Die Zeit auskaufen
Der Weg von meinem Wohnort Jerusalem zum Arbeitsplatz im Westjordanland ist durch die intensiven Militärkontrollen entlang der Westbank schwieriger geworden. Ich lasse mein Auto im Gebiet C (israelische Verwaltung) stehen, gehe zu Fuß in das palästinensische Gebiet A und werde von einem lokalen Mitarbeiter abgeholt. Noch schwieriger ist es, die beiden mentalen Welten innerlich zu verbinden. Es ist zermürbend, wenn die grausamen Taten der Hamas, die terroristische Infrastruktur mit Tunneln, Waffenlagern und Raketenbasen in Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern abgetan werden als „israelische Propaganda“. Andererseits machen die massive Zerstörung Gazas und der Tod Unschuldiger es mir und vielen anderen unmöglich, den israelischen Standpunkt zu vertreten. Auch palästinensische Christen sind hin- und hergerissen zwischen der Solidarität mit ihrem Volk und der bitteren Wahrheit, dass der radikale Islam ihr Leben einschränkt und bedroht und sie darauf angewiesen sind, dass der „Erzfeind“, die israelische Armee, sie schützt.
Unser Alltag ist durchzogen von der Realität des Krieges. Als ich nach einem Einkauf nahe Tel Aviv zum Parkplatz zurückkehrte, heulten die Sirenen auf. Es war keine Zeit, in einen Schutzraum zu laufen, also legte ich mich vorschriftsmäßig wenige Meter vom Auto auf die Erde und hielt die Hände über den Kopf. Sieben Raketen der israelischen Luftabwehr schossen über mich hinweg, die achte fiel in der Stadt Holon auf eine Straße, zerstörte zwei Autos und hinterließ ein großes Loch. Personen kamen nicht zu Schaden. Ich blieb zehn Minuten liegen, klopfte den Staub von der Kleidung und fuhr nach Hause.
In der deutschen Rehabilitationseinrichtung Lifegate arbeiten wir seit 1991 für und mit Kindern und jungen Menschen mit Behinderungen im palästinensischen Autonomiegebiet in Beit Jala/Bethlehem. Neben ganzheitlicher pädagogischer, medizinischer und therapeutischer Förderung ist es uns ein Anliegen, palästinensische und israelische Menschen auf Augenhöhe zusammenzubringen: Respekt und gegenseitiges Kennenlernen bei Freizeiten am See Genezareth, Mitarbeiterfortbildungen und die Beziehungspflege zu ähnlichen israelischen Einrichtungen. Unsere Hoffnung, dass daraus zumindest ein friedliches Nebeneinander erwächst, wird wieder auf eine harte Probe gestellt. Unsere Behinderten backen Brot und bieten palästinensischen Familien, die durch das Ausbleiben der Touristen kein Einkommen haben, ein warmes Mittagessen. Der Wegfall der Einnahmen hat auch unser Budget halbiert, aber wir können den uns anvertrauten Kindern und jungen Erwachsenen weiterhin täglich einen warmen Platz der Akzeptanz bieten, liebevolle Zuwendung und Förderung, damit sie sich nicht in der Hassspirale verfangen. Die Kontakte nach Israel pflegen wir bewusst und geben die Hoffnung nicht auf, dass versöhnliche, charismatische und visionäre Menschen auf beiden Seiten friedliche Wege finden, um in diesem Teil der Erde zu leben.
Wir ermutigen die Christen bei Lifegate, im Land zu bleiben, damit ihre Kultur und Bräuche nicht verloren gehen. Schon beim Pfingstwunder in Jerusalem waren Araber zugegen, und bald bildeten sich die ersten Gemeinden unter arabischen Nomaden, den Nabatäern in den Wüstenstädten. Frieden beginnt im Herzen des Einzelnen. Christen in Palästina können an den Frieden glauben, weil sie den kennen und lieben, der ihn uns selbst vorlebte und schenkte: Jesus Christus. Darum wollen und können wir einander die Hände reichen, Wunden verbinden,
die Brücken festigen und dem Frieden nachjagen. Gottes Verheißungen für Israel und den Mittleren Osten werden wahr, und wir dürfen unseren Platz in seinem Plan aktiv einnehmen. Es ist arge Zeit, teure Zeit, aber es ist und bleibt Gottes Zeit!