Der innere Kompass
Wo Menschen für das Lebensrecht Ungeborener auf die Straße gehen, erschallt früher oder später auch der Schmähruf der Gegendemonstranten: „Hättʼ Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben.“ Was genau aber wäre dieser Welt erspart geblieben?
Es ist die Botschaft von Jesus Christus, durch den alles geschaffen ist und der gekommen ist, gerade die Welt in Ordnung zu bringen, die durch die Rebellion des Menschen gegen Gott ins Chaos gestürzt ist. Das Evangelium ist nicht nur Einweisung in ein Leben nach dem Willen Gottes, es ist auch die Kraft zu diesem Leben.
Wir erleben, wie gesellschaftliche Diskurse moralisch-religiös aufgeladen werden: Der Mensch als Klimasünder, Aktivisten als Klimaretter. Die – allerdings dem Sinn der biblischen Texte zuwiderlaufende – Sprache der Apokalypse eines menschengemachten Weltuntergangs ist wieder en vogue. Und einzig der Mensch kann es richten: Der Mensch ist sein eigener Messias; der Rebell als Retter. Und das soll gut gehen?
Wenn es um Umweltschutz und Nachhaltigkeit geht, soll jeder Mensch unter Beweis stellen, dass er ein gutes Leben führt. Gott ist aus der Debatte verschwunden, aber nicht die Sünde als Verfehlung des hier und jetzt moralisch Gebotenen.
Zwar bleibt das Privatleben, mehr noch das Intimleben, jeder Beurteilung durch andere entzogen. Doch wie ich mich von Aachen nach Berlin bewege, gilt nicht mehr als private Entscheidung, sondern als gesellschafts-, weil klimarelevant.
Die Ansprüche sind hoch, vor allem die Ansprüche, die jeder an sich selbst stellt: Das gute Leben, natürlich ein selbstbestimmtes Leben, fordert seinen Preis. Ich kann scheitern, aber es gibt keine Instanz, die vergibt und wiederaufrichtet.
Was fehlt, ist die Botschaft, die den Menschen als Gottes Geschöpf und Ebenbild beansprucht, vor allem aber: ihm zuspricht, Gottes geliebtes, zum Leben und zur Liebe berufenes Gegenüber zu sein.
Die Bibel erzählt im Alten Testament von den Hebammen, die der ägyptische König, der Pharao, darauf verpflichtete, die von den Frauen der Hebräer geborenen Jungen zu töten, wenn sie ihnen bei der Geburt beistehen (2. Mose 1,15–20). Im Hintergrund steht die Befürchtung des Pharaos, dass das hebräische Volk zu mächtig wird und damit das seine gefährdet.
Der Pharao versprach sich von der Tötung der männlichen Nachkommen, die Ausbreitung der Hebräer zu begrenzen und sie damit unter Kontrolle behalten zu können. Nun berichtet der Text, dass die beiden (Ober-)Hebammen, deren Namen mit Schifra und Pua widergegeben werden, Gott fürchteten und sie daher der Anweisung des Königs nicht Folge leisteten, sondern die neugeborenen Jungen leben ließen (1,17).
Als der König sie zur Rede stellte, warum den Hebräern weiterhin Jungen geboren werden, griffen die Hebammen zu einer Lüge. Ihrem Herrscher erzählten sie, dass die Hebräerinnen meist schon geboren hätten, wenn die Hebammen eintreffen, denn sie seien sehr „lebenskräftig“ (das an dieser Stelle im hebräischen Text verwendete Wort könnte vom althebräischen Wort „Tier“ abgeleitet sein; dann klingt hier mit: diese Frauen gebären wie die Tiere, also ohne Hilfe zu benötigen).1
Weiter heißt es dann, dass Gott die Hebammen belohnte, indem er ihnen selbst auch Nachkommen schenkte, während der Pharao, offenbar außer sich vor Angst, alle Ägypter aufforderte, jeden Sohn der Hebräer, der geboren wird, in den Nil zu werfen.
Die Hebammen sind in einen Konflikt hineingestellt, der sie massiv bedrängt. Der äußere Druck, die neugeborenen Jungen nicht am Leben zu lassen, ist enorm. Nicht irgendjemand hat ihnen die Tötung der hebräischen Kinder befohlen, sondern der Pharao, Inbegriff einer mit der Autorität der Götter ausgestatteten irdischen Macht.
Doch die Hebammen folgen einem inneren Kompass. Sie verehren den wahren, den lebendigen Gott Israels und sind daher nicht bereit, sich an unschuldigem Leben zu vergreifen. Sie wollen Gott, dem Schöpfer und Herrn des Lebens, mehr gehorchen als Menschen. Unser heutiger Kontext ist in vielerlei Hinsicht ein anderer als in dieser alten biblischen Geschichte.
Doch die Konfliktlage, in der sich die Hebammen wiederfinden, lässt sich auch heute ausmachen. Der äußere Druck, ein Kind nicht das Licht der Welt erblicken zu lassen, geht in unserem Land nicht vom Staat aus, sondern vom gesellschaftlichen Umfeld. Dies signalisiert: „Es ist eine große emanzipatorische Errungenschaft, dass in unserem Land keine Frau ein Kind bekommen muss, das sie nicht bekommen will oder kann.“2
Und es gibt viele Gründe, es nicht zu wollen: eine instabile Partnerschaft, unsichere finanzielle Verhältnisse, Lebenspläne, für die das Kind zu früh kommt usw. Niemand sagt: Du musst das Kind abtreiben. Das entscheidet jede Frau für sich. Doch die große Freiheit wird zur Folter, wenn es in der Entscheidung um Leben und Tod eines Kindes geht.
Der biblische Text verspricht nicht, dass der äußere Druck verschwindet, wenn sich ein Mensch zu Gott hält. Er spricht einzig davon, dass Gottesfurcht eine Kraft ist, die diesem äußeren Druck standzuhalten vermag. Wer vor Gott niederkniet, kann vor den Menschen aufrecht stehen.3
Er oder sie steht dann nicht allein, sondern gehört zur Gemeinschaft derjenigen, die im Glauben darauf vertrauen, dass keine Macht dieser Welt einen Anspruch darauf hat, Leben zu beseitigen, weil es zur Unzeit geboren wird und nicht in den Lebensplan passt. Solange die Selbstverwirklichung und das Selbstbestimmungsrecht den Rang haben, den sie aktuell einnehmen, ist es gut, ist es lebensdienlich, in Gott einen Halt zu haben und von ihm Mut zum Leben zu empfangen.
Das Neue Testament überliefert die Geburt von Jesus, dem Sohn Gottes (Mt 2; Lk 2). Jesus wird unter widrigsten Bedingungen geboren. Seine Eltern sind noch nicht verheiratet, was damals schlechterdings ein Skandal war.
Dass Joseph, der Verlobte Marias, der Mutter von Jesus, wusste, dass dieses Kind vom Heiligen Geist ist, machte es für ihn nur bedingt leichter: Sollte er die Geburt des Kindes so erklären – wer würde ihm Glauben schenken? Die junge Familie befindet sich auf Reisen, weil eine Steuererhebung ihre Anwesenheit in Josephs Vaterstadt Bethlehem verlangte.
In der überfüllten Stadt finden sie keine Herberge und kommen schließlich in einem Raum unter, in dem die Tiere des Hauses verwahrt werden. Schließlich werden sie zur Flucht gezwungen, weil der König Herodes die Tötung der Jungen befohlen hat.
Dies sollte verhindern, dass der von den Weisen, die aus dem Osten gekommen waren, angekündigte „König der Juden“ ihm den Thron streitig macht. Auch hier begegnet uns das Motiv: Niemand wünscht sich für Schwangerschaft und Familiengründung Umstände wie diese. Und doch wählt Gott diese Umstände, um den Menschen in dem Kind in der Krippe nahezukommen. Gott wird Mensch dem Menschen zum Heil.
Mit Jesus Christus gibt sich Gott ein menschliches Antlitz. In ihm können wir erkennen, was es bedeutet, wirklich Mensch, der Gott entsprechende Mensch zu sein. Jesus ist das Ebenbild Gottes (Kol 1,15), das nicht durch Rebellion gegen Gott entstellt ist. Gottes erstes Wort, seine Schöpfung, findet seine Vollendung in Gottes letztem Wort: Dies ist mein geliebter Sohn, auf ihn sollt ihr hören (Mk 9,7).
Gott kommt seinen Geschöpfen im Menschensohn Jesus nahe. Die von ihm begründete Gemeinde ist der von Gott dazu bestimmte Raum, um das Wort der Vergebung zu hören, die Kraft zur Umkehr und die Freude an einem Leben aus dem Glauben zu empfangen.
In einer Gesellschaft, die eher darauf zu achten lehrt, selbst mit seinen Bedürfnissen nicht zu kurz kommen, sollen christliche Gemeinden eine Herberge gerade auch für Menschen sein, die sich in Konfliktlagen befinden und keinen Ausweg sehen.
Jesus von Nazareth, der Gottessohn, ist den am Rande der Gesellschaft stehenden Menschen seiner Zeit mit der Barmherzigkeit begegnet, die Sünder zur Umkehr leitet. Das Evangelium von der Rettung gilt daher in besonderer Weise den Paaren bzw. konkret den Frauen, die ungeplant oder ungewollt schwanger geworden sind und sich ein Leben mit diesem Kind nicht vorstellen können.
Aus: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Lebensbeginn und Lebensschutz aus christlich-ethischer Perspektive. Logos Editions, Ansbach 2020
Vgl. Rainer Albertz, Exodus 1- 18, Zürcher Bibelkommentare, Zürich 2012, 51. ↑
Simone Schmollack, Frau, Schwangerschaft, Mutter? taz 7. Februar 2017; https://taz.de/KommentarAbtreibungsverbot/!5378215/ (zuletzt aufgerufen am 26.02.2020). ↑
Dieser Ausspruch wird verschiedentlich dem Essener Jugendpfarrer Wilhelm Busch (1897 – 1966) zugeschrieben. Ein sicherer Beleg hat sich bislang jedoch nicht ermitteln lassen. ↑