Mein Maß

Sich genügen lassen als Lebenshaltung

„Vielen Dank und noch einen schönen Tag“, sagt die Dame an der Kasse der Tankstelle freundlich lächelnd. Eben habe ich mal wieder einen nicht ganz unerheblichen Teil meines OJC-Taschengeldes verflüssigt. Gut, das Auto hat wieder Sprit. Aber zu welchem Preis! Dazu passt die allgemeine Feststellung, dass alles teurer wird. Und wenn man nun noch leere Supermarktregale sieht… Mangel, wo man hinsieht. Wobei – die meisten Erdenbewohner würden über meinen Text lachen. Das, so würden sie sagen, das ist noch lange kein Mangel! Na gut, sie haben ja recht. Dann eben: Mangelgefühl. Mir kommt dabei eine Frage Jesu an seine Jünger in den Sinn: „Habt ihr je Mangel gehabt?“ Ihre Antwort hat mich schon immer irritiert: „Nein, keinen!“ (Lk 22,35). Wie jetzt? Mittellose Wanderprediger und keinen Mangel? Wie geht das denn?
Möglicherweise könnte uns ein Satz des Apostels Paulus weiterhelfen: Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen. Nachdem er sich für eine wohl finanzielle Unterstützung bei der Gemeinde zu Philippi bedankt hat, lässt er sie wissen:

Ich sage das nicht, weil ich Mangel leide; denn ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie’s mir auch geht. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden; ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht

– Phil. 4,11–13

Schon fast vier Jahrzehnte lang fasziniert mich dieser Satz und er taucht in meiner Biographie immer wieder auf: Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen – oder anders übersetzt: Ich habe mich an Zufriedenheit gewöhnt. Das will auch ich. Im Blick auf das mal mehr, mal weniger vorhandene Geld, … aber auch im Blick auf mal mehr oder weniger Erfolg, Ansehen, Karriere, Zuspruch… Ich will mich an Zufriedenheit gewöhnen! Weil ich ahne, dass darin ein Höchstmaß an Lebensglück steckt. Doch wie kann mir Zufriedenheit zur Gewohnheit werden? Und welche Folgen hat das?

Eine gute Gewohnheit

In der christlichen Kirche haben sich schon früh „Evangelische Räte“ breitgemacht. Ihre Anfänge gehen über die Klöster hinaus, durch diese wurden sie jedoch bekannt. Gehorsam, Ehelosigkeit, Armut. Manche – auch wir – haben dazu noch den der Gemeinschaft. Consilia evangelica – evangelisch, weil sie dem Evangelium entspringen, – und Räte, weil sie eben keine Gesetze sind. Beides ist beachtenswert. Vor allem beim letzteren – den consilia – gab es immer wieder Irritationen. Es geht eben nicht um ein mandatum: einen befohlenen Auftrag, – es geht um ein consilium: eine zur Beratung gegebene Empfehlung. Vom ersten Wort leitet sich ein Mandat ab, vom zweiten ein Konzil. Das erste nimmt in die zu erfüllende Pflicht, das zweite inspiriert und öffnet einen größeren Raum. Beim ersten wird mir etwas auferlegt, beim zweiten fasse ich Ratschluss und Wahl.
Wenn ich also danach frage, wie mir diese paulinische Zufriedenheit zu einer Gewohnheit werden kann, setze ich hier an. Ich will mir vom Evangelium her raten lassen. Ich muss nicht (mandatum), aber ich will (consilium).
Auch die geistliche Regel unserer OJC-Kommunität setzt dort an: „Weil unsere Berufung und unser Auftrag nicht beliebig sind, kann auch unser Lebensstil nicht beliebig sein. Um Jesu willen wollen wir unser Kostbarstes einsetzen.“1 Hier kommt zu meiner freien Wahl noch ein „weil“ hinzu. Paulus übrigens kennt solch eine Begründung in seinem Brief auch. Er leitet den sog. „Christus-Hymnus“ mit dem Satz ein: Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Jesus Christus entspricht. (Phil 2,5). Der von uns zu wählende Lebensstil soll den Christus-Stil widerspiegeln. Exakt das und das allein ist der tiefste Sinn aller Ratschläge des Evangeliums!
Bevor wir zu den Folgen kommen, noch ein Hinweis, den uns Paulus mit auf den Weg gibt. Für das Wort „genügen lassen“ steht im griech. Text autarkēs, also: autark sein. Der Duden definiert „autark“ mit „sich selbst genügend, auf niemanden angewiesen“. Der Apostel gibt dem in seinem Brief aber noch einmal einen anderen Klang. Man ist nicht dann autark, wenn man durch Reichtum unabhängig ist. Ebenso wenig übrigens wie man moralisch autark wäre, wenn man arm ist an Gütern. Denn auf arm oder reich kommt es hier gar nicht an! Die Autarkie des Evangeliums ist keine Frage von Reichtum oder Armut. Weder das eine noch das andere sind geistliche Ziele. Worum es geht ist eine ganz grundsätzliche Lebenshaltung. Eben dies: der von uns zu wählende Lebensstil soll den Christus-Stil widerspiegeln!

… mit Folgen

Anhand eines Abschnittes unserer geistlichen Regel will ich einige Hinweise für eine paulinisch autarke Lebenshaltung geben. Nach dem oben genannten Einführungssatz zu den Evangelischen Räten – „Weil unsere Berufung und unser Auftrag nicht beliebig sind, kann auch unser Lebensstil nicht beliebig sein“ – ist der folgende Abschnitt überschrieben mit: „Vom Reichtum freigesetzt – um Jesu willen arm sein“2. Dem sind die folgenden Zitate entnommen. Und auch sie sind nicht mandatum, sondern consilium. Sie sind keine Pflichten, sondern Anregungen!

… haben wir uns für einen einfachen Lebensstil entschieden

Für nicht wenige Christen ist das mit dem einfachen Lebensstil ganz einfach. Dann wird „einfach“ mit „arm“ gleichgesetzt. Dabei wird vergessen, dass Bettelorden nicht den Standard, sondern eine, wenn auch berechtigte, Sonderform der Nachfolge bilden. Armut ist im biblischen Denken nirgends ein Ideal, sondern ein Notfall, den es zu beheben gilt. Keinem Armen ist geholfen, wenn ich mich auch arm mache – meine Solidarität besteht im Ausgleich materieller und ideeller Gaben. Dahin deutet ein weiterer Satz aus diesem Abschnitt unserer Regel: „Konsumarm zu leben ist kein Selbstzweck.“ Für mich meint einfach leben eben dies: eindeutig leben. Mit meinem Geld, aber auch mit allem anderen. Für Paulus hieß das beispielsweise Wandermissionar einer kleinen jüdischen Sekte, die sich Christen nannten, zu werden – anstatt hochangesehener rabbinischer Lehrer. Das war seine Berufung – sein Ratschluss, seine Wahl, sein consilium. Somit war sein Christus-Lebensstil eindeutig: ohne mehrfache Falten, in denen irgendwas noch versteckt bleibt. Er lebte eindeutig erkennbar. Darum kann er feststellen: Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden.

Geld und Besitz stehen im Dienst

Gerade eben weil Konsumarmut kein Selbstzweck ist. „Damit nicht die Dinge uns haben“, so umschreibt Paul Zulehner in seiner zeitgenössischen Interpretation der Evangelischen Räte den Rat der Armut.3 Geld (Mammon) ist eine Gefahr, aber keine Sünde – der Neid ist die Sünde, und alles, was mit dem Missbrauch des Geldes denkbar ist. Dazu gehört auch die falsche Sorge, die sich in Angst ausdrückt. Was mir Gott anvertraut – sei es viel oder wenig – an Geld oder Gaben oder Wegführungen – mit dem gehe ich sorgsam und verantwortungsbewusst um. Es will mir dienen und durch mich denen, die Gott mir über den Weg schickt. Und eben das ist der Weg der großen Freiheit und Gelassenheit, der zu Erfüllung und Zufriedenheit führt. Seinen Ausdruck findet dies in dem Satz von der „Kreativität und gegenseitige(n) Unterstützung“. Auch in unserer Gemeinschaft sind die Ressourcen unterschiedlich angelegt. Die der Finanzen, die der Gaben, überhaupt alle. Aber es gehört zu unserem Christus-Lebensstil, dass wir uns in einem kreativen Umgang damit und in gegenseitiger Unterstützung üben. An keinem Mangel zu leiden macht sich nicht fest an dem, was uns zur Verfügung steht, sondern an dem, was wir in unseren Lebenslagen und dem Umgang damit gelernt haben. Wer das gelernt hat, hat keinen Mangel … ob mit viel oder wenig. Und er wird, was er hat, großzügig teilen!

Unterschiede neidlos annehmen

Ja, auch bei uns gibt es Unterschiede. Die gilt es anzunehmen. Neidlos anzunehmen. Darum habe ich mir neben diesen Satz einen Hinweis geschrieben: „Lass mich mit Freuden | ohn alles Neiden | sehen den Segen, den du wirst legen | in meines Bruders und Nähesten Haus. Geiziges Brennen, unchristliches Rennen | nach Gut mit Sünde, das tilge geschwinde | von meinem Herzen und wirf es hinaus.“4 Auch da geht es nicht einfach um mein Geld; es geht um meine Lebenshaltung. Zu der passt auch die Umschreibung des Trappistenmönches Michael Casey, der im Zusammenhang mit der klösterlichen Armut von der „Ausbildung zur Mäßigkeit“ schreibt. Er betont, dass die Regula Benedicti „stärker als den Verzicht den Gemeinbesitz und angemessene Erlaubnisse betont“. Und weiter: „Hier geht es nicht darum, die Menschen zu einem entbehrungsreichen Leben zu zwingen, aber man sollte sie anleiten, den Unterschied zwischen dem, was sie brauchen, und dem, was sie haben wollen, zu erkennen, sie also darin schulen, ihre Zufriedenheit nicht von einer großen Anzahl von materiellen Dingen abhängig zu machen.“5 Mäßigkeit heißt, mein Maß zu finden. Kein Ideal – Idealisten neigen schnell zur Rigorosität. Mein Maß ist das mir von Gott zugedachte Maß … das, was er mir schenkt, … um nochmals mit Paulus zu sprechen: „… wie’s mir auch geht … ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.“ Das ist Freiheit in Zufriedenheit! Und das führt zum letzten und tiefsten Grund für einen einfachen Lebensstil, die eindeutige Christus-Lebenshaltung.

Unsere Sicherheit liegt in der Treue Gottes

– mit diesem Satz schließt der Abschnitt zum evangelischen Rat der Armut in unserer geistlichen Regel. Diese sieben Worte bringen alles auf den Punkt! Es geht im Letzten nicht um arm oder reich, viel oder wenig. Es geht um die Lebenshaltung des Vertrauens. Diese allein kann unsere Freiheit garantieren und damit Zufriedenheit hervorrufen. Das ist der eigentliche Schlüsselsatz! Das ist das Fundament des Lebens – nicht Reichtum oder Armut machen uns frömmer und fröhlicher, sondern das Vertrauen in die Treue Gottes! Der von uns zu wählende Lebensstil, wie immer er sein mag, soll den Christus-Stil widerspiegeln! Das kann nur großzügig und rückhaltlos leben, wer weiß: Meine Sicherheit liegt in der Treue Gottes! Dazu – und zu nichts anderem – will uns das Einfach-Leben einladen und ermuntern!


  1. OJC-Kommunität; Wie Gefährten leben, Eine Grammatik der Gemeinschaft [33] 

  2. OJC-Kommunität; Wie Gefährten leben, Eine Grammatik der Gemeinschaft [34] 

  3. Paul M. Zulehner; Leibhaftig glauben, Lebenskultur nach dem Evangelium; S. 61ff 

  4. Die güldne Sonne; Paul Gerhardt; 1666; EG 449,6 

  5. Michael Casey; Die Kunst, Seelen zu gewinnen, Noviziatsausbildung heute; S. 83f 

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