Gegen zerstörerische Trends
- Einengenden Stereotypien entgegenwirken
- Die Kränkungen der Anderen in den Blick nehmen
- Eigene Bilder und Erfahrungen reflektieren
- Transformation braucht einen langen Atem
Je enger unsere globale Welt zusammenrückt, desto spürbarer werden die Fliehkräfte, die ein Miteinander vor Ort, in den Weltregionen und global erschweren. Die Hoffnung, dass für alle erreichbare Informations- und Kommunikationsplattformen die Konsensfindung erleichtern, hat sich nicht erfüllt, denn soziale Medien tragen ebenfalls dazu bei, dass sich das Meinungsbild polarisiert, und nicht selten spaltet. Bereits bestehende Feindbilder können sich vertiefen und verfestigen.
Besonders deutlich wird das bei Herausforderungen, die wir als Menschheitsgesellschaft nur gemeinsam bewältigen können, wie die Auswirkungen des Klimawandels, der großen Migrationsbewegungen und neu aufflammender kriegerischer Konflikte. Einige, wie der Konflikt im Heiligen Land und dem Nahen Osten, schwelen seit langem, andere wie in der Ukraine brechen mit großer Wucht auf.
Einengenden Stereotypien entgegenwirken
Wie kann man dem Sog zerstörerischer Trends entgegenwirken? Wie können wir lernen, einander neu zuzuhören und auch zu verstehen? Nicht nur in unserem Umfeld vor Ort, sondern auch in komplexen Bereichen wie Wirtschaft, Bildung, Medien, Politik und Kultur? Good will und Gesinnung sind gut, bleiben aber unwirksam, wenn wir keine neuen Erfahrungen machen, in denen unsere stereotypen Vorstellungen übereinander aufgebrochen werden können. Erst dann können wir visionär, kreativ und mit der nötigen Portion Selbsthinterfragung ein neues Miteinander entwickeln und einüben.
Insbesondere in leitenden und verantwortlichen Funktionen sind Kompetenzen zur Konfliktbewältigung unverzichtbar, ebenso die Fähigkeit, falsche Gewissheiten zu hinterfragen und offen in der Begegnung mit Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen zu werden, um die dabei auftretenden komplexen Herausforderungen wirksam angehen zu können. Diese gewinnen wir – im Kleinen wie im Großen – nur über Begegnung.
Die Kränkungen der Anderen in den Blick nehmen
Vor etwa 15 Jahren erkannte der Bildungswissenschaftler Daniel Wehrenfennig (PhD), ein Ehemaliger der OJC-Jahresmannschaft (1999/2000), welche Veränderung erfahrungsbasiertes Lernen (Experiential Learning) im interkulturellen Zusammenhang, und dort insbesondere im Bereich der Konfliktpädagogik, bewirken kann. Ich selbst habe als Student und Absolvent mehrfach von seiner Konfliktforschungsarbeit mit Studierenden profitieren können. Die jahrelange Erfahrung aus dieser Forschungsarbeit ist nun eingeflossen in das Center for International Experiential Learning (CIEL), das sich auf die gezielte und intensive Förderung dieser Art des Lernens fokussiert.
Mit CIEL organisieren wir internationale Reisen in Konfliktregionen wie dem Nahen Osten (mit Schwerpunkt auf dem israelisch-palästinensischen Konflikt), Nordirland (mit Schwerpunkt auf den „Troubles“) und Vietnam (mit Schwerpunkt auf dem US-Vietnamkrieg). Wir vertrauen darauf, dass der direkte, moderierte Austausch tiefere Einblicke in Konflikte ermöglicht. Die Erfahrungen, die wir dabei machen, sind eindrücklich und sehr bewegend. Wir nehmen nicht nur immense konkrete Information auf, sondern erleben, welche Bedeutung Emotionalität und der Umgang damit für den Lernprozess hat. Vor allem in Regionen, in denen sich Kränkungen und Traumata über Generationen hinweg verfestigt haben, braucht es Bereitschaft, den Erschütterungen Raum zu geben, die Konfrontation auszuhalten und der anderen Seite – oder eben beiden, wenn man selbst nicht involviert ist – offen zuzuhören. Erst dann können Verständnis, Empathie und die Bereitschaft zur Versöhnung wachsen.
Durch den Krieg in Gaza haben wir alle Nahost-Programme aktuell pausiert und richten unsere Bemühungen darauf, die Arbeit in anderen Regionen zu verstärken, um Budgetdefizite auszugleichen. Natürlich sind wir nach wie vor entschlossen, unsere Arbeit im Nahen Osten wieder aufzunehmen, sobald es die Umstände erlauben. Denn gerade jetzt ist Raum für schwierige und verletzliche Gespräche besonders wichtig, um Menschen in Konflikt- und Nach-Konfliktgebieten direkt zu unterstützen, die sich oft isoliert und falsch verstanden fühlen.
Eigene Bilder und Erfahrungen reflektieren
Wie muss man sich das praktisch vorstellen? Wir gestalten die Reiserouten bewusst so, dass die Teilnehmer einer großen Bandbreite an Perspektiven und Erfahrungen vor Ort begegnen. Wir besuchen historische Stätten, Gedenkstätten, Flüchtlingslager, Regierungsgebäude und andere für die Region wichtige Orte. Es finden Treffen mit Multiplikatoren statt: mit Regierungsvertreterinnen und Regierungsvertretern, gemeinnützigen Organisationen, Aktivistinnen und Aktivisten, Friedensstifterinnen und Friedensstiftern. Aber auch mit Einzelnen, wie Familien oder jungen Menschen vor Ort, die meist unterschiedliche und oft widersprüchliche Ansichten über ihr Land und den Konflikt haben.
Wir halten die Teilnehmer dazu an, aktiv ihre Erfahrungen zu teilen, nicht nur untereinander, sondern auch mit Altersgenossen, denen sie begegnen.
Die Gruppen auf solchen Reisen sind heterogen, die Teilnehmer haben nicht nur unterschiedliche Kenntnisse über die Konfliktregion, sie haben oft selbst eine eigene, lebensgeschichtlich bedingte Beziehung zum Konflikt selbst. Nicht selten sind sie Mitglieder einer Diaspora-Gruppe oder sympathisieren engagiert mit der einen oder anderen Seite. Ich denke, zu den denkwürdigsten und wirkungsvollsten Momenten der Reise gehört das einsame und gemeinsame Reflektieren, denn das schult die Bereitschaft, sich selbst infrage zu stellen und in ein fruchtbares Gespräch über Unterschiede und Kontroversen zu kommen, in denen nicht mehr die alten destruktiven Muster greifen. Das überwindet die Abschottung und kann ein erster Schritt zu konstruktiven denkerischen Lösungen sein.
Transformation braucht einen langen Atem
Wirklich tragfähige Visionen können wir nur entwickeln, wenn wir die Illusion loslassen, es müsse doch für alles geradlinige, für sämtliche Parteien gleich und schnell zufriedenstellende Lösungen geben. Transformation lässt sich nicht erzwingen, sie braucht einen langen Atem, die Bereitschaft, Tempo rauszunehmen, Widersprüche wahrzunehmen, den Gefühlen Bedeutsamkeit zuzugestehen und den Konflikt auch in seiner Verworrenheit auszuhalten. Auch das schärft das Urteilsvermögen, und meist eröffnet uns der reflektierte Blick auf solche „fremden“ Konflikte einen klareren und zugleich milderen Blick auf eigene Konflikte „zuhause“. Wir können lernen, die auf der Reise erworbenen Skills auch im eigenen kulturellen Umfeld anzuwenden.
Mich persönlich hat die Mitarbeit bei CIEL viel Demut und Erkenntnis gelehrt. Ich bin mir auch der eigenen und unserer kollektiven Verantwortung für Krisen, die so weit weg stattfinden, bewusst geworden. CIEL steht auf dem Fundament christlicher Werte, und insbesondere als Christen sind wir herausgefordert, in Krisenzeiten den Dialog und das Verständnis füreinander zu üben und zu fördern, ein Zeugnis zu sein für die anhaltende Kraft menschlicher Verbindung und gelungener Verständigung.