Lernen zwischen den Fronten

Lernen zwischen den Fronten

Zeitdokument Nr. 01 zum 07. Oktober 2023 von Matthias Wolf

Ab 6:30 Uhr morgens am 7. Oktober 2023 ertönte meine „Raketen-App“ unablässig. Erst später verstand ich, dass sie die vielen tausend Raketen anzeigte, die vom Gazastreifen aus auf Israel niedergingen. Eine direkte Gefahr bestand für unsere Schule noch nicht, erst wenige Tage später erreichten einige Raketen auch den Großraum Jerusalem. Als bei einem 500 m entfernten Einschlag die Detonation die Fenster der Schule zum Erbeben brachte, mussten wir alle Schülerinnen und Schüler in Kürze evakuieren und merkten, dass manche Verbesserung nötig ist. Mit Raketen in der Nähe der Westbank hatte keiner gerechnet.

Seit nunmehr sechs Jahren leite ich den Bildungscampus Talitha Kumi, unweit von Bethlehem, eine Einrichtung mit einem evangelischen Erziehungs- und Bildungsauftrag. An Tagen mit klarem Wetter hat man von der Anhöhe südlich von Jerusalem, auf der der Campus liegt, einen Blick vom Mittelmeer bis hin zu den jordanischen Bergen, also auf das ganze Heilige Land.

Die exponierte Lage zwischen Israel und den Palästinensischen Autonomiegebieten macht unseren Campus zu einem besonderen Lern- und Lebensort. Da beide Seiten ihn gefahrlos erreichen können, treffen sich in unserem Gästehaus Israelis und Palästinenser, aber auch NGOs und Netzwerkgruppen. Gemeinde- und Jugendgruppen nutzen es als Ausgangspunkt vieler Touren ins Heilige Land.

Es ist ein Leben „zwischen allen Stühlen“. Der 7. Oktober wird als Datum in die Geschichte eingehen, das vieles verändert hat. Bildungsarbeit ist hier nicht zuletzt Friedensarbeit – in einem Teil der Welt, den drei Weltreligionen als zentral ansehen.

Am 13. Oktober reisten alle deutschen Lehrkräfte sowie unsere Volontäre aus – ein ganz und gar nicht leichter Schritt, da wir ja unsere palästinensischen Kolleginnen und Kollegen zurückließen. Anschließende Tage des Online-Unterrichts für deutsche Lehrkräfte dehnten sich wochenlang aus. Nach etwa vier Wochen reiste ich wieder zurück. Bis heute sind die großen Verkehrsadern innerhalb der Westbank mit Straßensperren versehen, was Fahrten zwischen den Städten im Westjordanland gefährlich oder unmöglich macht.

Da unser Haupteingang durch Israel gesperrt wurde, müssen aktuell alle 900 Schülerinnen und Schüler durch den kleinen Hintereingang das Schulgelände betreten. Das ist logistisch eine große Herausforderung und nicht selten verkehrstechnisch gefährlich – sollte es demnächst vermehrt regnen oder sogar schneien, erwarten wir weiteres Chaos.

Vieles, was in Talitha Kumi schon immer herausfordernd war, hat sich mit dem 7. Oktober noch einmal verschärft. Jüngere Klassen können nicht ohne Aufsicht vor Ort arbeiten, wenn der Unterricht nur online erfolgt. Eigens dafür eingestellte Hilfslehrkräfte müssen für eine geordnete Unterrichtsatmosphäre sorgen. Vor ganz anderen Herausforderungen stehen wir in unserer Bildungsarbeit: Durch die Kriegshandlungen haben sich die Fronten zwischen der arabischen und der jüdisch-israelischen Welt verschärft. Es herrscht – auf beiden Seiten – Verzweiflung und stumme Wut über das, was geschehen ist. Das hinter uns liegende Weihnachtfest 2023 war eine Zeit der Stille und Dunkelheit. Die sonst hell erleuchteten Straßen Bethlehems blieben dunkel und menschenleer. Eine tiefe Trauer überzieht das gesamte Land. Wie soll es weitergehen? Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Aber einer Sache bin ich mir sehr sicher: Unsere Erziehungs- und Bildungsarbeit in Talitha Kumi darf nicht aufhören! Bildung heißt ja auch, sich ein „Bild“ machen von etwas, vom Anderen. Es braucht innovative Ebenen des Gesprächs. Wir müssen uns darin üben, auch am Leid der Anderen teilzuhaben. Vielleicht gelingt es uns am Ende zu verstehen, dass Frieden nur dann einziehen kann, wenn wir nicht an Maximalforderungen festhalten, sondern gemeinsam Wege suchen, die es allen Bevölkerungsteilen ermöglichen, in Frieden und Gerechtigkeit miteinander zu leben. Mit Sicherheit haben extremistische Töne keinen Raum in diesem Miteinander, aber allen anderen Stimmen möchten wir Gehör verschaffen. Vorstellungen vom künftigen Zusammenleben in Israel und Palästina brauchen Raum – im wahrsten Sinne des Wortes. Den möchte Talitha Kumi als Schul- und Bildungscampus auch in Zukunft bereitstellen. Dies bleibt Kern unseres Auftrags.


„Talitha Kumi“ bedeutet „Mädchen steh auf!“ und leitet sich ab vom biblischen Bericht von der Tochter des Jairus, die Jesus wieder zum Leben erweckte (Lk 8,40-56).
1851 errichtete Pfarrer Theodor Fliedner, Gründer der Diakonieanstalt Kaiserswerth, mit Hilfe von vier Diakonissen ein Mädchenwaisenheim in Jerusalem, das später den Namen „Talitha Kumi“ erhielt. … 1997 erfolgte die Anerkennung als UNESCO-Schule. Der Bildungscampus Talitha Kumi ist heute in Trägerschaft des Berliner Missionswerks (BMW). … 2007 wurde ein deutschsprachiger Zweig eröffnet und 2014 wurden die ersten Absolventinnen und Absolventen mit dem Deutschen Internationalen Abitur (DIA) aus der Schule entlassen.
Heute lernen etwa 900 Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen Einrichtungen von Talitha Kumi. Ca. 30 % der Schülerschaft sind Christen, 70 % Muslime. Unterrichtet werden sie von 55 palästinensischen und 12 deutschen Lehrkräften. Talitha Kumi ist eine von 136 deutschen Auslandsschulen und wurde im Jahr 2017 als „Exzellente Deutsche Auslandsschule“ zertifiziert.

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