War da was?
„Ich kann es fühlen, die Angst hier drinnen. Genau fühlen!“, sagt das Mädchen bei der kurzen Theaterprobe. Es ist der erste Nachmittag der Adventsaktion in Gotha-West in diesem Jahr und es geht um Worte des Propheten Jesaja. Das Volk, das im Finstern sitzt… Einige Teenager, die in den letzten Monaten immer wieder im senfkorn.-Laden aufgetaucht waren, haben sich als Schauspielerinnen und Schauspieler zur Verfügung gestellt. Michael macht vor, wie es aussehen könnte, wenn man sich kaum aus dem Haus traut, weil es so finster ist, weil man sich seines Lebens nicht sicher sein kann. „Wie im Krieg“, sagt jemand, und plötzlich werden die alten Worte so real, so nah. Die Jugendlichen schleichen geduckt im Raum umher, schützen ihre Köpfe mit den Armen, ducken sich. Keine halbe Stunde dauert die Probe. Dann geht es raus auf den Coburger Platz, wo schon andere fleißige Menschen die „Bühne“ aufgebaut, für die Technik gesorgt, die Bänke geschleppt und den Aufsteller platziert haben. „Schenken Sie sich zehn Minuten im Advent“, steht dort, wo viele auf dem Weg zu ihren Einkäufen vorbeikommen.
Die Adventsaktion hat schon Tradition in der senfkorn. STADTteilMISSION. Vor drei Jahren hatte Dagmar, eine Mitarbeiterin, die gewagte Idee, jeden Tag im Dezember die Menschen in Gotha-West mit Liedern, Geschichten, Überraschungen zu beschenken. Verschiedene Ideen kamen zusammen, viele machten mit, damit es möglich würde. Selbst in den Corona-Wintern ging ja was an der frischen Luft. Und so haben wir uns auch im vierten Jahr wieder der Herausforderung gestellt, als Christen präsent, draußen sichtbar zu sein in unserem Stadtviertel. Viele der Menschen hier sind in dritten Generation „entkirchlicht“. Außer blinkenden Lichtern, Weihnachtsmännern, Glühwein ist vom Advent nichts übrig geblieben. Sie wissen nicht mal, dass da mal etwas war, an was der Advent erinnern sollte. Komplett ausradiert, vergessen, verloren gegangen. Also erzählen wir jeden Nachmittag auf dem Platz eine kleine Portion der biblischen Erzählungen über das Kommen des versprochenen Retters Jesus. Begrüßung, Lied, Erzählung, Lied, Abspann, in kurzen 10 -15 Minuten. Wir füllen den Platz mit Musik und Bildern, mit freundlichen Worten und Einladung. Unsere Verstärkeranlage trägt es bis vor die Tür des Supermarkts und hoch in die oberen Stockwerke der angrenzenden Wohnblocks. So kann man auch Zaungast sein, es fällt fast nicht auf, wenn man doch irgendwie zuhört. Einige aus dem engeren senfkorn.-Kreis sind voll identifiziert, kommen früher, bauen auf, kochen Tee, legen Folien auf. Man kann auf Bänken Platz nehmen oder in selbstgewählter Entfernung stehen bleiben.
Dieses Jahr ist unsere besondere Freude, dass wir zur Veranschaulichung der Erzählungen einige Teenies gewinnen konnten. Während wir mit ihnen die Szenen einüben, stellen sie viele Fragen zu den Personen, die sie darstellen. „Wie alt war Maria?“, „Von wem war das Baby?“, „Ist Gott der Vater von dem Baby?“, „Hat Josef den Engel richtig gehört?“ Auch ganz Persönliches bricht auf, eigene Erfahrungen mit fehlenden Vätern, mit der Angst, bloßgestellt zu werden. Wir spüren gemeinsam die Dramatik, die menschliche Realität – und das Heilbringende aus Gottes Welt: Fürchtet euch nicht! oder Ich verkündige euch große Freude! Damit treten wir zusammen mit den Teenies in die winterliche Kälte hinaus und machen es den Engeln nach. Tag für Tag.
Im Schaufenster unseres senfkorn.-Ladens entsteht nach und nach ein Adventskalender: Ein Szenenfoto des Tages mit einem kurzen Text erzählt die Geschichte noch einmal weiter. Passanten bleiben stehen, schauen und lesen.
Nach den 10 Minuten draußen ziehen alle, die wollen, zum heißen Tee nach drinnen in den Laden. Fröhlich und laut geht es zu, Nachbarinnen gehen umher und schenken nach, Alesia will etwas auf Rumänisch vorsingen und Lena auf Deutsch, die Teens sind stolz auf das neue Foto. Mit offenen Augen und Herzen stehen wir zum Gespräch zur Verfügung, kommen in Kontakt mit noch fremden Menschen oder hören aus der Dramatik des Lebens derer, die schon länger kommen. Es ist Advent. Der Gott Immanuel ist schon da. Sehnsüchtig erwarten wir, dass er hier in unserem Quartier Menschenleben berührt und verwandelt. Und wenn wir genauer hinschauen, ist es schon zu erkennen.