Silas, Christian und Niklas auf einem Sofa in der Männer-WG

Im Hauptwaschgang

Wie das WG-Leben unsere Ansichten durchschleudert

Wer nicht unserer Ansicht ist, nicht unseren Lebensstil pflegt oder nicht unserer Gruppe angehört, wird uns schnell unsympathisch. Aber ist der Mensch nicht doch mehr als die Summe seiner Meinungen?

Treffen sich ein Freikirchlicher, ein Pietist und ein Muslim…
Als wir, die Männer-WG aus der HG8, uns zu Beginn des FSJ beschnupperten, mussten wir angesichts großer Differenzen erst einmal schlucken. Von Politik über Glauben bis hin zur Arbeitseinstellung streiften wir alle erdenklichen Themengebiete und fanden kaum Übereinstimmungen.

Niklas, ein chilliger Freikirchler mit einer Neigung zur Mystik, Silas, ein hart arbeitender, schwäbischer Pietist, und Christian, ein linksgrün angehauchter Neu-Muslim, der vor einigen Monaten noch Christ gewesen war, begegneten sich. Altersunterschiede, inhaltliche Differenzen, komplett verschiedene Vorstellungen von der Zukunft – wie sollten wir zueinander finden?

Wie im WG-Leben üblich trat unsere Verschiedenheit besonders in banalen Alltagssituationen zu Tage. „Saarländer! Warum steht der Müll immer noch vor der Tür? Seit zwei Tagen!“ „Ach Schwob, es ist einfach nicht jeder so ein Stresser wie du!“ oder „Meine Mutter sagt, man kann alles bei 60 Grad waschen!“ „Bist du des Wahnsinns knusprige Beute? Da bleicht alles aus!“ „Ach kommt, Leude. Ihr könnt mein Zeug waschen, wie ihr wollt. 20 Grad, 100 Grad. Ist mir völlig egal!“

Dass plötzlich Nachsicht in Situationen verlangt wurde, in denen man bisher höchstens einem der Geschwister ein Kissen über den Kopf gezogen hätte, oder wo es unumstößliche, vom Elternhaus vorgegebene Wahrheiten gab, das war am Anfang besonders für Niklas und Silas, die noch keine WG-Erfahrung hatten, gar nicht leicht.

Eisbrecher im Badezimmer

An einem der ersten Abende befanden wir uns zu dritt im Badezimmer, als Christian einen dämlichen Witz machte. Wir lachten gemeinsam, und in diesem Moment stürzte eine der zahlreichen Mauern zwischen uns ein. Das Eis schmolz merklich. Silas bestätigte einige Wochen später, dass diese Situation einen Schlüsselmoment in unserer frühen WG-Beziehung dargestellt hatte: „Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass Christian nicht nur Physiker und Muslim ist, sondern auch ein cooler Typ.“

Auch Niklas und Christian knüpften nicht durch Erarbeiten eines theoretischen Minimalkonsenses eine engere Bindung, sondern durch Rumalbern auf Saarländisch und humorvolle Raufereien. Unser Zwischenfazit: Wenn man miteinander Küche, Bad und Alltag teilt, gemeinsam kocht, isst und die Freizeit gestaltet, kann man nicht anders, als im Gegenüber einen Menschen mit ähnlichen Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten, Glücksmomenten und Schwierigkeiten zu sehen, selbst wenn wir in der Diskussion keinen gemeinsamen Nenner finden.

Kann nur einer Recht haben?

Trotzdem entsteht eine schmerzhafte Spannung, wenn unterschiedliche Überzeugungen aufeinandertreffen. Rüttelt der Andersdenkende nicht an dem Fundament meines Lebens? Besonders in der frühen Phase unseres Zusammenlebens mussten wir viel diskutieren, um hinter die Beweggründe und Überzeugungen unserer WG-Kollegen zu kommen. Unsere Diskussionen wurden besonders hitzig in der Phase, als Niklas schwer mit den Kernfragen seines Glaubens rang.

Gelegentlich wurde versucht, die Spannung durch Relativierung erträglich zu machen: Silas neigte eine Zeit lang dazu, Christians Glaubensentscheidung als emotionale Kurzschlussreaktion zu betrachten. Hat er sich bei seinem Schritt genug Gedanken gemacht? Wer wirklich Christ gewesen war, konnte unmöglich zu einer anderen Religion „überlaufen“. Oder etwa doch?

Herz oder Hirn? Zugänge zu Gott

Als dann auch noch Niklas anfing, meditative Gebetsformen wie das Herzensgebet zu praktizieren, und die Veränderungen beschrieb, die dadurch in seinem Alltag stattfanden, fand sich Silas, der in seinem Glaubensleben sehr auf Vernunft und Inhalte setzt, vollends in einem Irrenhaus wieder.

„Wenn ihr ewig lang meditiert und dann irgendwas fühlt, liegt das bestimmt daran, dass euer Gehirn zu Matsch wird. Ein Gespräch mit Gott sollte doch so vernünftig und anspruchsvoll wie möglich sein!“ „Ach du mit deinem Denken, was bringen denn gedachte Wahrheiten, die nicht ins Herz gehen!“

In der folgenden Zeit konnte aber auch er sich dafür öffnen, alternative, weniger rationale Zugänge zu Gott als gültig anzuerkennen. Wir erlebten gemeinsam, dass sich verschiedene Menschen in ihrem Glauben auf ganz eigene Aspekte konzentrieren. Klar gibt es solche, denen die rationale Begründung von Dogmen und ein darauf aufbauendes, logisch kohärentes Weltbild viel bedeuten.

Andere wiederum suchen eher nach Ritualen und praktischer Weisheit, sodass ihr Glaube im konkreten Alltag erfahrbar wird. Neben dieser groben Trennung tun sich weitere, feinere Differenzierungen auf: Es kann von Person zu Person unterschiedlich sein, ob eine theologische Begründung als logisch empfunden wird oder nicht.

So fand Niklas die gängige Erklärung, warum Jesus für unsere Sünden sterben musste, ziemlich einleuchtend, während sie für Christian einige Lücken aufwies. Ebenso werden verschiedene Menschen nicht dieselben Rituale und Gebetsformen als wirksam empfinden.

Wege oder Standpunkte?

In unseren Diskussionen prallten pluralistische und exklusivistische Denkweisen aufeinander: Sind verschiedene Religionen fest abgegrenzte, weit auseinanderliegende Standpunkte, oder verschiedene Wege, die auf dasselbe Ziel zulaufen?

Darf jeder Wanderer den Weg wählen, auf dem er gemäß seines Gewordenseins am besten vorankommt, oder gibt es nur einen von Gott vorgegebenen Weg, und der Rest ist Menschenwerk? Entschuldigt eine pluralistische Denkweise lediglich die eigene „Faulheit, Inkonsequenz und Unverbindlichkeit“, oder ist es „besonders aufrichtig, den eigenen Weg gemäß des eigenen Herzens zu wählen“?

Es liegt auf der Hand, dass wir auch bei dieser Frage nicht einer Meinung sind.

Jeder von uns erkennt bei der Beobachtung der Anderen, dass man sich im engen Zusammenleben ungewohnt stark auf deren individuelle Lebensentwürfe einlassen muss. Und daran arbeiten wir nach gerade mal einem Drittel unserer gemeinsamen FSJ-Zeit – unterstützt von unseren WG-Begleitern und Mentoren – natürlich weiterhin.

Denn trotz aller Einigung gibt es viele Dinge, bei denen wir felsenfest bei unserer Meinung bleiben. Niklas wird sich in seiner Arbeitsweise nie am „hart arbeitenden, schwäbischen Pietisten“ orientieren. Silas akzeptierte ebenso wenig, anstehende Aufgaben mal zwei Wochen nach hinten zu verschieben, wie Christian davon überzeugt werden konnte, dass Jesus der einzige Weg zu Gott ist.

Und trotzdem können wir uns gegenseitig stehen lassen. Was wir in diesen ersten Monaten aus unserem Zusammenleben vor allem gelernt haben, ist Geduld. Wir lernen, einfach mal nix zu sagen, mit unseren Marotten tolerant umzugehen, es den anderen zur Konfliktvermeidung auch einfach mal recht zu machen und uns gegenseitig eben als Freunde und nicht nur als Partner für Streitgespräche zu sehen.

Unsere riesige WG wird nach wie vor oft dazu benutzt, sich auch einfach mal in Ruhe zurückzuziehen. Uns wird immer wieder klar, dass wir vermutlich keine engen Freunde geworden wären, wenn wir nicht zusammenwohnen würden. Aber die gemeinsame Zeit zu genießen, das haben wir auf jeden Fall gelernt.

So können wir, in harmonischen und in schwierigen Situationen, aneinander wachsen und uns gleichzeitig selbst treu bleiben.

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