Krummes Holz
Ein Cartoon von Ralph Ruthe: Quasimodo, der Glöckner von Notre-Dame, herrscht seinen Sohn am Mittagstisch an: „Sitz gerade!“ Dabei hat der Sohn genauso einen Buckel wie sein Vater. Böser Witz? Wir leben in einer Zeit der moralischen Hochrüstung, um nicht zu sagen der Hypermoral. Im hohen moralischen Ton wird allerorten Haltung eingefordert. Ob Ibiza-Ausschuss oder Coronakrise: Auch Politik soll Haltung zeigen!
Engagement und Zivilcourage
Nichts gegen Zivilcourage und zivilgesellschaftliches Engagement. Problematisch wird es, wenn sich die Aufforderung zu Haltung und korrekter Gesinnung mit moralischer Selbstgerechtigkeit paart. Während die eigene Haltung über jede Kritik erhaben ist, wird dem Gegenüber, dem Andersdenkenden die richtige Haltung und Moral abgesprochen. Das nennt man Moralismus, der den anderen ein schlechtes Gewissen bereitet und sich selbst als gutes Weltgewissen aufspielt. Wie war das noch mit dem Splitter im Auge des anderen und dem Balken im eigenen…?
Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant schrieb vor 240 Jahren: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Als Protestant kannte er seine Bibel und seinen Luther. Der beschreibt den sündigen Menschen als in sich gekrümmt – lateinisch: homo incurvatus. Um das zu beherzigen, was man moralisch als richtig erkannt hat, reicht nicht allein der gute Wille. Es braucht auch eine innere Haltung und Charakterfestigkeit in se. Der verkrümmte Mensch kann sich nicht von selbst aufrichten und darum keine aufrechte Haltung einnehmen. Moralische Appellitis, die von anderen moralische Untadeligkeit fordert, zu der man selbst nicht fähig ist, gleicht eben dem Glöckner im Cartoon. Er und sein Sohn sind doch aus demselben krummen Holz geschnitzt.
Christliche Theologie und Verkündigung, die ihre Lektion an paulinischer und reformatorischer Rechtfertigungslehre gelernt haben, sollten der Versuchung widerstehen, das Evangelium auf Moral zu reduzieren und die Kirche mit einer Moralagentur zu verwechseln. Gerade das vermeintlich gute Handeln und die hohe moralische Gesinnung kann zu Hochmut und Selbstüberschätzung verleiten. Das ist gemeint, wenn Luther vom in sich gekrümmten Menschen spricht. Kant wusste freilich noch nichts von der Bugholztechnik, die der Tischlermeister Michael Thonet erfunden hat, mittels derer unter Wasserdampf gebogenes Holz vornehmlich zu Stühlen verarbeitet wird. Im übertragenen Sinne besteht die Hoffnung, das Krumme könne geradegebogen werden und doch noch den aufrechten Gang lernen. In diesem Sinne kann der christliche Glaube befreiend und aufrichtend wirken.
Um in dem von Luther gewählten Bild zu bleiben: Der Mensch kann von der Verkrümmung sündiger Selbstbezüglichkeit geheilt werden, jedoch allein durch Gott, der ihn aufrichtet und neu ausrichtet – auf Gott selbst und auf den Mitmenschen. Orientierungspunkt für die Glaubenden ist Christus, der „Mensch für andere“ (Dietrich Bonhoeffer). Die Bugholztechnik kann freilich auch die Schattenseiten einer strengen Erziehung versinnbildlichen, die darauf abzielt, Kinder oder Schüler nach den eigenen Idealen zu formen und ihren Willen zu brechen, womöglich unter Berufung auf Gott und eine von ihm verliehene Autorität. Auch das hat im Christentum eine unselige Tradition.
Tugendethik und das gute Leben
Haltung ist ein anderes Wort für Tugend. Tugendethik hat eine lange Tradition. Verbunden mit der Frage nach dem guten Leben erlebt sie seit einigen Jahrzehnten ein Comeback. Neben den klassischen Kardinaltugenden der Gerechtigkeit und des Gerechtigkeitssinns, des Mutes oder der Tapferkeit, der Klugheit und der Mäßigung, also der Kunst des Maßhaltens, stehen heute „professional attitudes“ hoch im Kurs, zum Beispiel in Medizin und Pflege. Empathie, Achtsamkeit und Respekt sind die neuen Tugenden. In der Bankenkrise 2008 erfreute sich sogar ein vermeintlich angestaubter Begriff wie der des „ehrbaren Kaufmanns“ neuer Wertschätzung.
Auf der Gegenseite steht das Phänomen der „déformation professionelle“, also der berufstypischen Deformation von Charakter und Moral. Und dann gibt es noch diejenigen, die gar kein Rückgrat zeigen, sondern als „situationselastische“ Opportunisten ihr Fähnchen nach dem Wind hängen.
Ob Ethik helfen kann, das krumme Holz zurechtzustutzen oder geradezubiegen, also Menschen dazu zu bringen, eine moralisch erwünschte Haltung einzunehmen, ist strittig. Moral macht uns jedenfalls nicht unbedingt zu besseren Menschen, zumal sie selbst ein ambivalentes Phänomen ist, versteht sich doch das Gute keineswegs von selbst. Außerdem unterliegt Moral dem gesellschaftlichen Wandel.
Was wir moralisch für richtig halten, setzen wir noch lange nicht in die Tat um. Schon in der Bibel steht: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Selbstironisch merkte der Schriftsteller Mark Twain an, sich das Rauchen abzugewöhnen sei ganz leicht. Er habe es schon hundertmal geschafft! Wir alle kennen die Macht der Gewohnheit, an der unsere guten Vorsätze scheitern. Um das zu beherzigen, was man moralisch als richtig erkannt hat, reicht nicht allein der gute Wille. Es braucht auch eine innere Haltung und Charakterfestigkeit.
Rückgrat und Haltung zeigen kann freilich zu Verhärtungen und Starrsinn führen, zu einer déformation morale. Prinzipientreue kann den Blick auf die besondere Situation, ihre ethischen Dilemmata, die menschlichen Nöte und Unzulänglichkeiten verstellen.
Beispielsweise kann Gerechtigkeitssinn in Gerechtigkeitsfanatismus umschlagen. Es gibt auch einen christlichen Rigorismus, dessen Gottesbild die in Christus erschienene Liebe Gottes zu den Menschen verdunkelt und mit einer apokalyptischen Verachtung der Welt einhergeht, die um der Gerechtigkeit Gottes willen zugrunde gehen soll, während es doch in Johannes 3,16 heißt, so sehr habe Gott die Welt geliebt, dass er seinen Sohn gesandt habe.
In solchem Glauben gründet die Grundgesinnung eines Lebens aus Glaube, Liebe und Hoffnung. Haltung ist freilich mehr als innere Einstellung, sie soll auch äußerlich gezeigt werden. Nicht als Demonstration der eigenen Glaubensstärke, Tugendhaftigkeit und moralischen Überlegenheit, sondern aus Nächstenliebe, die von sich selbst absehen kann.
Übernahme von Verantwortung
Eine durch Glaube, Liebe und Hoffnung geprägte Lebensführung orientiert sich am Doppelgebot der Liebe. Die Haltung, die einer solchen Ethik entspricht, ist die der Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, eine Haltung der Verantwortlichkeit und des Verantwortungsbewusstseins. Es geht um Eigenverantwortung, die vom Glauben getragen und vor Gott gelebt wird – immer im Bewusstsein, auf seine Vergebung angewiesen zu bleiben. Sie gewinnt Stärke aus der Erfahrung, auch dann noch gehalten zu werden, wenn die eigene innere Haltung ins Wanken und der Glaube in Zweifel gerät, der sich in der paradoxen Bitte ausspricht: Ich glaube; hilf meinem Unglauben! (Markus 9,24).
Haltung zeigen bedeutet auch, einander wechselseitig zu unterstützen, zu stützen und Halt zu geben. Nächstenliebe üben heißt, gerade denen beizustehen, die jeden Halt im Leben verloren haben. Der Apostel Paulus sagt es so (Galater 6,29): Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
Zuerst erschienen in: Die Furche, Wien, 30. Juli 2020; www.furche.at/religion/moral-und-moralismus-eine-frage-der-haltung-3380819