Mann und Frau schweben im Himmel

Führerschein fürs Erwachsenenleben

Wir schicken die Jugendlichen auf Entdeckungsreise, das Gute, Wahre und Schöne in sich selbst zu erkennen: Sexualpädagogik ohne Moralin.

Interview mit Elisabeth Pesahl

Jugendliche, die auch ohne die Pandemie einen großen Umbruch, die Schwelle zum Erwachsenenwerden, zu bewältigen haben, brauchen Orientierung und Unterstützung. Wie geht das ohne Verbote und Vorschriften?

Sexualität gehört zum Menschsein, und die Frage, ob sie für mich etwas Schönes ist oder aufgrund meiner Lebensgeschichte mit negativen Erfahrungen verbunden, bleibt. Sexualpädagogik hat hier eine wichtige Aufgabe, denn junge Menschen verfügen über bruchstückhaftes Wissen, haben möglicherweise schon verletzende Erfahrungen gemacht und sehnen sich gleichzeitig nach Liebe und einer positiven Sexualität.

In den Pandemiezeiten fühlen sich die Jugendlichen stark ausgebremst. Ihr unbeschwertes Miteinander ist massiv eingegrenzt. Wie geht ihr damit um?

Dass Lockdown und Kontaktbeschränkung oft zu großer Einsamkeit und zu Entwicklungsstörungen bei jungen Menschen führen, wissen wir ja schon. Normalerweise erfahren sie die Entwicklung ihrer sexuellen Identität im Miteinander. Jetzt bleiben sie in ihrer Unsicherheit allein. Das ist eine besondere Herausforderung für Eltern, denn die Kinder kommen so oder so in die Pubertät und mit den körperlichen Veränderungen kommen auch ihre Fragen. Wir und sie müssen als erstes die Jugendlichen verstehen, d. h. uns einen Einblick verschaffen in die umfassenden Integrationsaufgaben, die betreffend Körper, Beziehungen und Identität erfüllt werden müssen. Das wird von den jungen Menschen ja völlig neu erlebt. Sie sehen sich zudem gesellschaftlichen Anforderungen ausgesetzt, die die Sache noch mal komplizierter machen.

TeenSTAR begleitet diesen Prozess durch die Vermittlung von umfangreichem Wissen, das dann zu einem tieferen Verstehen der Sinnzusammenhänge führt. Wir stärken das Positive, wir stärken das Gute, das Schöne und Wahre im Menschen und helfen ihnen, Kompetenzen zu erwerben, sich selbst besser zu verstehen, damit ihre Sexualität bezogen auf ihr ganzes Leben gelingen kann. Es geht nicht nur um die inhaltliche Durchdringung der Themen, sondern gleichermaßen um die Persönlichkeit eines jeden einzelnen Jungen, eines jeden einzelnen Mädchens im Kurs und gleichzeitig um das Miteinander in der Gruppe. Die Kursleiter achten auf die Balance dieser Komponenten und die Jugendlichen erleben die Arbeit an ihren Lebensthemen, die Wertschätzung ihres Soseins und das Aufgehobensein in der Gruppe. Diese Ganzheitlichkeit schafft Selbstbewusstsein und Sicherheit.

Ihr begleitet die Jugendlichen über einen längeren Zeitraum. Welche Veränderung beobachtet ihr durch die Kurse?

In bis zu 20 Treffen denken sie tiefer nach und überlegen, was zu ihnen passt. Sie werden mutiger, selbstbewusster und stehen zu sich selber. Die Jugendlichen erkennen, dass die Schritte, die sie heute tun, Einfluss auf ihre Zukunft haben. Sie nehmen ihre eigenen Gefühle wahr und werden generell sprachfähiger, werden sich ihres eigenen Wertes immer mehr bewusst und sie erkennen, dass es um sie selber geht und damit um etwas Kostbares.

„Kostbar“ ist das Stichwort. TeenSTAR (TS) orientiert sich am jüdisch-christlichen Menschenbild. Damit assoziieren viele: moralisch = Zeigefinger = einengend. Wie gebt ihr Orientierung, ohne zu moralisieren?

Der Mensch ist Person und ihm steht eine absolute Würde zu. Der Wesenskern von TS ist die Wertschätzung der Person. Unsere Kursleiter können sich einfühlen in das, was der Jugendliche gerade braucht, damit er sich mit seinen Nöten und Problemen verstanden fühlt. Wir vermitteln ein umfangreiches Wissen über die naturgegebenen Abläufe der weiblichen und männlichen Fruchtbarkeit. Darüber hinaus regen wir die Jugendlichen zu eigener Beobachtung mit Hilfe von Tabellen an. Das ist ein toller Weg zur Selbstkompetenz. Die Mädchen erleben die Reifung ihres Zyklus, sie verstehen die monatlichen Abläufe und wissen, wo sie gerade im Zyklus stehen. Den Jungen wird der Zusammenhang zwischen Ereignissen und Gefühlen bewusst. Sie erkennen Gefühle als etwas zum Menschsein Gehöriges und gewinnen zunehmend die Einsicht, dass ihre Reaktionen auf Gefühle steuerbar sind. Die Fremderziehung kann durch die Selbsterziehung abgelöst werden.

Wir schicken die Jugendlichen auf Entdeckungsreise, das Gute, Wahre und Schöne in sich selbst zu erkennen. Wir sprechen es ihnen auch zu. Und wenn sie begreifen, dass das ein wertvoller Schatz ist, werden sie z. B. nicht zulassen, dass sich jemand einfach nach Lust und Laune an diesem Schatz bedienen kann. Moralische Maximen vermeiden wir, indem wir den Jugendlichen gegensätzliche Positionen zu einem Thema geben. Dann können wir z. B. weiterfragen: Was sagen die Medien? Was sagen Jugendliche untereinander dazu? Es geht um einen Erkenntnisweg, die Moral ist inwendig im TS-Programm. Wir vermeiden sie nicht, wir geben sie nicht vor, sondern stellen sie zur Diskussion. Die Jugendlichen können sich selbst fragen, was ihnen entspricht und was weniger. Wenn junge Menschen ihre Bedürfnisse erkennen und auch äußern lernen, können sie erkennen, wie sie Erfüllung finden können oder auch wie diese Bedürfnisse derzeit nicht erfüllt werden können, vielleicht um eines größeren Wertes willen.

Wie regt ihr zum verantwortlichen Handeln an, wenn die Devise unserer Zeit lautet: Was sich gut anfühlt, muss auch gut sein!

Das stimmt ja überhaupt nicht. Auf Gefühle ist kein Verlass. Was sich jetzt gut anfühlt, kann sich im nächsten Moment als trügerisch erweisen. Aus einem Gefühl muss ja nicht zwangsweise ein bestimmtes Handeln folgen. Die Jugendlichen lernen im TS-Kurs, dass alle Gefühle sein dürfen und stellen sich dann die Frage, was sie mit diesen Gefühlen machen. Im Jugendalter geht es um Selbstwerdung. Das ist anstrengend, aber man muss es den Jugendlichen abverlangen und bei ihnen Reflexionsprozesse anstoßen. Das wollen sie auch. Unsere Erfahrung ist, dass die Jugendlichen dankbar sind, mal eine andere Meinung zu hören, mit der sie sich auseinandersetzen können. Sie können zustimmen oder auch nicht, das liegt in ihrer Verantwortung. Wir dürfen die jungen Menschen nicht unterschätzen.

Wir hören oft, wie wichtig es ist, möglichst früh über Verhütung aufzuklären, damit Schwangerschaften vermieden werden. Wie läuft das bei TeenSTAR?

Die meisten Aufklärungsprogramme bleiben tatsächlich an dieser Oberfläche. Bei TS gehen wir von den Bedürfnissen der Jugendlichen aus. An den Zwölf- bis Fünfzehnjährigen geht das Thema Schwangerschaftsvermeidung meist völlig vorbei. Auch TS will Teenagerschwangerschaften verhindern, aber es geht ja um die Person des Jugendlichen, seine Fragen und Entwicklungsaufgaben. Neben den biologischen Fakten lernen sie zuerst ihre eigene Fruchtbarkeit und den bewussten Umgang damit kennen, aber auch die Fruchtbarkeit des anderen Geschlechts, den Wert der gemeinsamen Fruchtbarkeit, die den Menschen zum kreativsten überhaupt befähigt, nämlich Leben weiter zu geben. Wir sprechen erst in den späteren Einheiten über Vermeidung von Schwangerschaften.

Also weniger technische, mehr leibliche Einsichten in die Sexualität?

Der Leib ist das Buch, in dem die Jugendlichen am besten lesen können. Deshalb holen wir die körperlichen Gegebenheiten aus der Tabuzone heraus und sprechen sachlich und wertschätzend über den weiblichen und männlichen Körper. Das tut den Mädchen und Jungen gut, weil es sie sprachfähig macht und sie eher in der Lage sind, wertschätzend mit ihrem Körper umzugehen.

Hängt das nicht einer traditionalistischen Vorstellung von Geschlecht und Familie an?

Warum? Mann- und Frausein, Ehe und Familie sind doch nichts Negatives. Wir alle verdanken uns doch einer Mutter und einem Vater, das ist unsere Realität. Und wenn wir das Glück hatten, in diese Einheit hineingeboren zu werden, hatten wir gute Voraussetzungen für unsere körperliche und psychische Entwicklung. Die Biologie lässt sich nicht abtrennen, sondern nur eingebettet in die gesamten menschlichen Bezüge betrachten. Es stimmt nicht, dass die körperliche Erfahrung, Frau oder Mann zu sein, automatisch zu einem bestimmten Rollenverhalten führt. Es gibt genügend Beispiele für Frauen, die voll und ganz Frau waren, aber sich nicht traditionell verhalten haben, sondern andere Lebensaufgaben hatten. Das wünschen wir uns auch für die Jugendlichen, dass sie ihre beglückende Lebensaufgabe erfüllen, ob traditionell oder außergewöhnlich, ob in der Ehe oder als Single.

Moderne Sexualpädagogik soll sensibel sein für sexuelle Identität und Vielfalt. Wie ist euer Ansatz dazu?

Es geht uns immer um den Jugendlichen selbst. Den geschlechtlichen Körper bewohnen zu lernen ist eine wichtige Lebensaufgabe. Viele Jugendliche empfinden es als besonders beglückend, wenn es den Kursleitern gelingt, sie in ihrer Individualität wahrzunehmen und das Gute in ihnen zu sehen. Überhaupt ist die Liebe der entscheidende Schlüssel für die Begegnung mit den Mädchen und Jungen. Ich erinnere mich an ein Mädchen in der vierten Klasse, das lieber ein Junge sein wollte. Was diesem Mädchen gut getan hat, war die Wertschätzung, mit der wir über den weiblichen und männlichen Körper gesprochen haben. Sie hat vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben erkannt, dass auch ihr Körper kostbar ist. Wir sind keine Berater, aber wir können jeden Menschen in seinem Sosein annehmen.

Oft geben Eltern den Anstoß dazu, TeenSTAR-Programme auch in Schulen zu anzubieten. Ab welcher Klasse ist so ein Kurs sinnvoll?

Wir sind flexibel in unseren Angeboten. Unser Juniorprogramm Ich und mein Körper in den vierten Klassen ist der Hit an den Schulen. Wo wir einmal waren, werden wir wieder eingeladen. Unser Jugendprogramm Be a star arbeitet mit Workshops oder in schulischen Projektwochen über eine ganze Woche. Im schulischen Einsatz arbeiten wir geschlechtsspezifisch, Jungen werden von männlichen Kursleitern und Mädchen von weiblichen Kursleiterinnen betreut. Uns stellt sich dringend die Frage nach den Männern. Wo gibt es Männer, die für diese wichtige Aufgabe einige Tage im Jahr freigestellt werden können?

Die Frage geben wir gerne weiter. Und was ratet ihr Eltern im Umgang mit Jugendlichen und ihrer Sexualität?

Es ist gut, wenn Eltern ihre eigene sexuelle Lerngeschichte verstehen. Wie und von wem wurde ich aufgeklärt? Was erlebte ich in meiner Jugendzeit? Man kann sexuelles Lernen ganz gut mit dem Weben eines Teppichs vergleichen. Was einmal eingewebt wurde, können wir nicht einfach wieder herausziehen, es gehört zu unserem Leben. Aber wir können neue Fäden dazunehmen und neu dazulernen. Eltern sollten wissen, wer oder was Kinder aufklärt. Sie bestimmen, wann sie mit ihrem Kind reden. Und dieses Wann ist ihre einzige Sicherheit; das Gespräch im Jugendalter ist eindeutig zu spät. Eltern legen die Grundlagen, die ihr Kind stark machen gegen alle möglichen Gefahren. Junge Menschen können dann gute Entscheidungen treffen. TS ist ein Präventionsprogramm, das die körperliche und seelische Gesundheit der Mädchen und Jungen fördert, sozusagen ein Führerschein ins Erwachsenenleben.

Die Fragen stellte Konstantin Mascher.

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