Ihr Christen, bitte bleibt im Land!
Am 7. Oktober wachte ich durch ein dumpfes Geräusch auf. Das war die Detonation der ersten Rakete, die aus dem Gaza-Streifen abgefeuert wurde. Die Nachrichten von den Schrecken dieses Tages ließen mich erstarren. Ich habe in meinem Leben viele Menschen gepflegt, die die Shoah überlebt und mir von den KZs berichtet hatten. Deshalb habe ich mich oft mit der Frage nach dem Bösen beschäftigt. Dieser Abgrund schien nun wieder in aller Deutlichkeit aufgebrochen zu sein.
Hier in Latrun kam ich kaum noch zur Ruhe und nahm gerne das Angebot an, beim Christus-Treff im Johanniter Hospiz in Jerusalem ein paar ruhigere Nächte zu verbringen. In diese Zeit fiel der 15. Dezember, das Ende des Chanukka-Festes, bei dem alle acht Lichter an der Chanukkia leuchten und an das Wunder erinnern, das damals bei der Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem geschehen war. Auf der palästinensischen Seite war ein Generalstreik ausgerufen worden. Die Altstadt wie ausgestorben, sämtliche Geschäfte geschlossen, traurige, resignierte Gesichter. Wie anders in der Neustadt auf der jüdischen Seite: Geschäftigkeit, Lebendigkeit. Unterwegs fiel mir ein Satz ein, den ich vor vielen Jahren von einem Muslim hörte: „Ihr Christen, bitte bleibt im Land, denn ihr seid die Brücke zwischen den Völkern hier.“
Nachmittags machte ich mich auf zur Klagemauer, wo der Chanukka-Leuchter strahlte. Mit den jüdischen Frauen stand ich an der Klagemauer und betete mit ihnen und für sie. Eine Frau weinte leise. Weiter hinten tanzte und sang eine Gruppe voller Begeisterung und Freude ein bekanntes Lied: Auf mein Geliebter, der Braut entgegen, das Antlitz des Shabbats wollen wir empfangen. „Ja, sie sind die ersterwählte Braut“, so klar war in mir dieses Bewusstsein.
Plötzlich warnte die Sirene vor Raketen. Alle Frauen liefen in die nahegelegenen Tunnel, die Männer beteten weiter. Über uns sahen wir am Abendhimmel die Abwehrraketen, zunächst wie Leuchtkugeln, dann mit einem lauten Knall verschwindender Rauch. Dieses Schauspiel war mir nicht neu. Doch jetzt berührte mich das Ausgeliefertsein und gleichzeitig die Glaubenskraft dieser Menschen.
Sehr schnell kamen auch die Frauen zurück, um das Gebet wieder aufzunehmen. Eine junge Mutter mit Kinderwagen wandte sich mir zu. Sie sah traurig aus und wünschte mir doch mit einem zarten Lächeln: Shabbat Shalom. Ich erwiderte ihren Gruß. In mir war gleichzeitig Freude, gesehen worden zu sein, und Schmerz über den abgrundtiefen Konflikt in diesem Land. Ich ging in die Grabeskirche und betete auf Golgatha. Mein Ankerpunkt. Das Lied einer Mitschwester fiel mir ein: „Ja, ich glaube, Er wird heilen die Wunden, ja, ich glaube, Er wird die Völker versöhnen, denn niemand liebt wie Er!“ Gerade weil wir von dieser Versöhnung weniger sehen als je zuvor, vertiefe ich mich in ein Wort aus dem Epheserbrief: Denn er ist unser Friede; er hat aus den beiden eins geschaffen und die trennende Scheidewand niedergerissen, … in seinem Fleische die Feindschaft vernichtet … um die beiden in einem Leibe durch das Kreuz mit Gott zu versöhnen, da er in seiner Person die Feindschaft getötet hat (Eph 2, 14 +16).
Dieses Wort empfange ich als einen Aufruf, in meinem Leib, mit Seele und Geist keinerlei Feindschaft zuzulassen. Weder mir selbst noch irgendjemand anderem gegenüber. Weder meinen jüdischen noch meinen arabischen Geschwistern gegenüber. Mit Gottes Hilfe im Frieden Christi zu bleiben. Als Sein Leib sind wir aufgerufen, ganz tief zur Einheit bereit zu sein, keine Trennungen und Feindseligkeiten zuzulassen, um dieser Welt den Frieden Christi zu bringen, sodass auch heute durch seinen Leib die Feindschaft getötet wird.