfarrer gegeben, der Tag und Nacht Sprechstunde hatte und nicht bloß dienstags um drei.
Der Gekreuzigte neigt sich vom Kreuz herab und schlingt die Arme um uns Menschenkinder, um jeden einzelnen. Ein Liebender schont sich nicht. Gott gebe uns, dass wir die Stunde erkennen, je nachdem, ob wir zum Maß oder zur Maßlosigkeit gerufen sind.
Aus: Berger, Klaus: Jesus. München 2004. S. 350-354