Die Lust an der Empörung
- Im Jargon aufgekratzter Moralität
- Massenmobilisierung durch öffentliche Meinung
- Einzug der manichäischen Rhetorik
Der Hypermoralismus ist die Leitideologie unserer Zeit. Das gilt es anzuerkennen. In einer offenen, pluralistischen Gesellschaft sind Ideologien jedoch nur dann erfolgreich, wenn sie das Lebensgefühl der Menschen treffen, ihnen Halt bieten und einen kulturellen und emotionalen Lebensraum. Auch das muss man zur Kenntnis nehmen.
Sich über etwaige Gutmenschen zu ereifern ist daher ebenso unsinnig wie einfältig. Denn die dabei zum Ausdruck kommenden Ressentiments tragen wenig zur Klärung des Phänomens bei. Im Gegenteil. Sie bedienen letztlich die gleichen Emotionalisierungsmechanismen wie der Hypermoralismus selbst. Auch Empörung über Empörung ist Empörung. Das führt dazu, das Phänomen falsch einzuordnen.
Bevor man larmoyant die Hypermoralisierung der Gesellschaft beklagt, sollte man lieber versuchen, sich darüber klar zu werden, aufgrund welcher Mechanismen der Hypermoralismus zur herrschenden Ideologie werden konnte. Dazu ist es nötig, seine sozialen, kulturellen und ideengeschichtlichen Wurzeln freizulegen. Denn ohne das Versprechen, das Leben unbeschwerter und sinnvoller zu machen, ohne eine Durchdringung der Alltagskultur wäre der Hypermoralismus niemals zur bestimmenden Ideologie westlicher Gesellschaften aufgestiegen.
Im Jargon aufgekratzter Moralität
Wir leben im Zeitalter der Hypermoral. Das ist zunächst nicht wertend gemeint. Das ist eine nüchterne Feststellung. Zumindest in den westlichen, pluralistischen Gesellschaften genießen moralische Begründungen des politischen und gesellschaftlichen Handelns eine historisch einzigartige Reputation und Relevanz. Nicht, dass in anderen Epochen moralisch begründete Handlungen und Restriktionen keine Rolle gespielt hätten – im Gegenteil. Doch erstmals in der abendländischen Kulturgeschichte ist Moral nicht länger Ausdruck eines übergeordneten und normierenden Wertesystems wie etwa der Tradition oder einer Religion. Der moderne moralische Diskurs kreist vielmehr ausschließlich um sich selbst. Moral wird selbstbegründend. Als moralisch gilt das, was aufgrund moralischer Erwägungen als moralisch gilt. Das ist nicht nur zirkulär, sondern zugleich autoritär. Moral bekommt eine meinungsbildende Monopolstellung. Alle anderen rationalen Erwägungen werden diskreditiert. Technische, wissenschaftliche oder ökonomische Probleme werden zu moralischen Fragen umgedeutet und in einen Jargon aufgekratzter Moralität überführt. Insbesondere Möglichkeiten der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung sind, zumal in Deutschland, kaum noch sachlich zu diskutieren: Wer, um nur ein Beispiel zu nennen, hierzulande die Chancen der Gentechnologie in der Medizin und in der Landwirtschaft diskutieren möchte, der hat von vornherein verloren, denn allein dieses Ansinnen gilt als Häresie. Hier hat man nicht nachzudenken, hier hat man sich zu bekennen.
Erstaunlich daran ist weniger die Moralisierung von Sachfragen an sich, sondern vielmehr die Kompromisslosigkeit, mit der dies geschieht. Denn natürlich kann man so ziemlich jede private oder gesellschaftliche Frage auch moralisch betrachten. Die Penetranz und Ausschließlichkeit, mit der dies heutzutage in westlichen Gesellschaften geschieht, ist jedoch auffällig und erklärungsbedürftig.
An dieser Stelle könnte man natürlich einwenden: Wo liegt eigentlich das Problem? Ein Zuviel an Moral kann es schließlich nicht geben. Ist es nicht ein Gewinn, wenn moralische Probleme nicht zynisch wegdiskutiert werden? Und ist es nicht ein Fortschritt, wenn moralische Fragen nicht auf Grundlage irgendwelcher Traditionen oder bestehender Ressentiments diskutiert werden, sondern auf Basis einer im besten Fall universalen ethischen Vernunft? Handelt es sich dabei letztlich nicht um einen Triumph der Aufklärung, einen Sieg der vernunftorientierten Argumentation über Vorurteile und willkürlich gesetzte Normen?
Massenmobilisierung durch öffentliche Meinung
So könnte es sein. Doch leider täuscht der Eindruck. Die Inbrunst und die Emphase, mit der nicht nur hierzulande gesellschaftliche Fragen moralisch hochgekocht werden, zeigt, dass es mitnichten um die Etablierung rationaler Erwägungen und nüchterner Entscheidungsprozesse geht. Vielmehr dient die Moralisierung quasi aller gesellschaftlichen und politischen Fragen der Emotionalisierung und damit der Massenmobilisierung im Kampf um die öffentliche Meinung. Genauer gesagt: Massenmedial geprägte Demokratien modernen Zuschnitts können Sachfragen kaum anders kommunizieren als im Modus der Erregung und Empörung. Das liegt in ihrer Logik. Und nichts empört oder erregt so sehr wie der Streit um das Gute.
Doch moralische Debatten haben nicht nur ein enormes Emotionalisierungspotential. Indem sie Gefühle mobilisieren, entlasten sie zugleich vom Nachdenken. Das macht sie so erfolgreich. Moralische Normen bilden das Wohlfühlbecken, in dem die Seele des modernen Menschen munter planscht, den intellektuellen Wellnessbereich, in dem sich das Gemüt beschützt sieht vor den kalten Winden rationaler Begründung und nüchterner Erwägung.
Moral fühlt sich jedoch nicht nur gut an, sie verschafft auch eine wunderbare rhetorische Ausgangposition, mit der man etwaige Gegenargumente im Keim ersticken kann. Wer es wagt, zumindest in Erwägung zu ziehen, ob Atomkraft vielleicht doch eine sinnvolle Übergangstechnologie ist, wer – wie ein ehemaliger Bundespräsident – darauf hinweist, dass es notwendig sein könnte, die Freiheit der Handelswege, also wirtschaftliche Interessen, mit militärischen Mitteln zu verteidigen, wer gegen Quotenregelungen argumentiert oder dafür, dass Einwanderungspolitik sich an den Interessen des aufnehmenden Staates zu orientieren hat, der bekommt umgehend den geballten Zorn der Empörten und Selbstgerechten zu spüren. Und da Moralisten in dem Bewusstsein leben, das Gute an sich zu vertreten, sind etwaige Kritiker zum verbalen Abschuss freigegeben und werden, je nach Thema und Ausgangslage, als neoliberal, kapitalistisch, militaristisch, sexistisch oder zumindest als verantwortungslos gebrandmarkt.
Einzug der manichäischen Rhetorik
Damit trägt der grassierende Moralismus nicht nur zu einer intellektuellen Vereinfachung, sondern auch zu einer extremen Ideologisierung aller möglichen Debatten und Streitfragen bei. Seine rhetorische Schlagkraft und Vehemenz gewinnt er dadurch, dass er zum letzten Gewissheitsanker einer Gesellschaft wird, die tief verunsichert ist von der Kontingenz aller Institutionen und Sinnangebote. Allein der Glaube an das Gute scheint die letzte Gewissheit all jener zu sein, die ansonsten an gar nichts mehr glauben. Moral ist unsere letzte Religion. Das ist auch der einfache Grund dafür, dass die Kirchen ihrerseits Religion im Wesentlichen auf Moral reduziert haben.
Entsprechend wird das Gute zum Fetisch unserer halbaufgeklärten Gesellschaft, zum Zaubermittel, das allein den Kontakt zu einer höheren Sinnwelt zu garantieren scheint. Doch Religionen kennen nur Fromme oder Ketzer, Gläubige oder Verblendete. So hält mit dem Moralismus eine manichäische Rhetorik Einzug in die gesellschaftlichen Debatten: es gibt nur noch Hell oder Dunkel, das Reich des Lichtes oder das der Schatten und den unbedingten Glauben an den heilsgeschichtlichen Sieg des Guten. Wer sich der herrschenden Moral und ihrer aufgeblasenen Selbstgewissheit verweigert, hat nicht einfach nur eine andere Meinung, er wird zum Häretiker. Der Moralismus wandelt sich zum Hypermoralismus, also der Utopie einer ausschließlich nach rigiden moralischen Normen organisierten Gesellschaft.
Aus: Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung. Claudius-Verlag, München 2020
Link zum Buch: https://shop.claudius.de/hypermoral.html