Heillos - biblische Lichtstreifen am düsteren Welthorizont

Heillos? Biblische Lichtstreifen am düsteren Welthorizont

„Denn das Heil kommt von den Juden.“ (Johannes 4,22)

Es fällt mir schwer, meine Gedanken zu ordnen, wenn ich auf die Ereignisse der letzten Wochen und Monate in Israel und seinen Nachbarländern sehe. Dabei ist es unmöglich, sich dem Strom von Bildern, Nachrichten und Meinungen zu entziehen, die nicht wie früher stündlich durch Radio oder Fernseher auf mich einströmen, sondern im Sekundentakt in den Zeitleisten meiner sozialen Medien. Am liebsten möchte ich den Kopf in den Sand stecken. Zugleich weiß ich: Genau das wäre jetzt falsch. Wachsam sein, kritisch urteilen und für das Gute eintreten, das ist das Gebot der Stunde. Aber ich kann und möchte mich auch nicht einfach mit hineinstürzen in die Flut ungefilterter Bilder, Reels und Statements, die alles mit sich reißt, was man bisher Kommunikation und Dialog nannte. In dieses unappetitliche Gemisch von Nachrichten, Gräuelbildern, schlechter Comedy und Deep Fake, in dem echter Gehalt kaum mehr identifizierbar ist.

Hinzu kommt meine berufliche und biografische Verbindung mit dem Thema auf ganz unterschiedlichen Ebenen: Als Lehrer für Neues Testament begegnet mir Israel und das Judentum auf Schritt und Tritt. Da stellt sich unausweichlich die geistliche Frage nach unserem Verhältnis als Christen zu Israel, auch heute. Als Forscher auf dem Gebiet des Antijudaismus und Antisemitismus erschreckt es mich, mit anzusehen, dass sich plötzlich genau das millionenfach auf den Straßen der Welt manifestiert, und in der westlichen Welt auch noch ausgerechnet und vorrangig unter den akademischen Eliten. Mitansehen zu müssen, wie die uralten, seit langem bekannten und benannten Argumentationsmuster: „Das ist ja kein Antisemitismus, weil…“ heute noch genauso funktionieren wie damals. Und schließlich ist da noch die eigene Biografie: Sechs Jahre im Herzen Jerusalems zu leben, im Johanniter-Hospiz an der achten Station der Via Dolorosa, das bleibt nicht ohne dauerhafte Spuren im eigenen Leben. Die Verbindungen zu Freunden, Gemeinden und Werken im Land dauern bis heute an, und eigene Erfahrungen mit Intifada, Krieg, Propaganda und Gewalt, aber auch mit Dialog, Friedensinitiativen, Nächstenliebe und der Verbreitung des Evangeliums prägen meine Wahrnehmung der Bilder und Nachrichten, die heute auf mich einströmen.

Verengt und verängstigt im Machtvakuum

Erinnerungen werden wach an die Zeit vor 2005, in der wir in Jerusalem wohnten und eine christliche Freundin jede Woche mehrmals wie selbstverständlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln von uns nach Gaza und zurück pendelte, um dort in einem christlichen Projekt mit palästinensischen Waisen- und Straßenkindern zu arbeiten. Die politische Stimmung war schon damals aufgeladen, aber aus heutiger Sicht scheint es fast unwirklich, wie offen die Grenzen waren und wie selbstverständlich der gegenseitige Besuch. Und wie gut das für die Menschen in Gaza war. Dann kam das Jahr 2005, der israelische Abzug aus dem Gazastreifen und die vermeintliche „Freiheit“ für Gaza. Die Hälfte der Bevölkerung jubelte, weil sie darin einen entscheidenden Schritt zum Frieden sah. Die andere Hälfte protestierte und warnte vor einer Zunahme der Gewalt aus dem Gazastreifen. Leider erwiesen sich die düsteren Warnungen nur wenig später als die realistischere Einschätzung: Das „befreite“ Gaza geriet schnell unter das blutrünstige Regime der Hamas-Terroristen, das keinerlei Interesse an einem Frieden zeigte, sondern die Vernichtung Israels als Staatsziel verfolgt. Die Raketenangriffe und Terrorübergriffe aus dem Gazastreifen stiegen sprunghaft an, in der Folge auch die zunehmende Abriegelung des Streifens.

Kein Aufblühen, sondern ein stetiges Ausbeuten der Bevölkerung durch ihre Machthaber. Der 7. Oktober 2023 war nur der tragische Höhepunkt einer Entwicklung, die seit damals nahezu unaufhaltsam ihren Weg nahm und vor den geöffneten Augen der Welt geschah. Das Trauma des Jahres 2005 und seiner Folgen hat der Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz auch im israelischen „Peace-Camp“ einen schweren Schlag versetzt. Das Trauma des Jahres 2023 könnte sie vollends zertrümmert haben.

Die große Story jenseits der Kriegsnarrative hören

Ich weiß, das ist nur eine anekdotische Evidenz in einem viel komplexeren Geflecht von Realitäten. Mir aber hilft sie, das lähmende Gefühl der vollkommenen Rat- und Orientierungslosigkeit zu benennen, das mich seit dem 7. Oktober befallen und nicht mehr losgelassen hat. Ich kann die vielen guten Ratschläge und Lösungsvorschläge, die Forderungen von Politikern, Kirchen, UNO-Gremien, Straßendemos und Influencern nur schwer ertragen und ernst nehmen, weil sie immer nur solche Lösungen vorschlagen, die in der Vergangenheit nicht funktioniert und am Ende in die Katastrophe geführt haben. Ich möchte mich an dieser oft herablassenden Beratertätigkeit nicht beteiligen. Ich bleibe für den Moment ratlos und überlasse das tagespolitische Ratgeben denen, die etwas mehr Ahnung von Politik, Recht, strategischer Kriegsführung oder Verbrechens- und Terrorprävention haben.

Als Christ, als Pfarrer und als Bibellehrer möchte ich mich stattdessen auf die große Story konzentrieren, die im Getümmel der Tagespolitik so leicht vergessen wird. Bei denen, die jetzt nach der Abschaffung und Vernichtung Israels schreien, wie auch bei denen, die jetzt einen Krieg feiern, als wäre er ein Heilsereignis. Krieg kann manchmal eine traurige Notwendigkeit sein. Aber nie ein Grund zum Jubel.

Was also ist die große Story der Bibel? Es ist die Geschichte eines Gottes, der Heil in eine unheile Welt bringt, indem er ein kleines und unbedeutendes Volk dazu beruft, Segen in die Welt zu bringen. Diese Geschichte hat sich nicht geändert, seit sie mit Abraham begonnen hat. Gott segnete Abraham, damit durch ihn alle Völker der Erde gesegnet werden (1 Mose 12,3; 1 Mose 18,18). Manche Christen fragen sich, ob man sich in den gegenwärtigen Konflikten zwischen Israel und den anderen Völkern entscheiden muss. Ob das Wohlergehen der einen automatisch das Leiden der anderen mit sich bringt und umgekehrt. Und damit verbunden die Frage, ob die Verbundenheit mit Israel automatisch eine Feindschaft gegen seine Nachbarvölker mit sich bringen muss. Oder die Solidarität mit Palästinensern automatisch eine Feindschaft gegenüber Israel. Aber die biblische Story ist hier eine völlig andere: Israel ist von Anfang an dazu berufen, ein Segen zu sein. Ein Licht für die Völker (Jes 49,6). Die geistliche Verbundenheit mit Israel ist für uns also weit mehr als nur eine politische Solidarität oder eine militärische Allianz. Sie ist Teil unseres Sehnens nach einer Welt voll Segen und Licht, wie Gott sie sich gedacht hat. (Und ja, mir ist klar, dass man Volk Israel, Land Israel und Staat Israel nicht einfach gleichsetzen kann. Ebenso klar ist aber auch, dass man es nicht voneinander trennen kann. Weder in der Bibel noch in der heutigen geopolitischen Landschaft.)

Das Ziel in den Blick bekommen

Nun werden manche Christen an dieser Stelle nervös mit den Füßen scharren: Kommt das Heil nicht „allein durch Christus“? Besteht hier nicht die Gefahr, dass Israel als Heilsbringer an die Stelle Christi tritt? Und wieder meldet sich der Hang, in Gegensätzen zu denken, was die Bibel zusammendenkt. Christus tritt im Neuen Testament nicht an die Stelle Israels, sondern er ist (nach christlicher Überzeugung) der eine, der als Messias Israels eben diesen Segen und eben dieses Licht verkörpert, das durch Israel in die Welt kommt. Wie in einem Brennglas fokussiert sich Gottes heilendes und heilbringendes Handeln zuerst in einem Volk und seiner Geschichte, und dann in einem Kind dieses Volkes und seiner Geschichte. Es ist ein altes christliches Missverständnis, dass Gott seinen Sohn nur deshalb in die Welt gesandt habe, weil Israel seine Aufgabe, Licht der Welt zu sein, verfehlt oder nicht erfüllt habe. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade in Jesus erfüllt sich die Berufung Israels in einzigartiger Weise. Jesus tritt nicht an die Stelle Israels, sondern in seine Mitte. Und das Heil, das er bringt, breitet sich aus, von dieser Mitte her, in Jerusalem, in ganz Judäa, in Samaria und bis an die Enden der Erde (Apg 1,8).

Das Evangelium von Jesus also ist ein zweiter Fixpunkt in dieser biblischen Segenslinie. Und auch das kann im Getümmel der Tagespolitik leicht verloren gehen: Der wichtigste Auftrag der Kirche Jesu in der Welt ist eben nicht die Lösung geopolitischer Konflikte und auch nicht der Kampf gegen den Terrorismus. Beides ist wichtig, und beides ist unbedingt notwendig.

Der Auftrag Jesu an seine Jünger ist aber ein anderer: Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker (Mt 28,19). Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium (Mk 16,15). Es kann passieren, dass in einem besonderen Moment der Weltgeschichte (und so einen erleben wir gerade) unser Fokus ganz auf den Ereignissen des Augenblicks liegt. Und das ist auch gut so. Gebe Gott, dass unser Herz nie so hart werde, dass wir die Augen vor der akuten Not der Gegenwart verschließen. Aber inmitten des Horrors müssen wir immer wieder den Blick heben und das große Ziel in den Blick bekommen, das Gott mit seiner Welt hat. Und das ist nicht das Ende des Terrors (so sehr wir es brauchen). Auch nicht die friedliche Koexistenz der Völker im Nahen Osten (so sehr wir dafür beten). Es ist nicht das Überleben des jüdischen Staates (so sehr das völlig unverhandelbar ist). Sondern dass eine heillose Welt durch Gottes Heil heil wird, weil Menschen miteinander und mit Gott versöhnt werden (2 Kor 5,19-20).

An Segenslinien statt Demarkationslinien leben

Jesus selbst hat diese Heilslinie, die sich von Abraham her durch die Geschichte bis hin ans Kreuz und dann weiter in die Welt hineinzieht, einmal so beschrieben: Das Heil kommt von den Juden (Joh 4,22). Dieser Satz klang für viele Christen der Vergangenheit so unglaublich, dass sie ihn aus ihren Bibeln strichen oder kurzerhand für unecht erklärten. In der Zeit des sogenannten Dritten Reiches ließen manche Kirchen ihn in den Bibeln schwärzen, die sie ihren Konfirmanden schenkten. Und selbst der große Marburger Bibelgelehrte Rudolf Bultmann, der sich zusammen mit seiner Fakultät im Jahr 1933 als eine der wenigen Proteststimmen gegen die Rassenpolitik des NS-Staates zu Wort gemeldet hatte, vermerkte in seinem berühmten Johanneskommentar aus dem Jahr 1941, Johannes könne diesen Satz unmöglich geschrieben haben. Es müsse sich daher um eine spätere Hinzufügung handeln. Aber es ist genau dieser Satz, der die Geschichte Jesu untrennbar mit dem Volk Israel verbindet. Und das auch über die Zeit des Neuen Testaments hinaus.

Denn an dieser Stelle setzen vielen Christen erneut den Keil an, Jesus und das Judentum, Kirche und Israel voneinander zu trennen. Ja, so wird gesagt, das Heil kam von den Juden – aber nur so lange, bis Jesus kam. Dann aber endete die Segenslinie, die Gott seinem Volk verheißen hatte. Ab hier übernahm die Kirche. Es ist die alte Lehre der Verwerfung und Ersetzung Israels, die heute wieder fröhliche Urständ feiert. In Christus gibt es weder Jude noch Heide (Gal 3,28) – also sei die Existenz Israels heute überflüssig geworden. Oder habe zumindest nichts mehr mit dem Heil der Welt zu tun. Israel sei nicht mehr Segensträger Gottes für die Welt und daher auch für die Kirche nicht von Bedeutung. Für den Frieden und die Gerechtigkeit in der Welt, so wird gesagt, sei es sogar besser, wenn es gar kein Israel gäbe. Nicht auf der Landkarte, nicht in der Kirche und am besten auch nicht in der Gesellschaft.

Stehen im Licht, das die Völker erleuchtet

Aber auch das ist nicht die Story, die die Bibel erzählt. Paulus wehrt sich ausdrücklich gegen diese christliche Überheblichkeit, wenn er sagt: Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Keinesfalls! Denn Gottes Gaben und Berufungen können ihn nicht gereuen (Röm 11,1.29). Paulus redet nicht von einer Gemeinde, in der es keine Juden und Nichtjuden mehr gibt, sondern von einer Gemeinde, in der Juden und Nichtjuden versöhnt miteinander leben und gemeinsam ein Zeugnis des EINEN Gottes Israels sind (Röm 3,29-30). Und eben dieses Miteinander kann zum Vorbild und Leuchtturm für die Welt werden. Für Paulus geht die Segenslinie Gottes nicht an Israel vorbei. Sie endet auch nicht am Kreuz. Sondern sie reicht auch weiterhin durch Israel in die Welt hinein, weil die versöhnte Gemeinde aus Juden und Nichtjuden die Versöhnung Gottes mit der Welt verkörpert.
Das klingt – inmitten des gegenwärtigen Dunkels – wie ein schöner Traum. Eine Illusion, die an der Realität zerplatzt, wie der Traum vom Frieden am Horror der Oktoberpogrome. Und tatsächlich: das Kreuz von Golgatha ist ein Zeichen dafür, dass Gottes Heil nicht ohne Leid und Schmerz in unsere Welt hineinkommt. Gottes eigener Schmerz wird offenbar, als sich der Himmel über Golgatha verdunkelt. Aber in diesem Dunkel gibt es einen Silberstreif. Die Verheißung eines Lichts für die Welt. Und eines Lichts für die Völker. Ich möchte in diesen Tagen auf dieses Licht schauen und dem Silberstreif der Hoffnung folgen. Einer Hoffnung, an der wir nicht ohne Israel und nicht an Israel vorbei und schon gar nicht gegen Israel, sondern nur verbunden mit Israel festhalten können, und die nur so auch zu einem Segen für alle Völker werden kann. Das Licht scheint in die Finsternis, und die Finsternis konnte es nicht besiegen (Joh 1,5).

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